“Sichere Drittstaatsabkommen können Leben retten”

Über die aktuellen Herausforderungen in der europäischen Asylpolitik diskutierten wir Ende Oktober mit der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan und dem Migrationsforscher Gerald Knaus.

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“Schmutziger Deal oder neue Ideen?” – der Titel der Podiumsdiskussion, zu der die Evangelische Akademie Tutzing gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Ökumenischen Unterstützerkreis Tutzing am 30. Oktober einlud, spiegelt die Debatte um die Migrationspolitik in Deutschland und Europa wider. “Wir brauchen einen schmutzigen Deal” stand über dem Text des Brüssel-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Josef Kelnberger, vom 25. Mai 2023. Er beleuchtete darin das europäische Flüchtlingssystem und ging auf die Initiative der Bundesregierung ein, Asylverfahren für Länder mit niedrigen Anerkennungsquoten verkürzt und an den EU-Außengrenzen in haftähnlichen Lagern durchzuführen. Ein paar Tage später konterte die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan in derselben Zeitung unter dem Titel “Ideen helfen mehr als Stacheldraht”: “Wir brauchen keinen schmutzigen Deal. Von einer intelligenten Einwanderungspolitik profitieren auch wir.”

Das Thema Migrationspolitik ist gesetzt, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die Debatte hat auch medial weiter an Fahrt aufgenommen. In den letzten Monaten sei einiges in der Debatte um Asyl und Zuwanderung “hochgekocht”, stellte Simone Reperger, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in München, in ihrer Begrüßung fest. Auch populistische Stimmen würden immer lauter – und zwar nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen, sondern durch alle demokratischen Parteien hindurch.

Doch die Frage bleibt: Wie lässt sich Migrationspolitik gerecht und sinnvoll gestalten? Was braucht es in der Asylpolitik, damit die EU nicht länger ihre Werte aufs Spiel setzt und das Sterben an den Außengrenzen der EU aufhört?

“Hinter jeder Zahl steckt ein Mensch”

Die Podiumsdiskussion am 30. Oktober im Musiksaal der Akademie stieß auf reges Interesse. Neben Akademiedirektor Udo Hahn, der das Gespräch moderierte, nahmen der Migrationsforscher Gerald Knaus und die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan auf dem Podium Platz. Gerald Knaus ist Gründungsdirektor und Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitgründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform gGmbH sowie Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Beide hatten im Jahr 2018 unter “Kontrolle und Empathie” Vorschläge zu einer EU-Flüchtlingspolitik formuliert (hier nachlesen).

Knaus bezeichnete es als “dringend”, dass in der EU-Migrationspolitik etwas passieren muss und nannte zu Beginn Zahlen – wohlbemerkt mit dem Bewusstsein, “dass hinter jeder Zahl ein Mensch steckt”. Deutschland habe im vergangenen Jahr so viele Menschen aufgenommen wie noch nie: fast 1,2 Millionen Menschen, darunter 500.000 Geflohene alleine aus der Ukraine. Diese historische Herausforderung liege jedoch jenseits der Kontrolle der deutschen Regierung. Vielmehr komme es auf den Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine an, ob und wie viele Menschen in diesem Winter noch hinzukommen könnten – oder, ob Menschen im nächsten Jahr wieder aus Deutschland zurückgehen könnten in die Ukraine. Der Status der Menschen, die aus der Ukraine geflohen seien, unterscheide sich jedoch wesentlich von dem der regulären Asylsuchenden, da diese im Unterschied zu den Ukrainer:innen nicht automatisch als anerkannte Flüchtlinge gelten.

Ein europäischer Fonds?

Im europäischen Vergleich hat Deutschland die meisten Menschen aus der Ukraine aufgenommen, gefolgt von Polen und Tschechien (Quelle: Statista). Gemessen an der Größe der eigenen Bevölkerung haben Estland und Tschechien die meisten Menschen aufgenommen. Diese Zahlen, so Knaus, haben allerdings mit Asyl und irregulärer Migration nichts zu tun – doch hier zeige sich das “komplette Versagen der Europäischen Union”. Geflüchtete aus der Ukraine erhalten nicht in jedem europäischen Land die gleichen Rechte und die Verteilung über die EU-Länder hinweg sei “vollkommen ungleich”, so Knaus. Seit März 2022 habe sich über die Maßnahmen zur Aufnahme geflüchteter Ukrainer:innen hinaus nichts in der europäischen Migrationspolitik getan. Die europäische Debatte über Solidarität bezeichnete Knaus als “absurd”. Er machte sich für die Idee eines europäischen Fonds stark, in den alle EU-Länder einzahlen und mithilfe dessen die Länder und Kommunen unterstützt werden, die diese Hilfe für den Schutz und die Aufnahme von Geflüchteten am meisten benötigten – zum Beispiel für Unterbringungen. Er beklagte, dass diese Idee noch nicht einmal EU-weit diskutiert werde.

