Tagungsbericht “Demokratien und Diktaturen”

Wie sollen Demokratien mit Diktaturen umgehen? Wie kann in Zeiten globaler Krisen ein vernünftiges Verhältnis zwischen beiden Seiten hergestellt werden? Welche Fehler aus der Vergangenheit gilt es zu vermeiden? Diesen Fragen widmete sich die Sommertagung des Politischen Clubs vom 16. bis 18. Juni 2023 unter der Leitung von Roger de Weck. Hier lesen Sie den ausführlichen Bericht.

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Videos der Reden von Annette Schavan und Wolfgang Thierse hier abrufbar.

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Seine dritte Tagung als Leiter des Politischen Clubs widmete der Autor und Publizist Roger de Weck gemeinsam mit Akademiedirektor Pfr. Udo Hahn der Frage nach den Beziehungen zwischen demokratischen und autokratischen bzw. totalitären Staaten. Die Tagung “Demokratien und Diktaturen: Wie viel Kooperation, wie viel Konfrontation?”, die vom 16. bis 18. Juni 2023 in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand, setzte insbesondere Länder wie China, Russland, die USA und Deutschland, aber auch die Europäische Union oder Saudi-Arabien in den Fokus (zum Programm).

In seiner Einführung zum Thema der Tagung verwies Dr. h.c. mult. Roger de Weck auf die weltweit beobachtbare Entwicklung der Autokratisierung: Die Zahl der demokratischen Länder ist seit einigen Jahren rückläufig, die Zahl autokratischer und totalitärer Staaten hingegen steigt an. Die Demokratien sind dabei in einer prekären Situation: So werden sie nicht nur von den Staaten, in denen keine Demokratie herrscht, von außen bedrängt, sondern auch von autokratischen Tendenzen innerhalb der eigenen Gesellschaft. In der globalisierten und vernetzten Welt von heute sei es jedoch nahezu unmöglich, dass sich Demokratien von Diktaturen abschotten können. Insbesondere aufgrund global auftretender Probleme wie der Klimakrise sei es entscheidend, dass Demokratien und Diktaturen einen Modus der Zusammenarbeit fänden. Hier verwies de Weck auf Egon Bahr, der vor fast genau 60 Jahren, ebenfalls auf einer Tagung des Politischen Clubs, das Prinzip “Wandel durch Annäherung” vorgestellt und so mitten im Kalten Krieg ein Konzept zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und den Ländern des Ostblocks auf den Weg brachte. Das daraus abgeleitete, in heutiger Zeit gültige Prinzip “Wandel durch Handel” sei jedoch unter erheblichen Anpassungsruck geraten. Nicht nur die autoritären Staaten hätten sich gewandelt, sondern auch die Demokratien. De Weck forderte eine Modernisierung der Demokratien, damit sie wieder ihre Werte glaubhaft ausstrahlen können.

Den Impuls zum Tagungsauftakt lieferte Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a. D. und früherer Leiter des Politischen Clubs (in. In seinem biografisch geprägten Vortrag ließ er seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse der Nachkriegszeit und seiner Zeit als DDR-Bürger einfließen und ging auf die Entspannungspolitik ein, die auf Egon Bahrs Leitsatz “Wandel durch Annäherung” folgte (hier Thierses Rede im Manuskript nachlesen). Ausgehend von diesen Erfahrungen formulierte er sechs persönliche Lehrsätze zum Thema “Demokratie und Diktatur”: Erstens sei die Befreiung von den Nationalsozialisten ohne eine totale Niederlage des Dritten Reiches nicht möglich gewesen, zweitens müsse man Diktaturen bereits vor ihrer Installation bekämpfen, drittens sei die Gefahr, dass sich eine Demokratie in eine Diktatur wandelt, inhärenter Bestandteil demokratischer Systeme (vgl. Böckenförde-Diktum), viertens habe die Appeasement-Politik um des Friedens willen nicht funktioniert, fünftens gelte das Gebot, Menschen, die von diktatorischen Regimen verfolgt oder unterdrückt werden, Hilfs- und Aufnahmebereitschaft zu zeigen und sechstens existiere ein fundamentaler Zusammenhang zwischen Freiheit und Gerechtigkeit.

