Haben Algorithmen ein Gewissen?

Mit dem digitalen Wandel wächst auch die Macht der Online-Plattformen und Tech-Konzerne. Das hat nicht nur technische Auswirkungen – sondern ist auch von gesellschaftlicher und ethischer Relevanz. Wie funktionieren Privatheit und Öffentlichkeit in der digitalen Welt? Und wie kann es soziale Gerechtigkeit in der Digitalität geben? Damit beschäftigte sich die Online-Tagung “Digitalethik & Junge politische Philosophie”.  Zum Tagungsbericht.

In was für einer Welt wollen wir im digitalen Zeitalter leben? Voller Visionen und konkreten Ideen für eine lebenswerte digitale Welt diskutierten 60 Schüler*innen, Studierende, Young Professionals und Referierende vom 4. bis 6. Dezember 2020 gemeinsam über “die Digitalität” und ethische Fragen hierzu. Ein breites Feld, so dass die wirtschaftlichen, philosophischen und politischen Perspektiven kontrovers beleuchtet werden mussten.

Digitaler Kapitalismus, eine neue Form von Privatheit – und die Entpolitisierung?

“Die Digitalisierung begegnet uns heutzutage – in unserem digitalen Wirtschaftssystem – nicht mehr als Werkzeug, sondern als Opponent”, so der Berliner Philosoph Christian Uhle in seiner Keynote. Das warf eine normative Frage im Wirtschaftsbereich auf: Was unterscheidet den digitalen vom analogen Kapitalismus und wie sind diese Neuheiten aus ethischer Perspektive zu bewerten? Neu am digitalen Kapitalismus sind die Machtmonopole der großen Tech-Konzerne. Sie verändern die Machtverhältnisse auf den globalen Märkten – zu Lasten der Souveränität der Konsument*innen. Außerdem entwickelt sich durch die Omnipräsenz sozialer Plattformen im privaten und öffentlichen Leben eine neue Art sozialer Infrastruktur, der sich die Konsumierenden kaum noch entziehen können.

Gibt es überhaupt noch einen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Leben? Mit dieser Frage beschäftigte sich die einflussreiche Philosophin Hannah Arendt schon vor dem Zeitalter der Digitalisierung. Die Philosophin und Politologin Cindy-Ricarda Roberts wandte die Beobachtungen Arendts in ihrem Vortrag auf die digitale Gesellschaft an: Braucht der Mensch eine klare Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Leben? Und ist diese Trennung in der heutigen Gesellschaft gegeben? Führt eine Vermischung von Privatem und Öffentlichem zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft? Fragen, die auch die Alltags- und Gedankenwelt der Tagungsgäste berührten. Sie äußerten sowohl Befürchtungen, dass soziale Plattformen zu einer Form des Totalitarismus führen, als auch pro-digitale Erwägungen, die die große Möglichkeit zur Partizipation hervorhoben. Profitiert etwa die alleinerziehende Mutter davon, ganz bequem von zuhause und nach Feierabend am politischen Deliberationsprozess teilnehmen zu können oder entsteht für sie ein Zwang trotz eines anstrengenden Arbeitstages auf einem professionellen Netzwerk wie LinkedIn präsent sein zu müssen, um weiterhin gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben? Ist Digitalisierung also inklusiv oder birgt der Druck, “dabei sein” zu müssen, die Gefahr einer sozialen Exklusion?

