Mehr Ehrlichkeit und Pragmatismus in der Asylpolitik

Asylsuchende sollten arbeiten dürfen, Ankerzentren sollten in Erstaufnahmezentren umgewandelt werden – und es sollte weniger ideologisch, dafür realistisch und menschenwürdig in der Asylpolitik argumentiert und gehandelt werden. Dafür sprachen sich die Gäste eines Podiumsgesprächs an der Evangelischen Akademie Tutzing aus.

Viele Themen sind in der Corona-Pandemie aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt worden – die Asylpolitik ist eines davon. Dabei sind die Probleme für Asylsuchende in Deutschland und die vielen ehrenamtlichen Initiativen, die sich darum kümmern, die Menschen zu integrieren und ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen, nach wie vor real und drängend. Ihr Anliegen in den Vordergrund zu stellen – und die lokale Perspektive der Hilfsorganisationen mit einem globalen Blick auf Flucht zu verbinden, das war die Intention des Podiumsgesprächs “Für eine realistische und menschenwürdige Asylpolitik” am 11. Oktober 2021 an der Evangelischen Akademie Tutzing.

Eingeladen hatte die Akademie in Kooperation mit dem Ökumenischen Unterstützerkreis Tutzing und seiner Vorsitzenden Claudia Steinke. Gemeinsam mit der Gemeinde Tutzing hatte der Unterstützerkreis die Aktion “Tutzing hilft im Mittelmeer” initiiert, die im Jahr 2020 76.000 Euro an Spenden für verschieden Hilfsorganisationen im Mittelmeer eingesammelt hatte. Die Aktion wird auch in diesem Jahr fortgeführt.

Neben Claudia Steinke war Dr. Joachim Jacob aus Petershausen, Co-Vorsitzender des Verbands der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer “Unser Veto – Bayern”, der zweite Praktiker in der Runde, der die Perspektive der lokalen Flüchtlingshilfe vertrat. Er äußerte sein Unverständnis darüber, dass Asylsuchende, die seit Jahren im Land leben, nicht arbeiten dürfen, keine Deutschkurse erhalten und ohne Perspektive in Containern wohnen müssen. Die Situation berge “sozialen Brennstoff”. Jacob forderte die Abschaffung des Systems der Kettenduldung: “Die Asylverfahren müssen schneller werden. Wer drei Jahre im Land ist, soll bitteschön arbeiten können.” Das würde darüber hinaus auch die Steuerzahlenden entlasten.

Claudia Steinke pflichtete Joachim Jacob bei und wies darauf hin, dass es bei einem Großteil der Menschen ohne Bleiberecht gar nicht zu einer Abschiebung käme – wie auch die Zahlen bewiesen. Manche Länder, wie etwa Irak, nähmen keine Geflüchteten zurück. Dieses Dilemma benannte auch Gerald Knaus, Migrationsforscher und Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) in Berlin. “2018 gab es 21 000 Abschiebungen, davon fast 70 Prozent in den Westbalkan und in die EU-Länder, zwölf Prozent in andere europäische Staaten und acht Prozent nach Afrika.” Deshalb wäre es besser, alle Innenminister würden angesichts dieser Zahlen realistisch und nicht ideologisch reagieren.

Eine ehrliche Debatte ohne Ideologisierung sowie eine klare Kommunikation – das forderten auch Steinke und Jacob. Man müsse auch unangenehme Wahrheiten aussprechen. Joachim Jacob wies etwa darauf hin, dass die wenigsten Geflüchteten es schaffen, eine Ausbildung abzuschließen. Gleichzeitig gebe es einen hohen Bedarf an ungelernten Arbeitskräften in Deutschland, der Geflüchteten eine Chance bieten könne, Fuß zu fassen. Auch positive Wahrheiten und Erfahrungswerte  sollten gehört werden, etwa die, dass sich viele Geflüchtete bereits eine Existenz in Deutschland aufbauen konnten. Ein weiteres gehört für Jacob zur Wahrheit und zum Realismus: dass Ausländerämter Statistiken führten. Jedoch: “Diese Daten will man nicht erheben.”

Ebenfalls in der Kritik: die Ankerzentren. Für Joachim Jacob ein Ort, der “frustrierte, gebrochene Menschen” hervorbringt. Es sei dringend an der Zeit, die Ankerzentren in Erstaufnahmezentren umzuwandeln, damit die Menschen wieder dezentral und menschenwürdig untergebracht werden können.

Dass die Situation der Geflüchteten in Europa momentan alles andere als menschenwürdig ist, darauf wies Gerald Knaus hin. Er schilderte unerträgliche Zustände an europäischen Grenzen wie etwa in Griechenland, Polen und Kroatien, wo Menschen mit Gewalt zurückgedrängt werden und in Wäldern erfrieren. “An den EU-Außengrenzen gelten keine Menschenrechte mehr.”, konstatierte Knaus. Es sei hier zu einem totalen Zusammenbruch aller Flüchtlingskonventionen gekommen. Deswegen sei es wichtig, legale Lösungen zu finden wie etwa durch Resettlement-Programme, bilaterale Abkommen, Stipendien sowie legale Ausreise- und Einreisevisa. Unkontrollierte Migration sei “politisch brandgefährlich” , bewirke das absolute Gegenteil und schüre die Angst vor Geflüchteten.

Knaus zeigte sich “verhalten optimistisch”, dass sich die nächste Bundesregierung auf ein Bleiberecht einigt sowie Vorschläge für ein europäisches Konzept für die EU-Außengrenzen thematisiert.

Dorothea Grass

 

Hinweis:
Einen Videomitschnitt des Podiumsgesprächs können Sie auf dem YouTube-Kanal der Akademie unter diesem Link abrufen.

 

Literaturtipp:

“Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl” Gerald Knaus, Piper-Verlag

Presseberichte zur Veranstaltung:

Sandra Sedlmaier: “Asylpolitik: Bitte ehrlicher und schneller”, erschienen im Münchner Merkur am 12. 10.2021

Patrizia Steipe: “Arbeiten statt warten“, erschienen in der Süddeutschen Zeitung , Ausgabe Landkreis Starnberg, am 12.10.2021

Bild: V.l.n.r.: Joachim Jacob, Claudia Steinke, Gerald Knaus und Udo Hahn beim Podiumsgespräch am 11.10.2021 in der Evangelischen Akademie Tutzing (eat archiv)

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