Scheitern der Reformpolitik war “unser Glück”

Die DDR, in der Thierse (geb. 1943 in Breslau) aufgewachsen ist, beschreibt er selbst als einen von der Sowjetunion abgeleiteten Diktaturversuch, der zwar keine Eigenständigkeit besessen habe, dafür aber eine “erstaunliche Stabilität”. Der Zusammenbruch der DDR sei nicht gesetzt oder vorhersehbar gewesen. Vielmehr sei die DDR aufgrund externer und interner Faktoren, aber auch aufgrund des Scheiterns der Reformpolitik von Gorbatschow kollabiert. Dieses Scheitern bezeichnete Thierse als “unser Glück”.

Der ehemalige Bundestagspräsident erzählte aber auch von persönlichen Enttäuschungen, die er oder die Menschen in den früheren Ostblockstaaten erfahren hatten. So sei die sozialdemokratische Ostpolitik zu stabilitäts-, zu sicherheitsfokussiert auf Moskau fixiert gewesen. Die Oppositionellen und Menschen in diesen Ländern seien nicht priorisiert worden. Die Aufständischen in Ungarn 1956 habe man sich selbst überlassen, den Mauerbau 1961 einfach hingenommen.

Überwindung der Teilung durch Entspannungspolitik

Dass die westdeutsche Ost- und Entspannungspolitik erfolgreich war, lag laut Thierse an mehreren Faktoren: Erstens war sie “eingebettet in die westliche Politik, die Strategie von Kennedy über Kissinger”, zweitens hatte sie die westliche militärische und wirtschaftliche Stärke zur Grundlage, “vor allem das Abschreckungspotenzial der USA”, drittens besaß der Westen etwas, was sich heute als “Softpower” bezeichnen lassen könnte, nämlich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand und viertens waren die inneren Widersprüche in der sowjetischen Gesellschaft und Politik zu groß. “Aus diesen Gründen mindestens konnte die Entspannungspolitik gelingen”, sagte Thierse. Sie ermöglichte eine Überwindung der Teilung.

Heute scheint der Westen geschwächt, die liberale Demokratie befinde sich auf dem Rückzug, so Thierse. Dabei stehe sie gerade jetzt vor einer großen Herausforderung: Sie muss sich in den Krisen der Welt bewähren. Dies verlange viel von Politik und Zivilgesellschaft, so unter anderem viel mehr Solidarität und die Überwindung von Egoismus- und Individualgesellschaft.

Nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine werde der Westen nicht nur die Verpflichtung haben, die Ukraine beim Wiederaufbau des Landes zu unterstützen, sondern auch Russland bei den notwendigen Modernisierungsprozessen zur Seite zu stehen.

Der zweite Tag der Tagung wurde eingeläutet mit einem Gespräch zwischen der Journalistin und Radiomoderatorin Sybille Giel und dem Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorsitzenden des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm. Das Thema: “Der Weltkirchenrat und die Weltpolitik – Erfahrungen und Perspektiven”. Zuvorderst erläuterte Bedford-Strohm die Organisation und Funktion des Ökumenischen Rates der Kirchen. Ausgehend von seinen Erfahrungen forderte er, dass das “Provinz-Kirchentum überwunden werden muss”. Vielmehr müsse man sich “als Weltkirche verstehen”.

Die Haltung der russisch-orthodoxen Kirche zum Ukrainekrieg

Thematisiert wurde auch die Haltung des Weltkirchenrates gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche. So erzählte Bedford-Strohm, dass es im Vorfeld der letzten Vollversammlung 2022 in Karlsruhe lange Zeit fraglich war, ob die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche eingeladen werden sollten. Von so einer Entscheidung sei man aber schlussendlich abgerückt, um die Gesprächskanäle offen zu halten.