Die Macht der Algorithmen in der digitalen Demokratie

Fest steht: Die Welt der sozialen Interaktion wandelt sich durch die Digitalisierung massiv. So sei das Internet geeignet für das schnelle und kurzfristige Kundtun einer politischen Meinung, jedoch nicht für ein langfristiges politisches Engagement, kritisiert Yannick Hahn (Politikberater beim unabhängigen ThinkTank “iRights Lab”). Während das Internet aus der Ideologie der Freiheit entstanden sei, werde es heute von vielen als antidemokratische Alternative zur Lösungsfindung gesehen. Das komme daher, dass soziale Plattformen kommerzielle Debattenräume seien, in denen der demokratische Prozess an Wert verliere und in denen nicht das gesamtgesellschaftliche Wohlergehen, sondern die Inszenierung des Ichs in den Fokus gestellt werde. Schließlich: “Mehr Ziele als Geldverdienen haben die Plattformunternehmen nicht”, so Yannick Hahn. Im Gegenteil: “Manipulation ist doch Teil des Geschäftsmodells”, erklärte Ingo Dachwitz, Redakteur bei netzpolitik.org. Unterstützt wurde diese Beobachtung von Cindy-Ricarda Roberts‘ These, dass Konsument*innen mehr Wert auf digitale Sicherheit und die eigenen Vorteile legen als auf die Aufrechterhaltung der Demokratie. “Es ist essentiell, sich vermehrt in den demokratischen und integrativen Dialog mit einzubringen”, so Roberts. Ingo Dachwitz plädierte für gegenseitiges Ermutigen, Aufklären und Einbringen. Das sei besonders wichtig, weil die monopolistischen Global Player wie Facebook oder Google nur noch schwer regulierbar seien. Dachwitz beharrt auf dem Durchsetzen der digitalen Rechte der User, damit sie eigene digitale Entscheidungen (etwa über ihre Facebook-Feeds) treffen können statt alle Macht den Algorithmen zu überlassen.

Besonders für die junge Generation, für die die digitale Welt eine gleichwertige und verschränkte Realität wie die der physischen ist, sei es nicht nur spannend, sondern auch notwendig, sich einen bewussteren Umgang mit der Online-Welt anzueignen. Erst recht, da die Digitalisierung nahezu alle Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tangiert, worauf Kim Klebolte, Referentin der Geschäftsleitung vom Digitalverband Bitkom e.V., hinwies. In ihrem Input führte sie die Interdependenz vor Augen, die zwischen der Digitalisierung und den größten Herausforderungen unserer Zeit besteht und Themen wie Nachhaltigkeit, Transparenz und Sicherheit tangiert. Besonderes Augenmerk richtete sie auf die Verschärfung der Bildungschancen-Ungerechtigkeit. “Die soziale Mobilität in Deutschland ist schlecht. Sie ist sogar schlechter geworden im Vergleich zu anderen Ländern”, so Klebolte. Gerade in Zeiten einer Pandemie, in denen die Bildung auf digitale Methoden angewiesen ist, werde ein didaktischer Ansatz bedeutend, der den Umgang mit der Digitalisierung in all ihren Erscheinungsformen thematisiert.

Politische Inszenierungen im Netz & drei Forderungen an die Politik

In zwei Workshops setzten sich die Tagungsgäste mit der selbstbestimmten und reflektierten Nutzung sozialer Medien auseinander: Ingo Dachwitz problematisierte den geringen Datenschutz bei WhatsApp und stellte alternative Messenger-Dienste wie zum Beispiel Signal oder Threema vor. Max von Blanckenburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München, thematisierte die Verzerrung und Personalisierung politischer Inhalte auf Plattformen wie TikTok. Er machte den Einfluss deutlich, den Influencerinnen und Influencer auf die Meinungsbildung ihrer oft sehr jungen Followerschaft haben. Interessant war zu analysieren, wie unterschiedlich sich Politiker*innen in der Öffentlichkeit präsentieren und ihr öffentliches Image euphemisieren. Ein prominentes Beispiel ist Donald Trump, wie er sich, seine Macht und seinen Wohlstand auf einem Familienbild, das stilistisch an Familienbilder der britischen Königsfamilie angelehnt ist, inszenierte.

