Was soll aus Europa werden?

Die Frage sollte nicht wehmütig klingen, sagte Udo Hahn, der Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, in seinen Begrüßungsworten zur Frühjahrstagung des Politischen Clubs. Mit dem Thema solle vielmehr ein aktuell vieldiskutiertes Thema aufgegriffen werden und den Teilnehmern die Möglichkeit einer Orientierung geboten werden – eine Art „Anleitung zum Selberdenken“. – Ausführlicher Bericht zur Tagung vom 15. bis 17. März 2019.

Europa – ein Sujet mit aktueller Brisanz: 2019 wird das Europäische Parlament neu gewählt, die Kommission neu aufgestellt und die Staats- und Regierungschefs müssen über die Nachfolge von EU-Ratspräsident Donald Tusk entscheiden. Zu diesen aktuellen Fragen kam ein weiteres Thema, das während der Tagung Mitte März durchgehende Präsenz zeigte: der Brexit.

Darüber hinaus diskutierten die PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und MedienvertreterInnen während des Politischen Clubs mit einem interessierten und kundigen Publikum Fragen wie: Bleibt Europa liberal und weltoffen, getragen von ihrer Gründungsidee einer transnationalen Demokratie – oder wird es zunehmend zerstritten und nationalistisch? Was ist zu tun, um Schaden von Europa abzuwenden? Wie kann man neue Begeisterung wecken, wie die Bürger für Europa gewinnen? Welche Visionen und Zukunftsentwürfe könnten es sein? Welche praktischen Reformschritte sind notwendig, um Europa zu erneuern: ein europäischer Investitionsfonds und/oder Währungsfonds, eine europäische Arbeitslosen-(Rück)Versicherung, gar eine Sozial- und Fiskalunion oder eine europäische Armee? Braucht Europa mehr Integration (und auf welchem Feld) oder weniger?

Die von den Referenten angestoßenen Themen waren vielschichtig, unterschiedlich und komplex  – ganz wie das Thema Europa selbst. Klar wurde auch: Die Europäische Union (EU) ist ein weltweit einzigartiges Konstrukt. Es gibt also keine Vergleiche für dieses supranationale Projekt, dem aktuell 28 Staaten angehören, in dem 24 Amtssprachen gesprochen werden und in dem in 19 der Mitgliedsstaaten mit einer einheitlichen Währung, dem Euro, gezahlt wird. Im Folgenden haben wir eine Übersicht über die wichtigsten Themenkomplexe zusammengestellt.

Bestandsaufnahme

„Befindet sich Europa in einer Midlife-Crisis?“ fragte Michael Roth MdB, SPD-Politiker und Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt in Berlin. Er bejahte die Frage und zog Parallelen zu persönlichen Erfahrungen mit Krisen in der Lebensmitte. Es sehe einen argumentativen Schlagabtausch zwischen Vernunft und Emotionen. Rein rational betrachtet könnten die Europäer „alle stolz und dankbar“ sein. Es gehe den meisten Bewohnern der EU gut, sie lebten in Sicherheit. Von innen aber würden viele „von Nationalismus und Populismus zerfressen“ werden. Zu rational seien oft die Beweggründe für die EU ins Feld geführt worden. Umso emotionaler argumentierten aber die Gegner der EU. Vor allem bei der jüngeren Generation würden die Erwartungen an die EU nicht erfüllt.

Als negativ bewertete Roth, dass es derzeit ein „massives Desinteresse“ an den Krisenherden innerhalb Europas und den angrenzenden Staaten, wie etwa dem Krieg in der Ostukraine gebe. Osteuropäische Länder würden momentan vernachlässigt, auch die Länder des westlichen Balkans sollten unbedingt mehr in den Vordergrund rücken und ernst genommen werden.

Der Europa-Politiker Elmar Brok (MdEP) sieht Europa momentan zwischen mehreren Kräften, die an der Union zerren und es „auseinanderreißen“ wollen. „Diese Welt ist in Aufteilung“, so Brok. Verschiedene Mächte konkurrierten um verschiedene Wettbewerbsblöcke und Europa müsse seine Rolle dabei ernster nehmen. Von den USA aus entstünde derzeit ein Vakuum (Stichwort Handelsverträge, die die USA aufkündigen) – Europa würde somit wichtiger. In der Energie- und Infrastrukturpolitik sei die EU aber bislang noch zu wenig präsent. Europa müsse begreifen, dass es in diesen Sektoren nicht um Wirtschaftspolitik, sondern um Strategie- und Machtpolitik gehe.

Ein weiteres Problem, so Brok, seien die nationalistischen Tendenzen innerhalb der Europäischen Union. Er konstatiert: „Wer nationalistisch wählt, versündigt sich gegen nationales Interesse!“ Brok gibt dem französischen Präsidenten recht, der sagt, dass Nationalismus Krieg bedeute.

Gesine Schwan warnt davor, Länder mit eindeutig rechtspopulistischen Regierungen zu schnell zu verurteilen. Für gebe es einen Unterschied zwischen Bürgern und Regierungen: „Gesellschaften sind nicht identisch mit ihren jeweiligen Regierungen – auch wenn diese demokratisch gewählt wurden.“

Die Hörfunk- und TV-Korrespondenten der ARD und des Deutschlandradios in Brüssel, Malte Pieper und Peter Kapern, bejahen aus ihrer Arbeitserfahrung heraus die Frage Wolfgang Thierses (Leiter des Politischen Clubs) nach einem schlechten Image der EU. Nationale Regierungspolitiker würden unpopuläre Entscheidungen gerne Brüssel vor die Füße schieben. Thierse zitiert einen Ausspruch von Martin Schulz, der gesagt haben soll: „Wenn die Sonne scheint, war’s Berlin, wenn’s regnet, war’s Brüssel.“
Der Journalist Peter Kapern sagte, er gehe in seiner Arbeit sehr bewusst mit seinem Vokabular um, da Worte auch immer Stimmungen und Klischees transportierten. So überlege er etwa immer genau, wann er das Wort „Streit“ benutze. Insgesamt beobachte er eine Überforderung, Begeisterung für das europäische Projekt einzufordern. Er sagte aber auch, dass momentan die Zustimmungsraten für die EU wieder steigen würden.

Malte Pieper berichtet davon, wie schwierig es sei, die Bedeutung der EU für die einzelnen Mitgliedsländer und ihre Forderungen an die EU, zu fassen. Es gebe immer mindestens 28 völlig unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Er kritisiert – ähnlich wie Michael Roth, eine gewisse Arroganz, die von den Mitgliedsländern in Westeuropa ausgehe. Kommunikation mit erhobenem Zeigefinger sei allerdings kontraproduktiv im europäischen Integrationsprozess.

So sieht das auch die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. habil. Sabine Riedel, Professorin für Politikwissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie sagt: „Wenn wir mit dem Finger auf andere zeigen, riskieren wir mehr Spaltung.“ Neben dieser innereuropäischen Befindlichkeiten sieht Riedel die EU momentan vor allem vor drei großen Herausforderungen: Brexit, Populismus und Reformdebatte.

In der untenstehenden Bildergalerie haben wir verschiedene Momente der Tagung eingefangen.

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