“Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich nicht bei uns allein.”

Bundeskanzler Olaf Scholz eröffnete am 17. Juni die Sommertagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. Sein Vortrag zu den Herausforderungen und Perspektiven der Demokratie stand unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine und seines Besuchs in Kiew am Tag zuvor. Auch im weiteren Verlauf blieb der Krieg als Thema dauerhaft präsent. Ist auch unsere Demokratie bedroht oder zumindest gefährdet? Und wie lässt sie sich stärken?

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Video-Playlist zur Tagung auf YouTube

“Unsere Demokratie ist nicht in Gefahr, aber es gibt Gefährdungen.” Mit dieser Einschätzung steckte Bundestagspräsident a.D., Dr. Wolfgang Thierse gleich zu Beginn der Sommertagung des Politischen Clubs das thematische Feld des Tagungswochenendes vom 17. bis 19. Juni an der Evangelischen Akademie Tutzing ab, das in Kooperation mit der Theodor Heuss Stiftung stattfand und von der Bundeszentrale für Politische Bildung gefördert wurde.

In Umfragen sagen 28 Prozent der Deutschen, sie lebten in einer Scheindemokratie – eine der Zahlen, die immer wieder fiel bei der Tagung, die den Titel “Zukunft unserer Demokratie” trug. Die andere: Auf der Welt sind derzeit von 137 untersuchten Ländern erstmals die Autokratien in der Mehrheit. Nur 67 Länder haben eine Demokratie, 70 gelten als autokratisch.

Wie essenziell die Sorge um die Demokratie ist, verdeutlichte Tagungsleiter Thierse gleich zu Beginn und erinnerte an den 17. Juni vor 69 Jahren – den Tag des Arbeiteraufstands in der DDR. “Uns hilft keiner” – das seien die Worte seines Vaters an diesem Tag im Jahr 1953 gewesen. Thierse zitiert sie und kommt damit direkt zum ersten Gast der Tagung: Bundeskanzler Olaf Scholz.

Von Kiew nach Tutzing

Der deutsche Bundeskanzler hatte noch am Tag zuvor gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsident Mario Draghi in Kiew den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij getroffen. Sein erster öffentlicher Auftritt nach diesem Besuch galt der Evangelischen Akademie Tutzing. Der Titel seines Vortrags lautete: “Demokratie und Zeitenwende – neue Herausforderungen, neue Perspektiven” (hier auf YouTube ansehen). Darin – und im anschließenden Gespräch mit Wolfgang Thierse und dem Tagungspublikum kam er auf seine Eindrücke aus der Ukraine zu sprechen, auf das Grauen des Krieges, das tiefe Spuren in dem Land und in seinen Menschen hinterlässt. “Ein Ende des Kriegs zeichnet sich nicht ab”, sagte Scholz. Der Krieg werde mit einer Brutalität geführt, bei der man sich frage, wozu sie führen solle. “Hier geht es um Macht und Größe, was wir überwunden gehofft hatten.”

“Einen Diktatfrieden werden wir nicht akzeptieren”, stellte Scholz die Haltung Deutschlands und seiner Partner klar. Niemand solle für die Ukraine entscheiden außer das Land selbst. Man habe der Ukraine nochmal Mut gemacht, dass sie eine Perspektive in Europa hat, sagte Scholz und betonte, das Land könne auf Geld und Artillerie aus Deutschland als Hilfen zählen.

Plädoyer für Multilateralität

In seinem Vortrag warb er für eine multilaterale Welt auf Grundlage der Demokratie. Vor dem Aufstieg der Länder des globalen Südens müssten sich die Länder des Westens nicht bedroht sehen, sagte Scholz. “Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich nicht allein bei uns”, so Scholz. Vielmehr sei sie von der Lage der Demokratie weltweit abhängig. Vor dem Aufstieg der Länder des globalen Südens müssten sich die Länder des Westens nicht bedroht sehen.

“Jede Demokratie ist ein Unikat”, sagte Scholz, “und nicht jede Demokratie funktioniert reibungslos”. Aber Länder, die sich auf die Grundlage der Demokratie stellten, eröffneten Spielräume für Oppositionelle, die auf Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweisen könnten. In Demokratien könnten die Machthaber auch nicht auf Dauer über die Wünsche der Menschen hinweggehen, zeigte sich Scholz optimistisch.

