Wandel der Familie bedeutet nicht Untergang

Krisen machen die Verhältnisse sichtbar, die zwar vorher schon da waren – aber zu wenig beachtet wurden. So verhält es sich auch mit dem Thema Familie. Erbarmungslos zeigt die Covid-19-Pandemie den Stellenwert von Familien und ihren Bedürfnissen in Politik und Gesellschaft. Die Frühjahrstagung des Politischen Clubs legte die wunden Punkte offen: Kinderschutz, Betreuungsverhältnisse, Trennungsfamilien, Ehegattensplitting, Stellenwert von Bildung und Rollenverständnisse waren nur einige davon. Zum Bericht.

→ Die Mitschnitte der Vorträge und Debatten sind auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing abrufbar.

“Familienpolitik als Verfassungsauftrag” mit diesem Titel unterstrich die Frühjahrstagung des Politischen Clubs unter der Leitung von Bundestagspräsident a.D. Dr. Wolfgang Thierse sowohl den Stellenwert der Familie als auch den Anspruch an die Politik, ihrem Verfassungsauftrag nach Artikel 6 des Grundgesetzes nachzukommen. In Absatz 1 heißt es hier: “Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.”

Doch was heißt eigentlich Familie im Jahr 2021? “Es gibt nicht die Familie”, sagte Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin in ihrem Eingangsvortrag. Zu groß seien die Unterschiede in den gelebten Familienmodellen, vor allem zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Zu oft würden Alleinerziehende vergessen – und dann gebe es auch noch Familien mit und ohne Kinder. Prof. Dr. Anja Steinbach, Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, beschrieb Familie so: “Familie ist heute die Zusammengehörigkeit der Generationen”, damit seien auch die Personen gemeint, die unverheiratet zusammenlebten.

Vom Fokus auf Ehegattenfamilien hin zum Kindeswohl

Doch nicht nur die Lebensrealitäten von Familien haben sich im Laufe der Zeit verändert, auch die Auffassung über das, was Familienpolitik zu leisten hat. Diesen Wandel zeichnete Prof. Dr. Irene Gerlach, Professorin für Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe sowie Co-Leiterin des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik in Bochum in ihrem Vortrag nach. Sie sprach von einem Paradigmenwechsel. Sie zeichnete die Entwicklung von einer Unterstützung der Familien durch Freibeträge und Kindergeld hin zu einer umfassenden und zielgenauen Unterstützung mit den unterschiedlichsten Maßnahmen wie Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss und Elterngeld nach, die auch ein diversifiziertes Familienverständnis in den Blick nehme. Während die Familienpolitik früher die Infrastruktur vernachlässigt habe und vor allem Ehegattenfamilien finanziell unterstützt habe, befände sich heute verstärkt das Kindeswohl im Fokus.

So sei die Familienpolitik in den 1950er und 1960er Jahren vor allem konfirmativ und ideologisch geprägt gewesen. 1958 trat das Erste Gleichberechtigungsgesetz in Kraft, 1962 folgte die Einführung des Zweitkindergelds. Erst ab den 1960er Jahren gab es eine Verwissenschaftlichung der Familienpolitik, 1968 wurde der erste Familienbericht veröffentlicht – vorher fehlten die Daten. Weitere Zäsuren rechtlicher Art folgten in den 1970ern. Das Erstkindergeld wurde 1977 eingeführt, 1979 gab es eine Ehe- und Scheidungsrechtreform. Außerdem wandelte sich das Eltern-Kind-Verhältnis von der elterlichen Gewalt hin zum Konzept der elterlichen Fürsorge.

In den 1980er Jahren sei ein “doppelter Blick” auf die Familie hinzugekommen: Familienarbeit wurde nun tendenziell anerkannt und in der Familienpolitik berücksichtigt. Mit dem Fünften Familienbericht in den 1990er Jahren wurde der Begriff des Humanvermögens eingeführt. Ab dem Jahr 2000 kam das Konzept paralleler Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinzu.

Eine Vielzahl von Interessensverbänden

Familienpolitik heute vereine eine Vielzahl von Akteuren, so Gerlach. Es gebe auf der einen Seite staatliche Akteure wie die EU, den Bund, die Länder und Gemeinden, gesellschaftliche Kräfte, die sich in Verbänden, Parteien oder Kirchen zusammenschließen, aber auch Einzelakteure, etwa in Stiftungen und Betrieben.