Während der Tagung wurde klar: Politische Entscheidungsprozesse und begleitende Diskurse sollten nicht allein dem Silicon Valley überlassen werden. Cindy-Ricarda Roberts formulierte drei konkrete Forderungen an die Politik:

  1.   Kleine und mittlere Unternehmen müssen unterstützt werden, um den Wettbewerb aufrecht zu erhalten.
  2.   Die Europäische Union muss sich von der amerikanischen und asiatischen Dominanz im Tech-Bereich emanzipieren und beispielsweise die Entwicklung einer “AI made in Europe” vorantreiben.
  3.   Wettbewerbsfähigkeit und Datenschutz müssen vereinbar sein.

Declaration of Digital Rights – Positive Narrative für die digitale Zukunft

Neben politischen Forderungen ist auch das Bewusstsein wichtig, dass es an der jungen Generation ist, positive Narrative für die digitale Zukunft zu prägen. Ein solches Narrativ brachte Julia Kloiber, Mitgründerin des Prototype Fund Deutschlands, nahe, indem sie die jungen Tagungsgäste in interaktiven Sessions die Idee einer Declaration of Digital Rights debattieren ließ. Nach intensiven Breakout-Debatten wurde daraufhin im Plenum ausgewertet, welche Probleme und Chancen bestimmte Rechte mit sich bringen: beispielsweise das Recht, offline zu sein, das Recht, das digitale Selbst zu löschen, das Recht auf Freiheit von Cyber-Bullying oder auch das Recht auf anonyme Teilhabe. Letzteres wurde besonders intensiv diskutiert. Einige Stimmen äußerten Bedenken: Was ist, wenn dadurch Menschen für ihre Taten im Netz nicht zur Rechenschaft gezogen werden können? Welche Möglichkeiten bleiben, gegen Morddrohungen und menschenverachtende Kommentare im Netz vorzugehen? Auf der anderen Seite ist anonyme Teilhabe besonders für Bürger*innen totalitärer Staaten oft die einzige Möglichkeit, frei ihre Meinung zu äußern.

Fazit: Junge Menschen sind diejenigen, die mit definieren, in welcher digitalen Welt sie leben wollen. Nur Diskussion, Wissensaustausch und Ideenreichtum befähigen, um in einer immer komplexeren, intransparenteren und schnelllebigeren Gesellschaft mitzugestalten und Selbstbestimmung zu wahren.

Die Tagung wurde geplant und durchgeführt von der Studienleiterin des Jungen Forums, Julia Wunderlich, in Kooperation mit den bayreuther dialogen der Uni Bayreuth: Ariz Weber, Anna Jope und Justus Ruhrmann, Studierende im Studiengang “Philosophy & Economics”. Das dreitägige Onlinetagungsformat setzte einen besonderen Akzent auf interaktive Gestaltung: gemeinsame virtuelle Mahlzeiten, ein Live-Klavierkonzert von Joshua Steib (YouTube: Joshiano), informelle Diskussionsrunden und Networking. Bemerkenswert war, dass die Teilnehmenden bis in die frühen Morgenstunden die Tagungsthemen in Breakout-Sessions weiter diskutierten. – Ein Engagement, dass die Motivation junger Leute unterstrich, selbst Verantwortung in Diskurs und Praxis zu übernehmen und deutlich machte, dass Jugend Lust auf die Gestaltung der Zukunft hat.

Autorinnen: Katharina Klotz, Lena Seelig und Julia Wunderlich

Weitere Informationen zur Tagung sind hier abrufbar.

Weiterhören:
Im “Seefunken”-Podcast der Evangelischen Akademie Tutzing können Sie ein Interview mit der Politologin und Philosophin Cindy-Ricarda Roberts nachhören, in dem sie über Hannah Arendt und Eindrücke aus der Tagung spricht. Hier geht’s zum Podcast.

Bild: Kim Klebolte während der Online-Tagung “Digitalethik & Junge politische Philosophie” (Foto: Martin Klemmer, Bitcom e.V. / eat archiv)

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