Er habe bewusst zum Gipfeltreffen G7 in Elmau vom 26. bis 28. Juni auch die Vertreter von Indien, Indonesien, Südafrika, dem Senegal und Argentinien eingeladen, so der Bundeskanzler. Mit diesen Staaten müsse der Westen viel intensiver zusammenarbeiten als bisher. Mit den Worten “Wir sind nicht allein auf dieser Welt”, rief er zu solidarischem Handeln auf. Viele Länder hätten Angst vor den hohen Energiepreisen und Hungerkrisen. Deren Perspektiven müssten auch akzeptiert werden.

Aktueller denn je: das “Böckenförde-Diktum”

Neben dem Bundeskanzler sprachen zwei weitere oberste Vertreter von deutschen Verfassungsorganen: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Stephan Harbarth, und die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Bärbel Bas.

Stephan Harbarth konnte kurzfristig nicht persönlich in Tutzing anwesend sein und wurde online zugeschaltet. Er entfaltete unter dem Titel “Rechtsstaat in bester Verfassung?” die Rolle des Grundgesetzes für die Demokratie (hier den Vortrag auf YouTube abrufen). Und die Herausforderungen zu skizzieren, zitierte er eingangs das “Böckenförde-Diktum”: “Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von den Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Der Satz sei heute, in Zeiten der Krise, vielleicht aktueller denn je zuvor, meinte Harbarth – auch, wenn er schon vor 55 Jahren und unter dem Eindruck der Weimarer Republik verfasst wurde.

Vor zu vielen Änderungen am Grundgesetz warnte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er sei nicht überzeugt, dass die gut 60 Verfassungsänderungen der vergangenen 73 Jahre seit Bestehen des Grundgesetzes “an allen Stellen segensreich” waren. Sehr viele der Verfassungsänderungen bezögen sich auf das Verhältnis von Bund und Ländern und viele hätten mit finanziellen Dingen zu tun, sagte Harbarth. Ob eine Änderung der Verfassung tatsächlich zu einer Verbesserung der Verfassung führt, müsse im Vorfeld mit Sorgfalt abgewogen werden.

Wichtig für das Funktionieren von Demokratie sei eine “Verfassungspädagogik”, die das Grundgesetz und seine Werte über den Schulunterricht hinaus vermittle und zivilgesellschaftliches Engagement aktiviere. Dazu sei der kultivierte Streit wichtig und ein Diskurs, der intellektuell und praktisch ausgehalten werden will. Die Evangelische Akademie Tutzing verkörpere und gewährleiste einen solchen Diskurs seit nunmehr 75 Jahren in “geradezu vorbildhafter Weise” und schaffe damit ganz im Sinne des Böckenförde-Diktums ‘eben jene Voraussetzungen, die der freiheitlich, säkularisierte Staat selbst nicht garantieren kann'”. Dies spende Zuversicht in schwieriger Zeit.

An die Rolle des Grundgesetzes für die Demokratie schloss das Gesprächspanel mit Prof. Dr. Tine Stein, Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, und Bundesministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an. Letztere ist auch stellvertretende Vorsitzende der Theodor Heuss Stiftung. Die Runde war überschrieben mit dem Titel: “Die Stärke des Rechts ist die Stärke der Demokratie”. Tine Stein erläuterte, warum Demokratie auf Recht angewiesen ist – und umgekehrt: Auch das Recht sei auf Demokratie angewiesen. Die Ereignisse in den USA etwa, als Trump Anhänger im Jahr 2021 das US-Capitol stürmten, um den Kongressbeschluss zum Wahlsieg Joe Bidens zu verhindern, habe gezeigt: Das System von “checks and balances” sei kein Automatismus. Es brauche ebenso eine “verfassungsmäßige Moralität der Bürger”, die der Bürgerschaft Ethos und Haltung abverlange. Dieses Ethos müsse durch mehr Toleranz, Fairness und Respekt in der politischen Auseinandersetzung bestärkt werden. Außerdem sprach sich Stein für mehr Pflichtbewusstsein aus, um dem “Amt des Bürgers” gerecht zu werden. Eine Wahlpflicht oder Dienstpflicht – wie etwa zu einem Wehrdienst oder sozialen Dienst – könne auch Orte der sozialen Integration schaffen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warnte davor, dass die Gesetzgebung nicht zu einer Symbolpolitik verkommen dürfe. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie – vor allem im ersten Jahr – forderte sie eine Aufarbeitung der politischen Prozesse. Für sie sei deutlich geworden: Auch in Krisensituationen müsse das Parlament regieren, durch Gesetzgebungen und nicht durch Verordnungen. Desinformationskampagnen in den sozialen Medien müsse darüber hinaus mehr entgegengewirkt werden.