Die Instrumente der Familienpolitik verteilten sich auf drei Bereiche: Geld, Recht und Infrastruktur. Diese haben mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Bedarfsgerechtigkeit wie etwa die Sicherung des Existenzminimums, Chancengerechtigkeit wie etwa das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Eltern oder auch die Förderung von Kindern sowie die Leistungsgerechtigkeit. Im rechtlichen Bereich existieren zusätzlich Pflichten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Elterngeld, Mutterschutz) sowie weitere flankierende Normen wie etwa der gesetzliche Anspruch auf Kinderbetreuung oder die Förderung von Kindertagesstätten.

Die Ziele, die Familienpolitik heute verfolge seien: Nachhaltigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Partnerschaftlichkeit und die wirtschaftliche Stabilität von Familien. Dadurch soll es im Querschnitt zu einem Nachteilsausgleich der verschiedenen Familien kommen.

Die großen Herausforderungen zeigen sich dabei aktuell in drei Bereichen. Erstens in der Demografie, die wiederum Auswirkungen auf Sozialversicherung, Märkte und Fachkräfteangebot hat. Zweitens hinsichtlich der Armut, von der allem Familien und Alleinerziehende bedroht seien. Und drittens in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Pflege und Beruf.

Irene Gerlach skizzierte in ihrem Vortrag eine Reihe von Reformvorschlägen – zum einen innerhalb des bestehenden Systems (Kindergelderhöhungen. Freibeträge neujustieren, Kinderzuschlag reformieren, Einführung Kindergrundfreibetrag), zum anderen in einer Neugestaltung des bestehenden Systems (etwa diverse Kindergrundsicherungskonzepte).

Sie forderte vehement eine Abschaffung des Ehegattensplittings ein. Es sei für sie “völlig unverständlich, warum das immer noch nicht geschehen ist!” Hinsichtlich der Corona-Pandemie beklagte auch sie einen Anstieg in der Erschöpfung – sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern.

“Re-Traditionalisierung” in der Pandemie?

Jutta Allmendinger ging in ihrem Vortrag besonders auf die Rolle der Frauen ein, die im Zuge der Corona-Pandemie eine „Re-Traditionalisierung“ erfahren habe. Frauen seien überproportional mit Care-Arbeit belastet, so Allmendinger. Sie fordert, mehr über Grenzlasten zu sprechen. Während die Empirische Sozialforschung versuche, die Belastung durch Care-Arbeit in Stunden und Minuten umzurechnen, empfiehlt sie, den Aspekt der Verantwortung (Mental Load / Cognitive Load / Stress) mit einzubeziehen. Oft seien es die Frauen, denen die Gesamtorganisation des Haushalts obliegt: mit Homeschooling, Kinderbetreuung und – je nach Berufstätigkeit – auch Home-Office. Das “Mehr” das Männer nun in Lockdown-Zeiten leisten, gleiche das “Mehr” der Frauen nicht aus. Allmendinger fragte: “Wie viele Männer arbeiten eigentlich Teilzeit?”

Die These der Re-Traditionalisierung wurde von Irene Gerlach bezweifelt. Sie sieht dagegen eine “Bestätigung der vorhandenen Aufgabenteilung”, die in hohem Maße von der Arbeitsteilung in der Familie abhänge, wie sie schon vor Corona vorhanden gewesen sei.

A propos Home-Office: Allmendinger findet es bezeichnend, dass Frauen während des Lockdowns im “Home-Office” arbeiteten, während Männer verstärkt den Begriff “Mobiles Arbeiten” verwendeten. Die Unterschiede in den Arbeitswelten zwischen Männern und Frauen seien nach wie vor nicht überwunden: das zeigen Stundenlöhne und Gehälter, Rentenunterschiede, die Anzahl der Frauen in Führungspositionen, egal in welchen Sektoren oder Bereichen. Durch Corona seien weitere Spannungen entstanden: Es gebe diejenigen, die von zu Hause aus arbeiten könnten – und diejenigen, die das nicht können.