Zu seiner positiven Überraschung wurde der Angriffskrieg Russland in der Ukraine bei einer gemeinsamen Erklärung auch von den Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche als unmoralisch und illegitim verurteilt. Man müsse sich, so Bedford-Strohm, immer wieder in Erinnerung rufen, dass “Kyrill nicht die orthodoxe Kirche ist”. In persönlichen Gesprächen mit Vertretern dieser Religion erlebe er viel Nachdenklichkeit.

Zum Thema des Ukraine-Krieges betonte er, dass man Perspektiven bräuchte für die Zeit nach dem Krieg. Eine Re-Education, wie es sie in der Nachkriegszeit in Deutschland gab, könne es seiner Meinung nach in Russland nicht geben.

Auch der schwierige Umgang des Weltkirchenrates mit Staaten wie China, Ägypten oder Myanmar wurde im Gespräch thematisiert. So könnten bestimmte Themen nicht in Erklärungen des Weltkirchenrates angesprochen werden, da zu befürchten sei, dass sich die Vertreter aus diesen Ländern der Gefahr staatlicher Repression ausgesetzt sähen. “Man muss ihnen helfen, ohne ihnen zu schaden und ohne plakativ zu sein”, so Bedford-Strohm.

Als weiterer Referent war der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Werner Sinn eingeladen. In seinem Vortrag, der den Titel “Zielkonflikte zwischen Politik und Wirtschaft” trug, ging er auf den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ein und erläuterte anhand von Beispielen aus der Sicherheitspolitik, der Klimapolitik und der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Zur Sicherheitspolitik fand Sinn lobende Worte für die Art und Weise, wie Bundeskanzler Scholz auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine reagiere: “Ich finde, der Bundeskanzler macht das ausgezeichnet, keine stürmischen Reden zu halten.” Zugleich mahnte er an, dass eine Friedenslösung nur dann Bestand haben kann, wenn “sich beide Seiten daheim als Sieger deklarieren können.” Eine Lösung könne nie zustande kommen, wenn man selbst glaubt, in diesem Konflikt die ethisch einzig richtige Position zu vertreten, so Sinn.

Ein gefährlicher Trend

In Bezug zur Klimakrise sei es zwar gesinnungsethisch geboten, den CO2-Ausstoß in die Atmosphäre zu verringern; jedoch halte er die Reduktion des Schadstoffausstoßes in Deutschland auf null für ein illusorisches Ziel. Das Problem, so Sinn, liege darin, dass Öl und Gas global handelbare Brennstoffe sind. Verzichte ein Land auf den Konsum dieser Güter, so würden sie einfach an andere Staaten verkauft. So ist der CO2-Ausstoß seit den 1970ern kontinuierlich angestiegen, obwohl in Europa immer mehr verzichtet werde, erläuterte Sinn. Erst mit der Corona-Pandemie und dem Einbruch der Nachfrage nach Öl sei es tatsächlich zu einer Drosselung der Ölproduktion gekommen. Für Sinn ist klar: “Unilaterale Versuche, das Klima wenigstens ein bisschen zu retten […], verpuffen bei handelbaren Brennstoffen.” Vielmehr bedürfe es einer gemeinsamen Anstrengung der ganzen Welt – und nicht nur eines kleinen Teils der Länder –, die OPEC-Staaten dazu zu zwingen, die Ölproduktion zu senken.

In diesem Zuge kritisierte Sinn auch die deutsche Energiepolitik der vergangenen Jahrzehnte. Die Priorisierung der erneuerbaren Energiequellen halte er für den falschen Weg, da man so immer auf konventionelle Kraftwerke angewiesen sei, um die Schwankungen im Stromnetz auszugleichen. Für diesen Zweck müssten diese Kraftwerke somit vollständig in Bereitschaft gehalten werden, auch wenn sie streckenweise nicht benötigt werden würden. Diese Entwicklung verursache hohe Kosten und gehöre zusammen mit den massiven Investitionsausgaben und Entwicklungskosten in erneuerbare Energiequellen zu den Preistreibern am deutschen Strommarkt. Die Abkehr von der Atomkraft halte er für einen schwerwiegenden Fehler; hier sieht er Frankreich als Vorbild, das schon länger auf die Atomkraft als Hauptenergieerzeugungsquelle setzt.

