“Ich dachte, es wäre leicht und es ginge schnell”

Zwei Annahmen über sein Ankommen in Deutschland, die sich für Azim Fakhri aus Afghanistan als Irrtum herausstellten. Dass er es geschafft hat, verdankt er seiner unerschütterlichen Zuversicht, seinem Fleiß – und Menschen, die für ihn da waren. Akademiedirektor Udo Hahn sprach mit ihm, Regisseur Niklas Schenk, der Politikerin Dr. Bärbel Kofler sowie der Tutzingerin Claudia Steinke über den Film “Wir sind jetzt hier”, den Integrationsgipfel der Bundesregierung – und Herausforderungen, die bleiben.

→ zum Mitschnitt des Filmgesprächs auf YouTube

Viel wurde über junge männliche Geflüchtete geredet, seitdem im Jahr 2015 in Deutschland 890.000 Asylsuchende registriert wurden. Viel wurde über sie gesprochen – aber eben nur wenig mit ihnen. Aus dieser Beobachtung heraus hat das deutsche Autorenpaar Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck sieben von ihnen zu langen Gesprächen getroffen. Sie heißen Najib Faizi, Ahmed Abdikarim, Hussein Al Ibrahim, Salate Hadera, Azim Fakhri, Ahmed Al Sadoon, Hasib Azizi und sie kommen aus Somalia, Syrien, Afghanistan, Eritrea und dem Irak. Auf ihrem Weg nach Deutschland haben sie Menschen neben sich sterben sehen, wären selbst fast zu Mördern geworden – und mussten um ihr eigenes und das Leben ihrer Familie bangen. Diese “Angstgegner” so mancher Integrationsskeptiker sagen Dinge wie: “Mein liebstes deutsches Wort ist Feierabend”, “Jeder von uns hat seine Familie im Herzen” und “Ich bin ein Mensch”.

Der Film, der in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung aus diesen sehr persönlichen Gesprächen entstand, trägt den Titel “Wir sind jetzt hier. Geschichten über das Ankommen.” (Mehr dazu hier)

In einer Online-Veranstaltung am 9. März 2021 hat die Evangelische Akademie Tutzing den Film gezeigt, im Anschluss bat Akademiedirektor Udo Hahn zum Gespräch. Seine Gäste: Regisseur Niklas Schenck, Filmprotagonist, Grafik- und Graffitikünstler Azim Fakhri, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, Dr. Bärbel Kofler MdB, sowie Claudia Steinke vom Ökumenischen Unterstützerkreis Tutzing.

Mit Rucksack, Laptop, Jeans und T-Shirt

Gefragt nach seinem Ankommen in Deutschland, berichtete Azim Fakhri von den beiden großen Irrtümern, denen er bei seiner Ankunft im Dezember 2014 in Deutschland aufsaß: “Ich dachte, es wäre leicht und es ginge schnell.” Ein Rucksack mit seinem Laptop, eine Jeans und ein T-Shirt waren sein gesamtes Fluchtgepäck. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er in der Flüchtlingsunterkunft darum würde kämpfen müssen, Deutsch lernen zu können – und überhaupt etwas tun, geschweige denn, arbeiten zu dürfen. Proaktiv bot er an, in Schulen und anderen Einrichtungen vom Leben in Afghanistan zu erzählen. Sein Angebot wurde angenommen und geschätzt. Azim Fakhri kam in Kontakt mit Einheimischen, Helferinnen und Interessierten. Es ging wieder voran für den jungen Vater zweier Kinder, doch “es war nicht einfach”. Gut drei Jahre nach seiner Ankunft, im März 2018, konnte er seine Frau und die Kinder aus Afghanistan zu sich holen. Für seine Kinder habe er all das überhaupt gemacht, erzählt Fakhri. Er selbst habe keine eigene Kindheit gehabt.

