Zwischen Polarisierung und Deradikalisierung

Die Zwischenwahlen in den USA am 8. November 2022 waren das Thema unserer Podiumsdebatte mit dem Politikwissenschaftler Dr. Tobias Endler und Stefan Kornelius, Leiter des Ressorts Politik der Süddeutschen Zeitung. Unter der Moderation von Akademiedirektor Udo Hahn ging es um die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft und ihre Ursachen, die Rolle der Medien, die Eigenheiten des US-Wahlsystems und Zukunftsaussichten.

Zum Video-Mitschnitt der Veranstaltung (YouTube-Link)

Jeweils zur Mitte der vierjährigen Amtsperiode eines US-Präsidenten finden die Zwischenwahlen statt. Dabei werden ein Drittel der Senatoren und das gesamte Repräsentantenhaus neu gewählt. Auch ein Teil der US-Gouverneure sowie die Zusammensetzung der Parlamente der meisten US-Bundesstaaten werden zu diesem Anlass neu bestimmt. Über die “Midterms” vom 8. November diskutierte Akademiedirektor Udo Hahn am 22. November in der Rotunde der Evangelischen Akademie Tutzing mit zwei Experten zum Thema US-Politik: dem Politikwissenschaftler Dr. Tobias Endler und dem Journalisten Stefan Kornelius, der das Politik-Ressort der Süddeutschen Zeitung leitet (mehr zur Veranstaltung hier).

Die amerikanische Gesellschaft, die auch schon zu den US-Präsidentschaftswahlkämpfen 2016 und 2020 eine tiefe Spaltung offenbart hat, erscheint 2022 zerrissener denn je. Die Zwischenwahlen konnten daran nichts ändern, auch wenn das Endergebnis erst am 6. Dezember feststehen wird.

Es gilt fast als gegeben, dass der US-Präsident zu den Zwischenwahlen einen “Denkzettel” verpasst bekommt. Politikwissenschaftler Tobias Endler sprach von einer “spiegelverkehrten Verschiebung der Machtverhältnisse”. Die erwartete “rote Welle” – eine große Mehrheit für die Republikaner in beiden Kammern des Parlaments – ist in diesem Jahr dennoch ausgeblieben. Nach der Niederlage im Senat konnten die Konservativen im Repräsentantenhaus eine Mehrheit erringen. Die Aussichten der Demokraten sind trotzdem nicht rosig. Durch den Verlust der Mehrheit im Repräsentantenhaus wird das Regieren für Präsident Joe Biden schwieriger werden.

Trend zu Deradikalisierung und Common Sense

Dass die Wahlprognosen so vom vorläufigen Ergebnis abweichen, liegt in den Augen des Journalisten Stefan Kornelius auch an anderen Methoden zur Erstellung von Umfragen bzw. auch an den Menschen selbst, die sich in Umfragen nicht offen zu ihrer Meinung bekennen. Ein weiterer Punkt sei eine Verzerrung der öffentlichen Meinung in den Medien, die sich an einem Scheitelpunkt der Radikalität befänden. Kornelius beobachtet aber auch einen Trend zur Deradikalisierung.

Tobias Endler berichtete gar von einem “Trend zum Common Sense”. Die Wählerinnen und Wähler in den USA würden nach den Erfahrungen mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump doch wieder genauer hinschauen, wie etwa der Wahlkampf zwischen dem früheren Sozialarbeiter und Footballspieler John Fetterman gegen seinen republikanischen Widersacher Mehmet Oz im umkämpften US-Bundesstaat Pennsylvania zeigte. Fetterman konnte den Senatssitz für die Demokraten gewinnen – und sich gegen den Fernseharzt “Dr. Oz” durchsetzen, der sich etwa gegen ein bundesweit geregeltes Recht auf Abtreibung ausgesprochen hatte, das sei Sache der Bundesstaaten. (Dieses Recht, das durch die Grundsatzentscheidung Roe v. Wade galt, war erst in diesem Sommer gekippt worden.) Donald Trump hatte zu den Unterstützern von Mehmet Oz in diesem Wahlkampf gehört.

Auch das eine Lehre, die sowohl Kornelius als auch Endler aus der Wahl zogen: Die Midterms als Schlappe für Donald Trump. Schließlich habe keiner der Kandidatinnen und Kandidaten, die Trump unterstützt hatte, einen Wahlsieg verbuchen können. Zugleich dürfe man sich auch nicht täuschen: Innerhalb der republikanischen Partei könne der frühere Präsident Trump noch immer zu 80 Prozent mit Zustimmung rechnen – wohl aber auch, weil die Republikaner als Partei zu schwach seien, um Trump gemeinschaftlich zu verhindern. Nicht absehbar ist bislang, wie erfolgreich Trumps innerparteiliche Konkurrenten sein werden – und ob sie sich gegen ihn durchsetzen können. Einer könnte der Gouverneur des Bundesstaates Florida, Ron DeSantis, sein. Er gilt nicht nur als Trump-Konkurrent und Hardliner von Rechtsaußen. Viele nennen ihn auch “Trump with Brain” – Trump mit Hirn. Denkbar sei auch, dass Trump als unabhängiger Kandidat antreten könnte – im Falle, dass er in seiner Partei keine Mehrheit findet, so Stefan Kornelius.