Sich abzulösen von dem “Entweder-Oder” des traditionellen Familienmodells (entweder Mutter sein und zu Hause bleiben oder keine Mutter sein und arbeiten gehen), das vor allem (und noch immer) im Westen der Bundesrepublik vorherrsche, sei eine der Grundvoraussetzungen, um das Dilemma zu lösen. Allmendinger kritisiert darüber hinaus die Zusammensetzung mancher Expertenkommissionen mit einem Durchschnittsalter von 63 Jahren als nicht repräsentativ.

Allmendinger fordert sofortige und strukturelle Änderungen, wie etwa Individualbesteuerung statt Ehegattensplitting, flexible Kinderbetreuungsangebote, eine 32-Stunden-Woche sowie längere und gleich verteilte Elternzeiten.

Familien sind systemrelevant

Wie groß die Bedeutung der Familie in Krisenzeiten ist und wo sie dringend Unterstützung braucht, zeigt die Corona-Pandemie überdeutlich. Als wirtschaftliche Corona-Maßnahmen für Familien nannte Juliane Seifert, Staatssekretärin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Kinderbonus, die Verdoppelung des Kinderkrankengeldes, sowie die Notbetreuung in Kitas und Schulen. Doch auch viele Unternehmen hätten sich familienfreundlich gezeigt. Drei Viertel der Eltern stießen beim Arbeitgeber auf Verständnis, viele Unternehmen zeigten sich innovationsfreudig. Etwa 7.800 Unternehmen traten der Initiative “Erfolgsfaktor Familie”  bei. So beschleunige die Pandemie eine familienbewusste Unternehmenskultur.

Doch darüber hinaus sind zahlreiche Anpassungen der Familienpolitik an den sozialen Wandel nötig. Für viele Familien sei die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch eine Zerreißprobe. Seifert wies auf bereits beschlossene Änderungen hin: das Kita-Gesetz sei umgesetzt, das Elterngeld reformiert, das Familienleistungsgesetz bündele verschiedene Leistungen. Die vielfältigen Modelle von Familie benötigten punktgenaue Unterstützung statt des Gießkannenprinzips. “Die Leistungen sollen einfach sein, aber die Familien werden immer bunter”.

Was jetzt anstehe, sei die Durchsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Der Entwurf liege vor, nun seien die Länder an der Reihe. Das Problem beim Thema Schule und Kita sei, dass hier das Familienministerium wegen der Länderzuständigkeit bei allen Leistungen “zwischen den Stühlen” säße. Man könne Gelder zur Verfügung stellen, aber keine konkreten Maßnahmen durchsetzen.

Eine weitere Hauptbaustelle der Familienpolitik ist die Reform der elterlichen Sorge und des Umgangsrechts nach Trennungen. Sie ist seit Jahren in Vorbereitung, aber noch nicht abgestimmt. Es bestehe in der Familienpolitik insgesamt die Tendenz, dass Väter und Mütter sich gleichermaßen um ihre Kinder kümmern möchten. An dieser Tendenz werde sich auch das Umgangsrecht orientieren.

Kinderrechte ins Grundgesetz

Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz steht bevor. Die Kindergrundsicherung soll allen Kindern die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Der Gesetzesentwurf wurde bereits eingebracht, die Beratungen laufen. Für die Durchsetzung ist eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig, da es sich um eine Verfassungsänderung handelt. Die SPD-Abgeordnete Susann Rüthrich betonte während der Online-Tagung, es gehe hier nicht nur um Schutz, sondern um den “Dreiklang Schutz, Beteiligung und Förderung”. Man müsse den Dogmatismus außen vor lassen, fügte der CDU-Abgeordnete Marcus Weinberg in der Diskussion hinzu. Jede Fraktion solle diesen ausgewogenen Entwurf unterstützen.

Geöffnete Schulen: viel mehr als nur ein Bildungsangebot

Wolfgang Thierse sagte, das Thema Bildung habe “auf eine fast unangenehme Weise in der Pandemie eine Aufwertung erhalten, die wir nicht vergessen sollten.” “Bildung ist immer noch nicht da angekommen, wo sie eigentlich sein müsste und Bildung der Kinder ist auch das Wohlergehen der Eltern!”, so drückte Jutta Allmendinger ihre Sorge gegenüber den geschlossenen Schulen während der Infektionswellen aus. Sie möchte wegkommen von den Schulschließungen und den Staat auffordern, sofortige Hilfsangebote für Alleinerziehende sowie Hilfe bei digitalem Unterricht anzubieten.