Bürger- oder Zukunftsräte für mehr Demokratie?

Als dritte Repräsentantin eines der Verfassungsorgane sprach Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Nachmittag des 18. Juni über “Neue Wege zu einem stärkeren und bürgernäheren Parlamentarismus”. “Die Demokratie vitalisieren!” stand über ihrem Vortrag (hier auf YouTube ansehen).

Bas sieht die Demokratien dieser Welt “gefordert”. Es werde “langfristige Konzepte, schmerzhafte Anpassungen und grenzüberschreitenden Wandel” brauchen, damit die Demokratien die globalen Herausforderungen bestehen kann. Zentral sei dabei, die Menschen von einer Politik zu überzeugen, die über die aktuelle Krise hinausdenkt und ihnen deutlich macht, dass sie Zumutungen auf sich nehmen müssten. “Daran entscheidet sich, ob unsere Zivilisation bestehen kann. Um nicht weniger geht es”, so Bas.

In ihrer Rede machte sich die Bundestagspräsidentin für Bürgerräte stark. Sie könnten dazu beitragen, “strukturelle Verkrustungen des politischen Betriebs aufzubrechen” und somit der Demokratie zu besseren Entscheidungen verhelfen. “Indem sie auch jene Menschen einbeziehen, die sonst wenig Berührungspunkte mit dem politischen System haben”, könnten sie parlamentarische Beratungen auf eine breite Grundlage stellen. Bas räumt ein, dass sich eher besser gebildete und einkommensstärkere oder gut integrierte Bürgerinnen und Bürger an solchen Räten beteiligen würden. Daher müssten Wege gefunden werden, mehr Menschen die Teilhabe zu ermöglichen.

Das Thema der Bürgerräte und der direkten Beteiligung von Nicht-Politiker:innen in die Politik war eines der großen Themen der Tagung. Prof. Dr. Michael Zürn, Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin, kritisiert einerseits, dass die Parlamente Bildungsparlamente geworden seien, die ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr repräsentierten. Auf der anderen Seite gäbe es jedoch noch ein viel größeres Problem: Die Parlamente hätten ihre Entscheidungsmacht an Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Experten oder internationale Institutionen verloren. Das führe zu einem Bedeutungsverlust der Stimme “des kleinen Bürgers oder der kleinen Bürgerin in der kleinen Wahlkabine”. Der Wähler selbst habe den Eindruck, nicht mehr gehört zu werden.

“Die Macht des Arguments”

Warum das so ist, erklärte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Claus Leggewie. Er ist Inhaber der Ludwig Börne-Professur und Leiter des “Panel on Planetary Thinking” an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In seinem Impuls zum Panel “Mehr Bürgerbeteiligung?!” rief er zu “mehr Courage für die Demokratie” auf. Sein Konzept der Beteiligung heißt “Zukunftsräte”: moderierte und auch finanziell ausgestattete Gremien, die durch Losverfahren junge, sozial Schwache oder Menschen mit Migrationserfahrung einbeziehen. Diese Zukunftsräte tauschen sich dann zum Beispiel zu Themen wie Atommüllendlager oder Stromtrassen aus.

Unter der Moderation von Wolfgang Thierse diskutierte Leggewie mit Prof. Dr. Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, Mitgründerin, Gesellschafterin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform sowie Vorsitzende des Kuratoriums der Theodor Heuss Stiftung. Sie sieht die Aufgabe von Bürger- oder Zukunftsräten darin, über das Gemeinwohl zu debattieren. “Gemeinwohl fällt nicht vom Himmel”, sagte Schwan. Ihr Konzept der Bürgerbeteiligung sieht bei umstrittenen Projekten vor, Vertreterinnen und Vertreter der Kommunalverwaltung ebenso einzubeziehen wie Wirtschaftsvertreter, Bürgerräte und gewählte Gemeinderäte.