Zum Ende des Vortags thematisierte Hans Werner Sinn die europäische Rettungspolitik bzw. Geldpolitik der EZB. Zwar habe Mario Draghi damit den Euro vor dem Untergang gerettet, jedoch sei die heutige Inflation die Folge der massiven Geldmengenerweiterung. Nicht der Krieg sei Treiber der Inflation, sondern lediglich eine bequeme Ausrede. Der harte Kern der Inflation sei nach wie vor massiv und werde auch so schnell nicht verschwinden, prognostizierte Sinn.

Keine moralisierende Politik gegenüber China

Zuletzt stellte sich Hans Werner Sinn auch den Fragen der Teilnehmenden. Auf die Frage nach dem Umgang mit Russland antwortete er, dass das Konzept “Wandel durch Handel” von Deutschland und Europa nicht konsequent genug umgesetzt worden ist. Im Umgang mit China sei dieses Konzept der einzige Weg, auch weil Deutschland mittlerweile massiv von China abhängig ist. An dieser Stelle warnte er vor einer moralisierenden Haltung gegenüber Peking. Auch monierte er die ambivalente Haltung der Bundesregierung: Man könne nicht auf Amerika als Sicherheitsgarant bauen, aber gleichzeitig mit China massiv Handel treiben.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und China waren auch Thema im nächsten Vortrag der Tagung zur Frage “Bundesrepublik und Volksrepublik China – wie weiter?” Hierzu referierte Matthias Naß, Journalist, ehemaliger Korrespondent und ehem. stellvertretender Chefredakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Gleich zu Beginn seines Vortrag wies Naß auf große Schwierigkeiten in den Beziehungen hin: Hongkong, Taiwan, ebenso wie die ungeregelte militärische Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee. Er schätze, legt man die Klassifikation Chinas von Kommissionspräsidentin von der Leyen, China sei Partner, Wettbewerber und strategischer Rivale, zugrunde, schon länger primär als strategischen Rivalen ein. Dies merke man auch an der Unterstützung, die Putin bei seinem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine aus Peking erfährt. Hier relativierte Naß jedoch die Haltung der Volksrepublik: In persönlichen Gesprächen werde auch von chinesischen Diplomaten das Wort “Krieg” verwendet.

Die Abhängigkeit von China verringern

Die deutsche Chinapolitik könne laut Matthias Naß dabei in mehrere Abschnitte unterteilt werden. Standen bei Helmut Schmidt noch politisch-strategische Interessen im Vordergrund, so wandelte sich dies nach seiner Abwahl als Bundeskanzler. Besonders seit Schröder sei die oberste Richtlinie der deutschen Chinapolitik gewesen: “Die Geschäfte gehen vor!” Dies habe allerdings zu einer Situation der asymmetrischen wirtschaftlichen Abhängigkeit von China geführt. Gefährlich sei das vor allem deswegen, weil China seine Handelsmacht als Waffe gegen unliebsame Staaten einsetzt, so Naß. Dies konnte man beispielsweise bei Australien, Südkorea, Norwegen oder Litauen beobachten. Die Botschaft, die dabei kommuniziert werde, sei unmissverständlich klar: “Wer sich mit China anlegt, dem geht es an den Kragen!”

Um dies im Falle Deutschland zu verhindern, sei es wichtig, die Abhängigkeit von China zu verhindern, forderte Matthias Naß. “Derisking statt Decoupling”: Abhängigkeiten verringern, aber die wirtschaftlichen Beziehungen nicht komplett abbrechen, sollte das politische Gebot der Stunde lauten.