“Wir haben gesehen, was die Schließungen der Schulen mit den Kindern machen”, räumte auch Staatssekretärin Seifert mit Blick auf die psychosozialen Auswirkungen ein. Noch gebe es keine konkreten Zahlen, doch Depressivität, Einsamkeit und häusliche Gewalt nehmen zu. Das Ministerium bietet deshalb auch für Kinder und Jugendliche verstärkt Notruf-Hotlines an. Als weiteren Baustein zum Schutz von Kindern und Jugendlichen hat der Bundestag die Anpassung des Jugendschutzgesetzes an digitale Plattformen verabschiedet. Anbieter digitaler Plattformen werden somit zu konkreten Schutzmaßnahmen verpflichtet.

Die steigenden Infektionszahlen stellen eine Gefährdung für die Bevölkerung dar. Mit Schnell- und Selbsttests werde jetzt versucht, die Schulen und Kitas nach Möglichkeit offen zu halten. Wenn es ausreichend Tests gebe und sie gut verteilt werden, sei es möglich, Kinder, Familien,  Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher zu testen. Damit können Kitas und Schulen offen bleiben, zumindest im Wechselunterricht, so Seifert.

Systemrelevante Berufe sind vorwiegend weiblich

In „systemrelevanten“, schlecht bezahlten sozialen Berufen arbeiten vorwiegend Frauen als Erziehende und Pflegende. Die Arbeitsbedingungen sollen im Rahmen der „praxisintegrierten Ausbildung“ (PiA) verbessert werden. Bei dieser dualen Ausbildungsform fällt das Schulgeld weg, die Ausbildung wird von Anfang an vergütet. Das gelte auch für die Pflegeausbildung. Auch sollen weitere Karrieremöglichkeiten in diesen Berufen geschaffen werden.

Das nächste große Thema der Familienpolitik ist die Pflege. Sind die Kinder aus dem Haus, werden häufig die Großeltern pflegebedürftig. In der “Familienpflegezeit” können Pflegende bis zu zwei Jahre ihre Arbeitszeit um 50 Prozent verringern, bekommen aber 75 Prozent ihres Gehalts. Es gibt jedoch keinen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit.

Corona: kindliche Entwicklung lässt sich nicht verschieben

Zu Beginn der Pandemie schienen Kinder und Schule keine Rolle zu spielen. Die Ökonomie sei aber auch Grundlage für die Familien, so der CDU-Abgeordnete Marcus Weinberg. Das  Kurzarbeitergeld, das Infektionsschutzgesetz, das Kinderkrankentagegeld und die Notbetreuung hätten dazu beigetragen, die Not zu lindern. Jetzt müsse man vor allem auf die psychosozialen Folgen achten. Wie bringen wir die Menschen aus ihrer Einsamkeit? Darauf gibt es noch keine Antwort.

Wirklich gehört seien die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht worden, räumte SPD-Abgeordnete Susann Rüthrich ein. Während Virologen allabendlich in der Tagesschau zu sehen waren, musste man nach Pädagoginnen und Pädagogen suchen. Bestimmte Entwicklungsphasen lassen sich nicht einfach “verschieben” wie eine Abschlussfeier.

“Home-Office: man kann Kinder nicht nebenbei betreuen”

Corona hat gezeigt, wieviel Home-Office möglich ist. Doch auf der anderen Seite besteht die Gefahr von Ausbeutung. “Man kann Kinder nicht nebenbei betreuen”, so der Politiker Weinberg. Im Rahmen der Absprache innerhalb eines Betriebes sei Homeoffice sinnvoll, einen Anspruch darauf sehe die CDU-Fraktion indes problematisch. Der Arbeitsplatz müsse dann auch geschützt sein. Dem stimmte Rüthrich zu: Homeoffice dürfe keine Pflicht werden, es könne nur Wunsch von Arbeitnehmenden sein. Die ständige Verfügbarkeit gefährde auch hart erkämpfte Schutzstandards wie das Recht auf freie Arbeitszeit. Homeoffice könne die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern, wenn die Kinder betreut sind, es sei aber kein “Parallelbetrieb” möglich.

