„Wir können nicht alles kontrollieren“

Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, widerspricht im RotundeTalk Äußerungen, nach denen die Corona-Pandemie eine „Strafe Gottes“ sei. Mit diesem Motiv sei in der Geschichte schon genug Schindluder getrieben worden.

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„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Nein, dieser Satz stammt nicht von einer Pfarrerin oder einem Theologen, sondern von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Diesen nachdenklichen Ton schlug er im April in einer Regierungsbefragung zur Corona-Pandemie im Deutschen Bundestag an. Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat ihn jetzt im „RotundeTalk“ der Evangelischen Akademie Tutzing aufgegriffen. Was richtig und was falsch sei, lasse sich nicht immer aus der Situation heraus bestimmen. „Hinterher sind wir immer klüger“, so Anselm.

Wer Antworten geben soll, muss genau hinschauen. Wie das geht, kann man im Gespräch mit Reiner Anselm, der auch Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, lernen. Dass in der Hochphase der Pandemie keine Gottesdienste gefeiert werden durften, hält er für richtig. Schließlich sollten die Risiken der Ansteckung reduziert werden. Dass dann Baumärkte geöffnet wurden, es aber beim Verbot der Gottesdienste blieb, hat auch ihn irritiert. Das Besuchsverbot in Altenheimen sei richtig gewesen. Gott sei Dank gebe es keinen Fall, in dem ein Seelsorger das Virus eingeschleppt hätte.

Dass die Kirchen in der Corona-Krise nicht vernehmbar gewesen seien, diesen Vorwurf hält Reiner Anselm für überzogen. „Es ist schon eine komische Erwartung, als ob die Kirche auf allen Kanälen präsent sein könnte.“ Er verstehe aber die Menschen, die auch von den Kirchen eine Einordnung erhofften. Ob diese deshalb systemrelevant sind? Die Frage ist aus seiner Sicht falsch gestellt. In einer komplexen Gesellschaft sei jeder Bereich wichtig. „Die Kirche ist unverzichtbar – sie unterscheidet sich darin nicht vom Gemüsehändler.“

Und wie ordnet der Theologieprofessor Corona ein? „Eine schwierige Frage“, beginnt Anselm. Die Pandemie als „Strafe Gottes“ zu werten, lehnt er ab. Damit sei in der Geschichte viel Schindluder getrieben worden. Und Verschwörungstheoretiker bedienten sich genau dieses Motivs. Offensichtlich sei aber, dass der Mensch weit in die Lebensräume von Wildtieren eingedrungen sei und die Mobilität ausgeweitet habe. Dies bleibe nicht ohne Folgen.

Corona ist für den Theologieprofessor ein Hinweis, „dass wir nicht alles in der Hand haben“. Und: „Wir können nicht alles kontrollieren.“ Leben sei schon immer gefährdet gewesen. Die christliche Tradition rate dazu, gottesfürchtig und demütig zu sein. Gewissheit und Gelassenheit könne man gewinnen, wenn man sich drei Prinzipien des christlichen Glaubens vor Augen führe: Selbstvertrauen – der Mensch ist anpassungsfähig und kann die Welt gestalten. Selbstbeschränkung – auch andere können Recht haben. Lern- und Kritikfähigkeit – sich selbst und anderen vergeben.

Und die Welt nach Corona? „Sie wird genauso sein wie vorher“, prognostiziert Reiner Anselm. Und fügt hinzu, dies solle nicht defätistisch klingen. Natürlich habe auch er die Hoffnung, dass die Welt solidarischer, sozialer, ökologischer werde – schließlich gebe es immer Verbesserungsbedarf. „Aber jeder weiß, der Alltag kehrt wieder ein – und damit auch die alten Mechanismen.“

Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing

Das vollständige Interview mit Prof. Dr. Reiner Anselm ist auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing (#EATutzing) abrufbar.

Bild: Prof. Dr. Reiner Anselm, im Park der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: ma/eat archiv)

Interview in der Rotunde der Akademie: Reiner Anselm und Akademiedirektor Udo Hahn (Foto: ma/eat archiv)

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