Worin sich sowohl Leggewie und Schwan einig waren: Bürgerräte sind weder Opposition zu den gewählten Parlamentariern, noch ihr Ersatz. Schwan: “Letztlich zählt die Macht des Arguments.”

Am Abend des 18. Juni boten Prof. Dr. Herfried Münkler und Ralf Fücks ein intensives Streitgespräch zur Frage “Wofür steht ‘Der Westen‘ und was wird aus ihm?”. Das Gespräch zwischen dem Direktor des Zentrum Liberale Moderne in Berlin und Leiter der Heinrich Böll – Stiftung Fücks und dem Professor emeritus für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt- Universität Münkler wurde moderiert von Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss, dem Vorsitzenden der Theodor Heuss Stiftung. Dem Gespräch war eine Berichterstattung in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vorausgegangen. Herfried Münkler hatte gegenüber der NZZ gesagt: “Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie auch immer die Sache ausgeht” – und damit heftige Reaktionen auf Twitter ausgelöst, unter anderem von Ralf Fücks, der Münkler vorwarf , “mit dem teilnahmslosen Blick eines Ameisenforschers” auf den Ukraine-Krieg zu schauen und “internationale Politik auf einen Mechanismus von Macht und Interessen ohne normative Dimension” zu reduzieren. Münkler findet, bei einer Einigung auf Neutralität mit Sicherheitsgarantie hätte der Krieg aber vermieden werden können. Als Mitglied der Europäischen Union sieht er die Ukraine vorerst nicht – eine Perspektive, die Bundeskanzler Scholz am Tag vor Tagungsbeginn in Tutzing, bei seinem Besuch in Kiew, mit Draghi und Macron eröffnet hatte. Für Ralf Fücks war am Ende des Gesprächs klar: “Der Westen ist mehr als ein geopolitisches Projekt.”

“Mehr Druck von den Straßen”

Die Tagung schloss mit einem Blick in die Zukunft – unter ökologischer Perspektive. Die beiden Klimaaktivistinnen Merit Willemer und Anja Paolucci, Sprecherin von Fridays for Future Bayern, diskutierten mit dem Publizisten Roger de Weck zur Frage “Demokratie oder Klimaschutz?” (zum Video auf YouTube hier klicken). Moderiert wurde das Gespräch von Prof. Dr. Rupprecht Podszun, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Direktor des Instituts für Kartellrecht sowie stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Theodor Heuss Stiftung. Merit Willemer ist überzeugt: “Klimaschutz braucht Demokratie und anders herum”. Gemeinsam mit ihrer Mitstreiterin forderte sie “mehr Druck von den Straßen”, mehr politische Teilhabe sowie Klimabildung an Schulen. Sie kritisierte den Lobbyismus der Wirtschaft, der die Demokratie untergrabe. Anja Paolucci kündigte mit Blick auf den anstehenden G7-Gipfel an: “Wir werden keine Steine werfen”. Aber es sei wichtig, inhaltlich radikal zu denken – so wie sich auch der Klimawandel radikalisiere.

Roger de Weck stimmte beiden zu: Politik müsse immer wieder “radikal weitergedacht” werden. Der Mensch denke langsam – und noch langsamer um. Sorgen äußerte er über die Zukunft des Journalismus und die zunehmende Einflussnahme von großen Unternehmen auf die Medien, denen die Rolle der “vierten Gewalt” in Demokratien zugeschrieben wird.

Dorothea Grass (unter Verwendung von Material des Evangelischen Pressedienstes)

Weitere Informationen:

Reden, die in den Medien veröffentlicht wurden:

  • “Die Stunde der Demokratie” von Roger de Weck, erschienen in der ZEIT-Beilage “Christ & Welt” vom 30. Juni 2022 (über diesen Link abrufen)
  • “Demokratie in der Zwillingskrise” von Bärbel Bas, erschienen bei “Perlentaucher” am 18. Juni 2022 (über diesen Link abrufen)
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