Trennungen und Scheidungen schaffen neue Familienmodelle

Im Chat wurde das Thema “Trennungsfamilien” heiß debattiert. Trennungsfamilien seien ein “hochkomplexes Thema”, so Staatssekretärin Seifert. Hintergründe, Wünsche und Bedürfnisse aller Beteiligten seien sehr unterschiedlich, und es gelte, zum Wohl des Kindes zu entscheiden.

Die Familiensoziologin Prof. Dr. Anja Steinbach nahm das Thema “Trennungsfamilien” genauer unter die Lupe. Die Diversität von Familien sei getrieben durch Trennung und Scheidung. In rechtlicher Hinsicht bestehe hier ein großes Defizit. Laut Mikrozensus stehen 70 Prozent „Kernfamilien“ (Mutter, Vater, Kind) 30 Prozent Trennungsfamilien gegenüber. Das gelte aber nur auf dem Papier. Denn der Mikrozensus spiegele nur die Angaben nach Haushalt. Kinder, die außerhalb eines Haushalts leben, würden nicht erfasst. Keine Statistik bilde die tatsächlichen Familienmodelle von heute ab. Die Definition von “Familie” habe sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Im Vordergrund stehe heute nicht mehr die Ehe, sondern die “Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren Generationen, die miteinander in der Mutter- und/oder Vaterbeziehung stehen und in einem gemeinsamen Haushalt leben können, aber nicht leben müssen”.

Nur jeder zweite Haushalt lebt das Ideal

Leitbild in Deutschland ist immer noch ist das bürgerliche Familienideal vom verheirateten Elternpaar, das mit seinen leiblichen Kindern gemeinsam lebt und wirtschaftet. Das entspreche aber nicht mehr der Realität, so Steinbach. Rechne man aus den 70 Prozent Kernfamilien unverheiratete Paare und jene Kinder heraus, die in anderen Haushalten lebten, käme man nur auf etwa 50 Prozent.

Wie groß die Unterschiede regional sein können, zeigt ein Blick auf den Osten. In Ostdeutschland leben deutlich mehr unverheiratete Kern- und Stieffamilien. Nur 60 Prozent der Stieffamilien mit Kindern sind verheiratet, in Kernfamilien sind es 75 Prozent. In Westdeutschland dagegen tragen 94 von 100 “Kerneltern” den Ehering. Diese Zahlen zeigen, dass es regional große Unterschiede in der Familienausgestaltung gibt und auch diese Familienmodelle gesehen werden müssen.

Who is who: Vier Eltern, acht Großeltern

Moderne Familienmodelle gehen meist aus Trennung oder Scheidung hervor. Die biologische und/oder soziale Verbundenheit zerfällt über die Haushaltsgrenze hinweg. Voll-,  Halb- und Stiefgeschwister leben in einem Haushalt, leibliche und soziale Eltern müssen sich koordinieren. In Stief-, Adoptiv- und Pflegefamilien müssen sich fremde Menschen aneinander gewöhnen und definieren, wer zur Familie gehört. Sind die Eltern des Stiefvaters die Großeltern? Die rechtliche Situation in solchen Konstellationen sei beispielsweise in Stieffamilien, gleichgeschlechtlichen Familien und nach künstlicher Befruchtung unklar, so Steinbach.

Plädoyer gegen traditionelle Arbeitsteilung

Die Soziologin empfahl, die Anreize für traditionelle Arbeitsteilung abzuschaffen. Das wichtigste Ziel der Familienpolitik sei die Gleichberechtigung im häuslichen Bereich, doch das “Zuverdienermodell” von Müttern sei immer noch sehr verbreitet: Nur ein Drittel der Mütter, aber 90 Prozent der Väter mit Kindern bis zu drei Jahren arbeiten. Die einzige Tätigkeit, die beide Eltern etwa zu gleichen Anteilen ausfüllten – aber auch nur am Wochenende –, sei das Spielen. Nach Trennung und Scheidung leben 84 Prozent der Kinder bei der Mutter, 7 Prozent beim Vater, 9 Prozent in Wechselmodellen. Knapp 60 Prozent der Kinder haben keinen oder nur selten Kontakt zum Vater. Wäre die Kinderbetreuung von Anfang an gleichberechtigt, würde dies bei Trennungen und Scheidungen zu einer ausgeglichenen Kinderbetreuung führen – was für Mütter, Väter und Kinder ein großer Vorteil wäre. Steinbach plädierte für die Abschaffung des Ernährermodells und des Ehegattensplittings, das nicht Familien, sondern Ehepaare unterstütze. Es brauche auch neue familienpolitische und rechtliche Grundlagen, wie beispielsweise die Stiefkindadoption.

