Spaenle: „Die Fratze des Antisemitismus zeigt sich neu“

Bayerns Antisemitismusbeauftragter Dr. Ludwig Spaenle äußerte bei seiner bei Kanzelrede in der Erlöserkirche in Schwabing Trauer und Entsetzen über Attentat von Pittsburgh. Er fordert eine Kultur des Hinschauens.

Für eine Kultur des Hinschauens bei antisemitischen Vorfällen und der aktiven Parteinahme für Jüdinnen und Juden hat sich der Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, Dr. Ludwig Spaenle am Sonntag in der Kanzelrede in der Erlöserkirche in Schwabing ausgesprochen. Er hatte die Kanzelrede unter das Leitwort „,Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen‘ – für eine Kultur des Hinschauens“ gestellt. Mit dem Leitwort der Kanzelrede, zu der die Evangelische Akademie Tutzing sowie der Freundeskreis der Akademie eingeladen hatte, hat Dr. Spaenle einen Ausspruch des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer aufgegriffen. Anlass für die Themenwahl war der wachsende Antisemitismus in Deutschland und Bayern im Jahr 2018, 80 Jahre nach der Reichspogromnacht, in der die Nationalsozialisten die Synagogen in Brandt gesteckt und Tausende Juden in Konzentrationslager gebracht hatten.

 „Aus Ideen, Ansichten und  Posts werden rasch Handlungen“

Der Antisemitismusbeauftragte Spaenle warnte in seiner Kanzelrede: „Es sei erschreckend, dass in dem Staat der Antisemitismus uns immer noch, ja wieder seine hässliche Fratze zeigt – und zwar in unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Motiven.“ Er verwies auf die steigende Zahl antisemitischer Straftaten, die in der auch Verrohung von Teilen der Gesellschaft eine Ursache habe. Mit Blick auf die Anonymität der sozialen Medien betonte Ludwig Spaenle: „Im Nirwana des Internets lassen sich Ressentiments und Hass mühelos verbreiten. In den Echokammern und Filterblasen bestätigen sich Gleichgesinnte in ihren vorurteilsbeladenen Weltbildern. Tatsachen werden nach Bedarf und Interessenlage verdreht, Nachrichten verfälscht. Aus Ideen, Ansichten und  Posts werden rasch Handlungen.“ Der Antisemitismus trete heute in vielen Spielarten und aus verschiedenen Motiven auf, rechtsextreme und linksextreme Antisemiten gebe es ebenso wie islamistische.

„Angesichts dieser erschreckenden Situation sind wir alle, jede und jeder Einzelne von uns, zu intellektueller Wachheit, Wachsamkeit und Gegenwehr gefordert – aus unserem Menschenbild und unseren Werten der christlich-abendländischen Gesellschaft und der Aufklärung heraus“, so der Kanzlerredner. Als Antisemitismusbeauftragter der Staatsregierung habe er die besondere Chance, Problemfelder auch institutionell anzupacken. So habe er die Einrichtung einer niedrigschwelligen Meldestelle für antisemitische Vorfälle gefordert. Er habe empfohlen, ein bayerisch-israelisches Jugendwerk ins Leben zu rufen, das die persönliche Begegnung von jungen Menschen in Bayern und Israel stärkt. In den Schulen setze er sich für ein faktengetreues Bild vom heutigen Israel als einem modernen, demokratischen Staat ein. Schließlich habe er empfohlen, die Archivalien der jüdischen Gemeinden, die über die NS-Zeit hinweggerettet werden konnten und heute in den Nationalen Archiven in Jerusalem verwahrt werden, auch wieder in Bayern der Forschung zugänglich zu machen. Dazu sollten diese Archivalien digitalisiert werden.

Entsetzen über das Attentat von Pittsburgh

Dr. Spaenle äußerte in der Kanzelrede sein Entsetzen über das Attentat auf die Jüdinnen und Juden in der Synagoge von Pittsburgh in den USA am Tag zuvor geäußert und seine Trauer über die Opfer bekundet.

In seinem Begrüßungswort hatte Akademiedirektor Udo Hahn eindringlich davor gewarnt, sich an einen „Alltagsantisemitismus in der Mitte der Gesellschaft zu gewöhnen.“ Dafür, dass sich ein solcher in der Gesellschaft breitgemacht habe, gebe es handfeste Belege. Darin reihe sich auch die Debatte um eine Stand-Up-Einlage des Satirikers Jan Böhmermann ein, wie ihn der Komiker Oliver Polak in seinem kürzlich erschienenen Buch beschrieben hat – ohne jedoch Böhmermanns Namen zu nennen. Nach seinem Abgang von der Bühne war Böhmermann mit einem Desinfizierungsmittel herumgesprungen und fragte, wer dem Juden Polak alles die Hand gegeben habe. Pfarrer Hahn stellt der Debatte klar entgegen: „Wer jetzt denkt, den Gag wird man ja wohl machen dürfen, dem halte ich in aller Entschiedenheit entgegen: Nein, eben nicht!“ Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus ergebe sich dauerhaft der Auftrag, Verantwortung zu übernehmen und Zivilcourage zu zeigen. Nie wieder dürfe sich das wiederholen, was zum größten Zivilisationsbruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt habe. Unter dem Ruf „Nie wieder“ seien auch die evangelischen Akademien in Deutschland entstanden: als Diskurs-Orte, an denen die unterschiedlichen Kräfte, die unsere Zivil- und Bürgergesellschaft prägen, um Lösungen wichtiger Fragen ringen und auch als Orte der Toleranz und der Zivilcourage. „Wissen und Bildung machen es möglich, tolerant zu sein und Zivilcourage an den Tag zu legen, mutig Vorurteilen entgegen zu treten“, so Hahn.

dgr / unter Verwendung von Material der Bayerischen Staatsregierung

Foto: Dr. Ludwig Spaenle während seiner Kanzelrede in der Schwabinger Erlöserkirche. (Foto. dgr/eat archiv)

Die Kanzelrede können Sie hier im Wortlaut nachlesen oder als Audiomitschnitt nachhören.

Lesen Sie auf der nächsten Seite die Begrüßungsrede von Akademiedirektor Udo Hahn im Wortlaut nach.

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