Denkbares Szenario für 2024: “eine Schlacht von gestern”

Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, bereits bis Weihnachten eine Entscheidung zu treffen, ob er 2024 wieder bei den Präsidentschaftswahlen antritt, könnte für eine erneute Kandidatur von Donald Trump für die Republikaner sprechen. Eine Wiederholung des Duells Biden-Trump – oder wie Journalist Kornelius sagte: “eine Schlacht von gestern” – ist für 2024 also durchaus denkbar.

Gesellschaftlich ist das Land tief gespalten. Die Gründe für die Polarisierung finden sich etwa in dem Wahlsystem (“The winner takes it all”-Prinzip), in den zum Teil bizarren Zuschnitten von Wahlkreisen, im politischen System, das im völligen Gegensatz zur deutschen Kultur des Kompromisses (Koalitionen) steht, in den Kulturkämpfen wie zum Beispiel um Bildungsinhalte, Abtreibungsgesetze oder den Umgang mit Rassismus und mit marginalisierten Gruppen. Die Bandbreite der politischen Meinungen gehe auch innerhalb der beiden großen Parteien stark auseinander und führe laut Tobias Endler dazu, dass in den Parteien die “alte Idee der Polarisierung in vielerlei Hinsicht aufbricht”. Hier liege auch eine Chance, etwa dann, wenn sich zu spezifischen Themen parteiübergreifende Koalitionen bilden.

Hinzu kommt, dass das Vertrauen in rechtsstaatliche Prinzipien in den vergangenen Jahrzehnten stark gelitten hat. Oft würden juristische Sachverhalte am Ende politisch entschieden. Stefan Kornelius bezeichnete es als eine “inhärente Ungerechtigkeit, die dem US-System innewohnt” und nannte dazu auch Beispiele aus der Vergangenheit wie etwa das Impeachment-Verfahren gegen Bill Clinton oder auch den Wahlkampf zwischen Al Gore und George W. Bush im Jahr 2000. Fünf Wochen nach der Wahl am 7. November 2000, bis zum 12. Dezember, hatte es damals gedauert, bis der Sieger der US-Präsidentschaftswahlen feststand. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten machte durch ein Urteil George W. Bush zum Gewinner und Al Gore zum Verlierer – entgegen der Verteilung der Wählerstimmen. Hier offenbart sich, welchen Einfluss die politische Besetzung des Supreme Court auf den Ausgang einer Wahl haben kann.

Zukunftsweisende US-Bundesstaaten: Kalifornien, Texas, Florida

Gesellschaftlich zeige sich die Polarisierung in einem “Kampf um Meinungs- und Deutungshoheit”, so Politikwissenschaftler und USA-Experte Endler. Er empfahl, sich drei US-Bundesstaaten in Zukunft genauer anzusehen, weil hier zukunftsweisende Entwicklungen stattfinden: Kalifornien, Texas und Florida. In Letztgenanntem, dem “Sunshine State”, teste Gouverneur Ron DeSantis momentan die Grenzen nach rechts aus und spiele “neue Sachen in aller Radikalität” durch. Kalifornien dagegen ist der Bundesstaat, der durch ein extrem hohes Bruttoinlandsprodukt auf sich aufmerksam macht und der einen Mindestlohn von 15 Dollar zahle, der aber auch zugleich momentan viel Abwanderung verzeichne, weil sich viele Menschen das Leben vor Ort nicht mehr leisten können. Als Zuwanderstaat profitiert hier zum Beispiel Texas. Dort beträgt der Mindestlohn zwar nur sieben Dollar, aber es gebe keine Einkommenssteuer und auch Eigenheime seien hier zu erschwinglichen Preisen zu haben.

Auch mit dem deutsch-amerikanischen Verhältnis beschäftigte sich das Podium. Dabei kam etwa die Sicherheitspolitik zur Sprache. Endler sieht ungleiche Abhängigkeitsverhältnisse und Joe Biden als “letzten echten Transatlantiker”. Die Bereitschaft der USA, sich in Zukunft transatlantisch zu engagieren, werde sich zunehmend verringern. Auch Stefan Kornelius sieht die Frage des “Burden Sharing” innerhalb der Nato nicht als geklärt. Hier seien alte Klüfte weiterhin vorhanden. Die “Zeitenwende”-Politik werde eher mit Resignation beobachtet. Er sieht darüber hinaus kulturelle Vorbehalte, momentan etwa die “Moralisierung in der Außenpolitik” durch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die kritisch gesehen werde. Jedoch sei Deutschland im Vergleich zu den USA zur Kompromissfähigkeit gezwungen und habe durch die große Vielfalt in der Medienlandschaft Vorteile.

Dorothea Grass

Buchtipps:
Von Dr. Tobias Endler ist aktuell das Buch “Demokratie und Streit. Der Diskurs der Progressiven in den USA: Vorbild für Deutschland?” im Halem-Verlag erschienen. Darin finden sich auf 208 Seiten “Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses”.

Im Gespräch empfahl Tobias Endler ein weiteres Buch: “Wie Demokratien sterben” von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt.

Hinweis:
Wir werden in Kürze einen Video-Mitschnitt des Podiumsgesprächs auf dem YouTube-Kanal unserer Akademie veröffentlichen.

Bild: Die Protagonisten der Podiumsdebatte “Gespaltene USA – miteinander streiten lernen” am 22. November 2022 (von links): Stefan Kornelius, Leiter des Ressorts Politik der Süddeutschen Zeitung, Politikwissenschaftler Dr. Tobias Endler und Akademiedirektor Udo Hahn (Foto: dgr/eat archiv).

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