Wandel bedeutet nicht Untergang

Steinbach stellte das “Wechselmodell” vor, bei dem getrennte Eltern ihre Kinder gleichberechtigt betreuen: die “asymmetrische” Variante geht bis zum Betreuungsverhältnis 30:70, die symmetrische Variante sieht eine Mutter-/Vaterbetreuung von 50:50 vor. Es gäbe also keine “Hauptresidenz” mehr. Das Kindschaftsrecht müsse hier deutlich nachgebessert und umgesetzt werden. Wandel bedeute nicht Untergang, betonte die Soziologin mit Bezug auf ein Zitat René Königs, nachzulesen im Wörterbuch der Soziologie aus dem Jahr 1955.

Gleichberechtige Arbeits- und Betreuungszeit von Anfang an hilft auch, Altersarmut zu vermeiden. Wie positiv sich die gleichberechtigte Kinderbetreuung auf Familien auswirke, könne man an den Fertilitätsraten ablesen. In Ländern wie Frankreich, Belgien und Schweden, in denen das gleichberechtigte Wechselmodell populär sei, sei die Fertilitätsrate deutlich höher als in Ländern mit traditionelleren Rollenkonzepten wie Deutschland, Italien, Schweiz.

Auch in der abschließenden Diskussionsrunde wurde das Thema “Wechselmodell” nochmals heiß diskutiert. Aus dem Chat wurde gefragt, warum die Reform der Betreuung immer noch auf Eis liege. Der Abgeordnete der CDU-Fraktion, Marcus Weinberg, sprach sich gegen die gesetzliche Implementierung des Wechselmodells aus. Dies sei eine Möglichkeit, die für bestimmte Konstellationen passe, aber es müssten noch detaillierte Fragen geklärt werden. In dieser Legislaturperiode werde es keine Reform des Familienrechts mehr geben.

Ehegattensplitting versus Familiensplitting

In der Schlussrunde mit den Abgeordneten Susann Rüthrich (SPD) und Marcus Weinberg (CDU), die beide als Eltern die aktuelle Familiensituation hautnah erleben, war viel Konsens zu hören. Beide Parteien wollen die Kinderarmut bekämpfen, die Kinderrechte und die Familien stärken. Die Wege dorthin unterscheiden sich jedoch.

Im Rahmen der sozialpolitischen Kindersicherung strebt die SPD eine gerechtere Verteilung der finanziellen Unterstützung an. Von Steuernachlässen profitieren wohlhabendere Familien mehr als weniger wohlhabende. Jedes Kind müsse dem Staat aber gleich viel wert sein, sagte die Kinderbeauftragte Susann Rüthrich. “Mit dem Ehegattensplitting begünstigen wir ein Familienmodell”, sprach sich die Abgeordnete für die Abschaffung oder Umwandlung des Ehegattensplittings aus. Die Familienleistungen müsse dorthin fließen, wo die Kinder seien. Es müsse zumindest Auswahlmöglichkeiten geben.

Marcus Weinberg, unverheirateter Vater zweier Kinder, sprach sich für das Familiensplitting als Weiterentwicklung des Ehegattensplittings aus. Er persönlich unterstütze das Modell des “Pro-Kopf-Familiensplittings”. Demnach wäre eine Mutter oder ein Vater mit drei Kindern ein Vierpersonenhaushalt. Sowohl Alleinerziehende als auch Familien mit vielen Kindern würden von diesem Modell profitieren. Das Ehegattensplitting müsse jedoch weiterbestehen.

Arbeitszeit ansparen

Die Familien müssen selbst entscheiden, wie sie ihre Aufgaben aufteilen. Der “Partnerschaftsbonus” wurde bereits modifiziert, doch es gelte Zeitmodelle mit langfristiger Wirkung zu schaffen, beispielsweise als “Zeitarbeitskonten”, so Weinberg. Diese könnten es ermöglichen, in bestimmten Lebensphasen “Zeit anzusparen” für Phasen, in denen man weniger arbeiten kann. Rüthrich begrüßte diese Vorstellung auch, war aber skeptisch, ob 50 oder 60 Wochenstunden realistisch seien. Sie sprach sich für eine Verlängerung des Partnerschaftsbonus aus, der nur für die Anfangsphase der Familie gelte. Auch der Anspruch auf hochwertige Nachmittagsbetreuung von Schulkindern müsse dringend geregelt werden.