Auch sei es wichtig, enger mit anderen Partnern in Ostasien zu kooperieren. Dazu bedürfe es aber einer einheitlichen europäischen China-Strategie. Diese gelte es jetzt so schnell wie möglich zu entwickeln, forderte Naß. Diese Strategie müsse dann auch mit den USA abgestimmt werden, keinesfalls sollte eine Äquidistanz zu Washington und Peking hergestellt werden. Aber auch auf China müsse zugegangen werden. Hier verwies Naß auf ein Zitat Henry Kissingers, der sagte, dass die globale Sicherheit im Indopazifik nur mit China zusammen gewahrt werden könne.

Zum Thema “Das saudi-arabische Dilemma des Westens” referierte Guido Steinberg, Islamwissenschaftler und Mitglied der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik.

“Mohammed bin Salman ist ein Tyrann, wie er im Buche steht”

Saudi-Arabien habe in den letzten Jahren eine ambivalente Entwicklung durchlaufen. Einerseits seien zahlreiche soziale Reformen initiiert worden, die insbesondere der Verbesserung der Stellung von Frauen in der Gesellschaft dienten. Zudem hätten die Religionsführer des Landes deutlich an Macht verloren. Andererseits habe die politische Repression deutlich zugenommen. So sei Kritik an der Regierung heute verboten, erläuterte Steinberg. Zugleich sei die Überwachung der Menschen durch den Staat massiv ausgeweitet worden.

Eine besondere Rolle spiele dabei der Kronprinz Mohammed bin Salman: einerseits führe er das Land gesellschaftlich auf den richtigen Weg, andererseits ist der Staat unter seiner Regierungsführung so brutal und autoritär wie noch nie geworden.

Auch agiere das Land unter ihm auf internationaler Bühne deutlich unabhängiger. Während es früher fest an der Seite der USA gestanden habe, könne es heute als blockfreier Staat bezeichnet werden. Der Handlungsspielraum des Landes habe sich somit vergrößert, derjenige der USA sei geschrumpft, so Steinberg.

Auch für diese Tagung des Politischen Clubs konnte eine Persönlichkeit mit aktueller bundes- und europapolitischer Bedeutung als Referent gewonnen werden: Dr. Anton Hofreiter MdB, Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sein Vortrag trug den Titel “Zielkonflikte zwischen Werten, Machtpolitik und Ökologie”.

Die Anstrengungen beim Klimawandel intensivieren

Zu Beginn seines Vortages unterstrich Anton Hofreiter die Notwendigkeit des Klimaschutzes. Global sei die Tendenz beobachtbar, dass viele Bereiche der Erde unbewohnbar werden würden, sollte nicht gegengesteuert werden. Die Anstrengungen in diesem Bereich gelte es nun zu intensivieren, forderte Hofreiter, denn “wir sind unendlich zu langsam beim Klimaschutz, wenn die Naturwissenschaft recht hat.”

Dabei müsse der Klimaschutz politisch auch von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Dies sei jedoch schwierig angesichts der globalen Zusammenhänge. So sei es egal, wo das CO2 freigesetzt wird, die Auswirkungen seien global. Dass sich Umwelt- und Klimaschutz lohne, zeigte er an zwei Beispielen auf. Zum einen habe der Ausbau der Klärwerksstruktur in Deutschland in den 1970er Jahren erheblich zur Verbesserung der Wasserqualität beigetragen. Zum anderen profitiere Deutschland jetzt massiv von den Investitionen in Forschung und technologische Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energiequellen.