Es sind Geschichten, wie die von Azim Fakhri und den anderen Protagonisten des Films, die bei der Bundestagsabgeordneten Dr. Bärbel Kofler täglich auf dem Schreibtisch landen. Sie beklagt die Bürokratie, die Geflüchtete in Deutschland jahrelang in einem Schwebezustand belässt, der ihnen das Ankommen erschwert. Angesprochen auf die tagesaktuellen Ergebnisse des Integrationsgipfels der Bundesregierung am 9. März, zerlegt sie das formulierte Ziel “Fluchtursachen bekämpfen” in mehrere Puzzleteile. Zum einen befürchtet Kofler, dass die Formulierung zuweilen gebraucht werde, um eine Abwehrhaltung zu rechtfertigen. Weltweit seien derzeit 79 Millionen Menschen auf der Flucht – und die allermeisten von ihnen befänden sich außerhalb Deutschlands. Sie sieht ein “ganzes Bündel” an Fluchtursachen: fehlende Bildungschancen und Perspektiven, Krieg und Gewalt, Natur- und Klimakatastrophen und Hunger zum Beispiel – aber auch Folgen unserer Politik. Die Frage nach der “Politikkohärenz” stelle Fluchtursachen auch in Relation zu den Folgen nationaler Handels- oder Verteidigungspolitik. Man müsse immer fragen: Was richtet unsere Politik weltweit an? Aus diesem Grund befürworte sie das “Sorgfaltspflichtengesetz”, das auch auf internationaler Ebene dafür Sorge tragen soll, dass zum Beispiel Unternehmen in ihren Lieferketten Menschenrechte einhalten.

Und immer wieder: der Kampf gegen die Bürokratie

Den Menschen, die aktuell auf der Flucht sind, hilft das wenig. Sie brauchen unmittelbare Unterstützung, etwa durch örtliche Helferkreise. Zu einem von ihnen gehört Claudia Steinke, Koordinatorin des Ökumenischen Unterstützerkreises Tutzing. Im Online-Gespräch mit Udo Hahn und den Tagungsgästen berichtete sie von ihrer Arbeit als ehrenamtliche Helferin und ihren Erfahrungen, die sie vor allem 2015 sammelte. Damals hätten sich in Tutzing schnell und pragmatisch Freiwillige in einem Unterstützerkreis zusammengetan, um den 200 Geflüchteten unmittelbar zu helfen. Auch hier sei der Kampf gegen die Bürokratie kräftezehrend gewesen, etwa wenn Geflüchteten die Arbeitserlaubnis entzogen wurde, nachdem sie schon längst einer geregelten Arbeit nachgingen oder wenn Menschen daran gehindert wurden, Geflüchtete bei sich zu Hause aufzunehmen – obwohl sie genau das gerne getan hätten, auch weil in diesem Modell überhaupt erst Begegnungen ermöglicht werden.

Die Möglichkeit der “dezentralen Unterbringung” als Staat stärker in den Fokus zu nehmen, das ist auch eine der Forderungen von Niklas Schenck, der selbst einen Jugendlichen aus Afghanistan, Hasib Azizi, bei sich aufnahm – nach etlichen behördlichen Kämpfen.

Helfen wollen, aber nicht dürfen – für viele Hilfsorganisationen und Plattformen wie etwa die “Bewegung sicherer Hafen”, ist das zu oft die entmutigende Realität. Kofler fordert: “Lasst doch die helfen, die helfen wollen!” Auf europäischer Ebene wehrt sie sich gegen das Dublin-III-Verfahren und auch gegen das Prinzip, dass Aufnahmeregelungen von allen 27 Mitgliedsländern einstimmig beschlossen werden müssen.

Über eine weitere Forderung waren sich die Gäste des Filmgesprächs einig: Resettlement müsste vorangetrieben werden, um “Ansprüche zu prüfen, bevor Leute in ein Boot steigen”, so Schenck. Auch Fachkräfte-Einwanderungsprogramme seien sinnvoll, ergänzte Dr. Bärbel Kofler. An oberster Stelle stünde jedoch das Ziel, dass geflüchtete Menschen schneller aus ihrem Duldungsstatus herauskommen. Kofler und Steinke forderten hier einen “Spurwechsel”.

Azim Fakhri verabschiedet sich mit einem Lächeln von den Zuschauerinnen und Zuschauerinnen der Online-Veranstaltung. Zuvor hat er darüber gesagt, dass er “im Gesicht glücklich” erscheine, aber das nie darüber hinwegtäuschen könne, dass immer “ein Teil seines Körpers woanders” sei – in Afghanistan. “Diese Zeit vergesse ich nicht.”

Dorothea Grass

Mehr zum Film finden Sie hier:

https://www.fes.de/themenportal-flucht-migration-integration/artikelseite-flucht-migration-integration/wir-sind-jetzt-hier

→ Den Mitschnitt der Filmgesprächs auf unserem YouTube-Kanal #EATutzing

Bildcollage: Online-Gespräch zum Film “Wir sind jetzt hier” (Screenshot Evangelische Akademie Tutzing / Filmposter: Niklas Schenck / Gestaltung Andrea Schmidt / Typografie/im/Kontext)

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