Frauen in der “Sandwichsituation”

Der größte Teil der Pflege wird in der Familie erbracht, meist von Frauen. So könnten Frauen in einer Art “Sandwichsituation” von der Elternzeit direkt in die Pflegezeit rutschen. Der Anspruch auf eine Familienpflegezeit könne hier helfen, so Rüthrich. Noch muss die Familienpflegezeit vom Arbeitgeber genehmigt werden und gilt für maximal zwei Jahre. Weinberg fügte zur Familienpflegezeit hinzu, es müsse einen finanziellen Ausgleich sowie die Kombination mit professionellen Pflegekräften geben.

Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen

Kinderarmut ist in der Regel die Armut der Eltern. Die Kindergrundsicherung macht Kinder unabhängig von der Situation der Eltern. Denn eine Kindheit sei “locker rum, bis man über das Einkommen der Eltern die Situation im Haushalt verbessert hat”, argumentierte Rüthrich.

Dagegen wird häufig argumentiert: Wenn Eltern keine Arbeitsanreize haben, kommen sie nicht aus der Arbeitslosigkeit. Ist die Kindergrundsicherung jedoch einkommensgestaffelt, sollte das nicht der Fall sein. “Wir möchten, dass Kinder für sich eine Absicherung haben”, betonte Rüthrich. “Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen.”

Gegen die Zusammenfassung aller Leistungen in der Kindergrundsicherung äußerte Weinberg: die Zielgenauigkeit und Bedarfsorientierung der Leistungen gingen durch die Pauschalierung verloren. Vielleicht könne man einzelne Leistungen zu kleineren Päckchen schnüren. Rüthrich konterte, dass die “zielgenauen” Einzelleistungen häufig per se so klein seien, dass die Eltern den Aufwand nicht betreiben. Bürokratie kostet Kraft und Nerven, auch spielt Scham immer noch eine Rolle. Zum Thema “Zielgenauigkeit”: es geht bei der Kindergrundsicherung um den Mindestbedarf. Zusätzliche Extras könne man zusätzlich beantragen.

Valerie Neher / Dorothea Grass

Bild: Politische Gesprächsrunde im Politischen Club mit Udo Hahn, Dr. Wolfgang Thierse, Susann Rüthrich (SPD) und Marcus Weinberg (CDU) (Screenshot: eat archiv)

Hinweis: Die Mitschnitte der Vorträge und Debatten zur Frühjahrstagung des Politischen Clubs können Sie auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing abrufen.

Jutta Allmendinger

“Es gibt nicht die Familie”, sagte Prof. Dr. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ging in ihrem Vortrag besonders auf die Rolle der Frauen ein, die im Zuge der Corona-Pandemie eine “Re-Traditionalisierung” erfahren habe.

→ Hier können Sie den Mitschnitt des Vortrags von Prof. Dr. Jutta Allmendinger und die anschließende Debatte abrufen. (Link zu YouTube)

Prof. Anja Steinbach

Das wichtigste Ziel, das für Familien erreicht werden muss, ist die “second half of a gender revolution”. Prof. Dr. Anja Steinbach in ihrem Vortrag zu “Veränderungen in Verständnis und Praxis von Familie”.

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Irene Gerlach

Familienpolitik muss unbedingt mit arbeitsmarktpolitischen Aspekten verknüpft werden, meint Prof. Dr. Irene Gerlach. (Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik Bochum)

Juliane Seifert

“Wir wollen verhindern, dass die Schulen wieder schließen”, Staatssekretärin Juliane Seifert sprach sich im Politischen Club der der Evangelischen Akademie Tutzing für Schnelltests und Selbsttests an Kitas und Schulen aus. Hierfür brauche es Konzepte.

→ Hier können Sie den Mitschnitt des Vortrags von Staatssekretärin Juliane Seifert und die anschließende Debatte abrufen. (Link zu YouTube)

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