Hofreiter leitete vom Energiethema über zur Abhängigkeit von autokratischen Regimes. Seit September 2022 wird kein russisches Erdgas mehr über Pipelines direkt nach Deutschland geliefert. Stattdessen wurden die Erdgaslieferungen aus Norwegen und den Niederlanden erhöht und Verträge mit weiteren Ländern geschlossen, zum Beispiel über Flüssiggasimporte aus Katar. Diese Entscheidung war hart kritisiert worden. Hofreiter sagte bei der Tagung, es sei “klüger, sich von zehn Diktaturen abhängig zu machen als von einer.” Die Situation sei an der “Grenze des Unauflösbaren”, man müsse die Dinge klar benennen und am Ende Parallelstrategien fahren. Darüber hinaus plädierte er für mehr Zusammenarbeit mit anderen Demokratien – und nicht für einen deutschen, sondern europäischen Weg in der Energieversorgung und Klimapolitik. “Vernünftige Klimapolitik ist Interessenspolitik”, sagte Hofreiter. Insofern sollte es im Interesse aller Staaten sein, die Klimakrise in den Griff zu bekommen.

Auch zur Debatte um militärische Hilfsleistungen für die Ukraine nahm Hofreiter Stellung. Für Staaten sei das pazifistische Konzept seiner Meinung nach “schwer denkbar”. Als persönliche Haltung habe er Verständnis dafür, als politische Haltung sei es “unterlassene Hilfeleistung” und die sei er nicht bereit, mitzugehen.

Den Abendvortrag am Samstag hielt Prof. Dr. Jan Claas Behrends, der die Professur “Demokratie und Diktatur. Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart” an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt hält. Er thematisierte in seinem Vortrag “Deutschland und Russland – Eine Aufarbeitung und ein Blick nach vorne” die Beziehung beider Staaten.

Die Kardinalfehler der deutschen Russlandpolitik

Die deutsche Außenpolitik “steht vor einem Scherbenhaufen”, so fasste Behrends die Situation zusammen. “Frieden, Wohlstand und Stabilität” seien ihr Ziel gewesen, doch keines davon habe sich im Hinblick auf Russland realisieren lassen. Dies liege auch an dem Weg, den Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion eingeschlagen hätte. Zwar wurde die kommunistische Partei von Gorbatschow reformiert, jedoch nicht die anderen beiden Stützen sowjetischer Herrschaft: Armee und Geheimdienst. Die in diesen Institutionen agierenden Eliten konnten sich unter Präsident Jelzin wieder die Macht in Russland sichern, erläuterte Behrends. Auch habe man im Westen akzeptiert, dass Russland nach und nach den Pfad demokratischer Entwicklung verlassen hat. Ende der 1990er sei Russland dann vollends eine revisionistische Macht geworden, die versuchte, die Souveränität der Nachbarländer zu untergraben.

Auch nach der Jahrtausendwende sei die deutsche Russlandpolitik von vielen Kardinalfehlern gezeichnet gewesen: so habe man weder Putins aggressives Potenzial erkannt noch die deutsch-russischen Sonderbeziehungen in Anbetracht der russischen Aggressionen auf der Krim und im Donbass auf den Prüfstand gestellt. Zu den großen Fehlern dieser Politik zähle ebenso NordStream2 und das Minsker Abkommen, im Zuge dessen in pervertierter Manier die Niederlage deutscher Diplomatie als Leistung gefeiert worden sei, so Behrends.

Konsequente Aufarbeitung der Fehler deutscher Russlandpolitik

Ausgehend von diesen Fehlern forderte Behrends Konsequenzen für die deutsche Politik: Erstens eine konsequente Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik, bei der Fehler offen benannt und analysiert werden. Besonders im Hinblick auf China müsse eine Wiederholung dieser Fehler zwingend vermieden werden. Zweitens in der Außenpolitik eine stärkere Gewichtung und Einbeziehung der Kenntnisse von Länder-Experten, die die kulturellen Codes der jeweiligen Länder verstehen. Drittens solle man in Deutschland keine Angst haben vor Abschreckung oder klaren Positionen. Vielmehr müsse akzeptiert werden, dass es zwischen Demokratien und Diktaturen fundamentale Unterschiede gibt, die nicht durch Kommunikation überbrückt werden können. Viertens: Deutschland müsse besonders für Osteuropa wieder ein verlässlicher Partner werden. Hier gelte es, viel verloren gegangenes Vertrauen wiederaufzubauen.