Asylsuchende, die über das Mittelmeer im vergangenen Jahr gekommen sind: 180.000, in diesem Jahr geht Knaus von etwa 250.000 Menschen aus. Zum Vergleich: Das sind so viele Menschen, wie etwa jeden Monat als illegale Einwanderer die Grenze von Mexiko in die USA passieren. Die Zahl in Europa hält Knaus für “eigentlich beherrschbar”.

Die Erwartung der Bundesregierung, durch vermehrte Abschiebungen, die steigende Zahl der Asylanträge zu reduzieren, nannte Gerald Knaus “politisch gefährlich” und eine “unrealistische Debatte”. Nur etwa vier Prozent aller Asylanträge würden abgelehnt. Knaus ist der Meinung: Weder die Überlastung der Kommunen, noch das Problem der irregulären Migration lässt sich über Abschiebungen lösen.

Auch die Debatte über Binnengrenzkontrollen hält Knaus für unrealistisch, denn so bald irregulär eingereiste Personen aufgegriffen werden, stellen sie in dem Land, in dem sie aufgegriffen werden, einen Asylantrag. Einzig der Kontrollverlust werde sichtbarer, die Zahl der Asylanträge aber nicht geringer.

“Das, was Menschen als Problem vorgestellt wird, wird als Problem empfunden.”

Gesine Schwan pflichtete Knaus bei. Die von ihm genannten Punkte zeigten die “Absurdität des Theaters”. In der öffentlichen Debatte werde problematisiert, dass es zu viele Menschen gebe, die irregulär nach Deutschland kämen. Gleichzeitig benötige Deutschland pro Jahr 400.000 mehr Arbeitskräfte – eine Zahl, die bislang aber nicht erreicht wurde. Sie vermutet: “Es kann also nicht die Zahl der Menschen sein, sondern die Art der Menschen, die zu uns kommen.”

Die Art und Weise, wie über Geflüchtete berichtet wird, ist für Schwan äußerst kritikwürdig. “Das, was Menschen als Problem vorgestellt wird, wird als Problem empfunden.” Gleichwohl verstehe sie den Ärger der Menschen darüber, dass mit ihnen nicht gesprochen werde, bevor weitere Migrantinnen und Migranten in Deutschland ankommen. Schwan sieht ein Problem der Partizipation, vor allen auf der kommunalen Ebene. Den Unmut der Bürgerinnen und Bürger darüber greife die AfD dankbar auf. – Und nicht nur das. Weitere politische Akteure würden auf die Debatte aufsitzen und daraus “Wahlkampfmunition” machen. Schwan spricht von einem “Überbietungswettbewerb” im radikalen Sprechen und sieht momentan eine “Welle der Verhetzung”. Es gelte aufzupassen, nicht zu “Getriebenen der Rhetorik der anderen” zu werden.

Schwan ist dafür, die öffentliche Rhetorik zu reflektieren, aber auch, sich “über eigene Denk- und Fühlprämissen” klarzuwerden. Sie fordert überdies ein breiteres Verständnis von Migration, auch vor dem Hintergrund der weltweiten Krisensituationen, die Menschen zur Flucht bewegt und das auch weiterhin tun wird.

Schwan und Knaus stellten während der Debatte mehrere Lösungsansätze vor: Zum einen Abkommen mit anderen Staaten. Knaus sagte wörtlich: “Sichere Drittstaatsabkommen können Leben retten!” Auch Schwan sieht im Eröffnen von legalen Wegen der Migration wie etwa Familienzusammenführungen, der Seenotrettung als gesamteuropäische Aufgabe oder auch strategischen Abschiebungen mit Stichdaten weitere Möglichkeiten. In einem Artikel vom 27. Oktober 2023, der unter dem Titel “Wo noch Luft ist” erschien, beschrieb sie weitere pragmatische Handlungsansätze (hier lesen).

Beide Podiumsgäste kritisierten sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser für ihren aktuellen Kurs und bezeichneten ihn als “unverantwortlich”. Knaus sieht die Ampelregierung nun in der Verantwortung, die Konzepte des Koalitionsvertrages umzusetzen. Das gehe nur als “Chefsache”.

Dorothea Grass

 

Link zur Veranstaltung:
https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/schmutziger-deal-oder-neue-ideen/

Bild: Podiumsgespräch am 30. Oktober 2023 im Musiksaal von Schloss Tutzing (Foto: Casanas / eat archiv)

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