Auszeichnung für einen “Mutbürger”

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist vom Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing mit dem “Freundeskreiszeichen” geehrt worden. In seiner Laudatio hob Akademiedirektor Udo Hahn die Leistung des langjährigen Leiters des Politischen Clubs hervor, der gleichzeitig in dem Festakt in dieser Funktion verabschiedet wurde.

(Bildergalerie und vollständige Reden am Ende des Texts)

Er fühle “fast ein bisschen Abschiedsschmerz”, sagte Wolfgang Thierse vor dem Festpublikum im Musiksaal der Akademie. In den vergangenen sechs Jahren hatte er das älteste Tagungsformat der Akademie geleitet: den Politischen Club. Dreimal im Jahr, im Frühjahr, Sommer und Herbst, hatte er Expertinnen und Experten aus Politik und Wissenschaft in die Evangelische Akademie Tutzing eingeladen, um dort mit dem Tagungspublikum die Fragen des politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehens zu thematisieren und zu diskutieren.

Dass das Ende seiner Tätigkeit als Leiter des Politischen Clubs mit der Ehrung des Freundeskreises der Akademie zusammenfiel, ist der Pandemie geschuldet. Schon 2020 hatte der Freundeskreis Wolfgang Thierse mit der vom Bildhauer Helmut Amman geschaffenen Bronzeplastik auszeichnen wollen, was durch die jeweils geltenden Kontaktbeschränkungen aufgrund von Corona nicht möglich gewesen war. Nun konnte die Verleihung im festlichen Rahmen stattfinden – eingebettet in den “Akademietag”, zu dem der Freundeskreis seine Mitglieder anlässlich des 75-jährigen Akademiebestehens eingeladen hatte.

Aus allen Ecken Bayerns waren sie nach Tutzing gekommen: von Aschaffenburg bis Rosenheim, von Bayreuth bis Kempten, von Kaufbeuren bis Passau. Aus Weiden traf ein ganzer Bus ein. Die bequemste Anreise hatten die Tutzinger Mitglieder – und auch sie strömten bei schönstem Sommerwetter zahlreich ins Schloss.

Festakt als krönender Abschluss des “Akademietages”

In seinem Vortrag zum Thema “Denken ins Offene – an einem Ort mit Vergangenheit” ging Akademiedirektor Udo Hahn nicht nur die Geschichte des Schlosses ein und ließ seine wechselnden Besitzer Revue passieren, sondern informierte auch über den heutigen Bildungsauftrag der Akademie. Im Anschluss daran sorgte die Band “Swinging G´s” mit Songs von Count Basie, Duke Ellington, Benny Goodman und Glenn Miller für Swing-Stimmung im Park.

Die Verleihung des Freundeskreiszeichens an Wolfgang Thierse bildete den krönenden Abschluss des Sommertages. In ihrer Begrüßungsrede gab die Vorsitzende des Freundeskreises, Brigitte Grande, ihrer Freude über das Kommen Wolfgang Thierses Ausdruck. Seit 73 Jahren unterstütze der Freundeskreis nun schon die Bildungsarbeit der Akademie, überall in Bayern laden ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bürger “zu Vorträgen und Diskussionsabenden ein, ermöglichen Meinungsbildung, knüpfen Netzwerke, zetteln Debatten an und begeistern auch andere Bürger immer wieder für gesellschaftliches Engagement.” Diese Leidenschaft sei bisher ungebrochen und werde immer wieder neu entfacht, “weil wir auf unserem Weg immer wieder von klugen Menschen mit neuen Impulsen, hilfreicher Expertise und Zuspruch unterstützt und ermutigt werden.” Damit meinte Brigitte Grande: Menschen wie Wolfgang Thierse.

Mit dem Freundeskreiszeichen ehrt der Verein “verdiente Mitglieder und Persönlichkeiten, die mit ihrer Arbeit und ihrer Lebenshaltung verkörpern, wofür der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing steht: Meinungsbildung ermöglichen, zum Engagement für die Gesellschaft ermutigen, Zivilgesellschaft und Demokratie stärken.”

“Prototyp des informierten Bürgers”

All dies, so Brigitte Grande, verkörpere Wolfgang Thierse in seiner Arbeit und Lebenshaltung, mit seinem “großen Wissen und immer schonungslosen Nachdenken, mutig argumentierend, leuchtend von Erfahrung und jung im Herzen.”

In seiner Laudatio bezeichnete Akademiedirektor Udo Hahn Wolfgang Thierse als “Mutbürger” und “Prototyp des informierten Bürgers, der sich einbringt und einmischt, der das Verbindende und Gemeinsame sucht.” Unsere Gesellschaft brauche Menschen wie Thierse, sagte Hahn. “Ihr Forum war und ist die Politik, der kirchliche Raum und der mediale Marktplatz der Meinungen. Verantwortung übernehmen und Handeln aus einer vom christlichen Glauben geprägten Haltung.”

Das Freundeskreiszeichen sei eine Würdigung dieses Engagements. In den fast zwanzig Tagungen des Politischen Clubs mit Wolfgang Thierse, habe sich gut studieren lassen können, was eine gute Diskurs- und Debattenkultur ausmache, so Hahn. Dazu gehören auch die Lust am Streit, die es mitunter brauche. “Sie verkörpern die Idee der Salonkultur als gesellschaftlichen Treffpunkt für Diskussionen. Ihr Interesse am anderen, Ihre Neugier, mehr zu erfahren, besser zu verstehen – damit haben Sie dem Politischen Club eine individuelle Note gegeben und – wie Ihre Vorgänger und Vorgängerinnen im Amt – ihn zu einem besonderen Tagungsformat unseres Hauses gemacht.” Der Staffelstab werde nun weitergereicht – an wen, werde man in Kürze bekanntgeben, sagte Udo Hahn.

Wolfgang Thierse nahm die Ehrung mit sichtbarer Freude entgegen und scherzte: “Auch eine Laudatio muss man ertragen können.” In seiner Zeit als Leiter des Politischen Clubs habe er selbst am meisten gelernt und festgestellt: “Es geht um mehr als politische Bildung, es geht um das Zusammenfinden”. Institutionen wie den Politischen Club sieht er als wichtige Instrumente der Demokratie – erst recht in einer Zeit der Krisen wie aktuell. Ernst wurde er in einer Analyse der Debatte um die Impfpflicht. Nicht, dass es Streit gegeben habe, hätte er beunruhigend gefunden, sondern das im Streit oft geäußerte Verständnis von Freiheit.

Für ein “neues Ethos gemeinschaftlichen Handelns”

“Freiheit kann nur gelebt werden mit Blick auf die anderen.”, sagte Thierse. Er kritisierte das individualistische Freiheitsverständnis von Impfgegnerinnen und Impfgegnern und fragte “Wie wollen wir mit einem so individualistischen Freiheitsverständnis die Pandemie meistern, die Ukraine-Krise und die noch viel größeren Herausforderungen der Klimakrise?” Freiheit sei die vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit pragmatischen Handelns. Er sprach sich für ein “neues Ethos gemeinschaftlichen Handelns” aus und zitierte am Ende Christoph Möllers, Rechtsphilosoph an der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser hatte in seinem Buch “Freiheitsgrade” geschrieben: “Es gibt keinen Primat der individuellen vor der gemeinschaftlichen Freiheit, schon weil sich auch Individualität nur als soziales Phänomen beschreiben lässt, noch dazu als eines, das sich nicht alle wünschen.”

Dorothea Grass

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(Alle Bilder: Oryk Haist / Evangelische Akademie Tutzing)

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