Wie viel (wirtschaftliche) Kooperation, wie viel Konfrontation sind in Beziehungen zwischen Demokratien und Diktaturen möglich und nötig? Dieser Frage widmete sich Annette Schavan, Bundesministerin a. D. und Co-Vorsitzende des Deutsch-Chinesischen Dialogforums, exemplarisch am Fallbeispiel China (hier im Video ansehen).

China habe in den vergangenen Jahrzehnten eine fast unglaubliche Transformation vollzogen, berichtete Schavan. Die Einschätzung, etwa aus dem Jahr 2006, das Land sei lediglich die „verlängerte Werkbank der Welt“ und kaum zu eigenen technologischen Innovationen fähig, gelte heute schon lange nicht mehr. Zusätzlich habe China im Bereich der Armutsbekämpfung Enormes geleistet. Alleine das erfordere ein sehr hohes Wirtschaftswachstum von acht bis zehn Prozent pro Jahr, so Schavan.

Diese Faktoren seien der Grund für das neue Selbstbewusstsein Chinas auf der internationalen Bühne. In indirekten Gesprächen mit Vertretern aus Peking könne sie immer wieder einen Grundtenor vernehmen: “Das, was in der neuen Weltordnung gilt, werdet ihr nicht mehr alleine bestimmen.”

Schavan forderte ein Offenhalten aller Gesprächskanäle. Besonders die Rolle der “Wissenschaft als Diplomatie des Vertrauens” hob sie in diesem Zusammenhang hervor: Durch Wissenstransfer und gemeinsame Forschungsprojekte können Brücken an Stellen gebaut werden, wo Politiker: innen nicht hinkommen.

Eine geeinte europäische China-Strategie

Wichtig sei in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Staaten der EU ihre Uneinigkeit in Bezug auf China überwinden und eine gemeinsame Haltung etablieren. Nur so könne Europa als „geeinte, starke Stimme auftreten“. Zentral in den Beziehungen sei für sie weiterhin, dass dort gemeinsame Interessen im Vordergrund stehen, nicht Werte. Fragen zu Werten sollten in persönlichen Gesprächen mit chinesischen Diplomaten angesprochen werden, nicht in öffentlichen Diskursräumen wie Pressekonferenzen. In ihren Jahren als Diplomatin habe sie gelernt: “Zu den Grundlagen der Diplomatie gehört, dass niemand sein Gesicht verliert.” Aus einem Gefühl Gedemütigt-Seins “ist noch nie eine positive Erfahrung erwachsen”, so Schavan.

Den Tagungsabschluss bildete eine von Roger de Weck moderierte Podiumsdiskussion zwischen den Journalisten Kurt Kister, bis 2020 Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, und Mathieu von Rohr, Leiter des Spiegel-Auslandsressorts, sowie der Juristin und Direktorin des Center on the United States and Europe, Dr. Constanze Stelzenmüller, zum Thema “Was sind Alternativen zu einem neuen Kalten Krieg?”.

Das Verhältnis zwischen China und den USA

Im ersten Teil der Debatte wurde das Verhältnis zwischen China und den USA kritisch diskutiert. Constanze Stelzenmüller betonte die momentan belasteten Beziehungen beider Länder. Zum einen habe sich in Washington ein überparteilicher Konsens gebildet, die wirtschaftlichen Beziehungen zu China mit Handelsbeschränkungen zu belegen. Zum anderen aber verhalte sich China auf internationaler Bühne auch schwierig, so zum Beispiel durch die diplomatische Unterstützung Russlands oder eine aggressive Diplomatie gegenüber anderen Ländern. Kister ist der Überzeugung, das kommende Jahrhundert werde ein chinesisches Jahrhundert; die USA werden “nicht mehr die Rolle spielen, die sie spielten.” Dieser Einschätzung widersprach von Rohr: Wer zukünftig die Weltmacht Nummer eins sein wird, sei noch nicht ausgemacht. China habe große innenpolitische und soziale Probleme; die USA hingegen hätten gezeigt, dass sie in vielen Bereichen noch vital seien. Eine Konfrontation zwischen China und den USA – ob nun militärisch oder handelspolitisch – halte er aber für unvermeidlich. Die Art der Konfrontation werde auch durch den Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahlen bestimmt, betonte Stelzenmüller. Sollte ein Kandidat der republikanischen Partei ins Weiße Haus einziehen können, so wäre die amerikanische Demokratie ernstlich gefährdet. Dies ist auch für Europa äußerst wichtig, da es ohne amerikanische Unterstützung sicherheitspolitisch nicht lebensfähig sei. Das Sicherheitsmodell, sich fast gänzlich auf die USA als Schutzmacht zu verlassen, sei für Kurt Kister “mittlerweile veraltet”. Er habe das Gefühl, dass “der Freund Amerika [dabei ist], uns zu verlassen.”

Die Zukunft der EU

Ob es dann nicht angesichts der vielen Krisen in der Welt Zeit für Europa sei, zusammenzurücken, fragte de Weck. Europa sei “ein Bündnis der Konjunktive”, so Kister. Die Union sei noch lange nicht so handlungsfähig, wie sich das manch einer wünschen würde. Auch von Rohr bekräftige, dass er ein Zusammenrücken Europas für unwahrscheinlich halte.

Der letzte Teil der Debatte drehte sich um die Frage der deutsch-russischen Beziehungen sowie des Russland-Bildes in der deutschen Bevölkerung. “Warum gibt es so viel Verständnis für den russischen Imperialismus in Deutschland und nicht für den amerikanischen Imperialismus?”, fragte de Weck. Kurt Kister wies in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen in Ost- und Westdeutschland hin. Menschen, die in der DDR geboren und aufgewachsen waren, hätten häufig eine andere Sicht auf Russland und den Krieg. Von Rohr zufolge können die Frage nicht so einfach beantwortet werden. So war Polen genauso wie die DDR von der Sowjetunion besetzt, doch die Wahrnehmung Russlands in der polnischen Bevölkerung sei gänzlich anders.

In seinem Tagungsfazit ging der Leiter des Politischen Clubs, Roger de Weck, auf die Schwächen der Demokratie ein und formulierte Forderungen, was zu tun sei, um das Konzept der Demokratie in Europa zu bewahren.

Die Demokratie, die er als ein Kind der Aufklärung und Rationalität bezeichnete, verleite uns dazu, zu glauben, dass unsere Gegner und Feinde ebenso rational wären. Dies sei aber eine “Schwäche der Demokratie, ihre eigene Rationalität auf andere zu projizieren.” Vielmehr müsse die Irrationalität anderer Akteure mitgedacht werden. Zudem müsse die Verteidigungsfähigkeit der Demokratie gestärkt werden. Dies betreffe sowohl die militärische Verteidigungsfähigkeit als auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Weiterhin dürften wirtschaftliche Interdependenzen nicht in Abhängigkeiten umschlagen, forderte de Weck. Risiken müssten verteilt und diversifiziert werden.

Insgesamt stehe die Demokratie vor einer epochalen Aufgabe: Sie müsse sich dringend erneuern, um wieder überzeugen zu können. Die eigenen Werte sollten daher wieder mehr in den Mittelpunkt gestellt werden. Dies gelinge am besten mit einem geeinten Europa, dass an der Seite der USA steht, aber bereit ist, auch alleine international zu agieren. “Ein starkes Europa, aber eingebettet in einen globalen Westen”, dies forderte de Weck zum Tagungsabschluss.

Text: Michael Gugger / Redaktion: Dorothea Grass

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Bild: In den Abenden nach den Vorträgen wurde weiterdiskutiert: Hier auf dem Balkon des Schlosses. (Foto: Oryk HAIST / eat archiv)

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