Slammen gegen die Pandemie

So viele Ideen, so viel Energie, so viele Botschaften – nur wo und wie loswerden? Kinder und Jugendliche finden sich derzeit meist alleine wieder, vor ihren Rechnern, in ihren Kinder-, Jugend- und Studierzimmern. In einem einzigartigen Workshopformat hat Junges Forum-Studienleiterin Julia Wunderlich etwa 50 Jugendlichen mithilfe von Kunst ein Ventil geboten – und war sowohl vom künstlerischen Ergebnis als auch von den politischen Botschaften der jungen Menschen beeindruckt.

(…) Freitag morgen
Jedenfalls glaube ich, dass es Freitag ist
Inzwischen habe ich jegliches Zeitgefühl verloren

Ich trage nur noch den Schlafanzug

In einer Umfrage habe ich gelesen, dass der Trend weite Klamotten zu tragen zugenommen hat

verständlich

Ich beginne mich zu fragen, ob es wohl jemals wieder anders sein wird
das Fragen strengt mich an

Ich lasse die Frage so stehen
Schlage die Augen zu
und den Rechner auf

Stille

Es ist doch Samstag

Der Poetry Slam-Text der 19-jährigen Emma Herzner ist eine Antwort von vielen auf die Frage: “Jugend, wie geht es Euch?”. Ventil und Formgeber: Kreativität und Kunst.

“Kunst macht sichtbar”. Diese Erkenntnis des Germanisten Heinz Rupp hat Julia Wunderlich, Studienleiterin für Jugendpolitik & Jugendbildung (Junges Forum) an der Evangelischen Akademie Tutzing verinnerlicht. In der Tagung “Your Voice! Be creative und meet online again” eröffnete sie am 28. Februar 2021 etwa 50 jungen Kunstinteressierten aus der ganzen Bundesrepublik einen virtuellen Raum des Gehörtwerdens und Sichtbarmachens – sowie des politischen und künstlerischen Empowerments.

Dazu hatte die Studienleiterin kreative Verstärkung mit an Bord geholt: den preisgekrönten Poetry Slammer Philipp Potthast, die Illustratorin Kathrin Rödl sowie den Improvisationstheaterspieler Tobias Zettelmeier. Die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, alle zwischen 11 und 30 Jahren alt, konnten auswählen, in welcher der drei Disziplinen sie sich ausprobieren wollten.

“Ihr habt was zu sagen. In eurer Sprache. Im Comic, im Poetry Slam, im Improtheater. Es geht um eure Sicht auf die Gesellschaft, auf politische Themen, um euch als Jugend und wichtige Generation.” Mit diesen Worten motivierte Studienleiterin Julia Wunderlich die jungen Gäste, die aus allen Ecken Deutschlands, aus Rostock, Marburg oder vom Chiemsee, in den geschützten virtuellen Tagungsraum gekommen waren, um sich – während draußen die Sonne schien – erneut vor den Computer oder das mobile Endgerät zu begeben – und dort in eine neue Welt einzutauchen, neue Leute kennenzulernen, sich zu vernetzen, Bestärkung zu erfahren und gemeinsam einen gute Zeit zu erleben.

Künstlerische Schaffensprozesse und gemeinsames Kunsterleben sieht Studienleiterin Julia Wunderlich als einen Schlüssel, um Resilienzen hervorzubringen und Jugendliche politisch zu empowern. Aber noch ein weiteres steckt dahinter: “Letztlich geht es um Zusammenhalt. Und gerade jetzt nehmen sehr viele Jugendliche sehr viel Rücksicht, um ältere Menschen zu schützen. Und das sind viele positive Beispiele für Zusammenhalt, die man gerade erlebt.”, so Julia Wunderlich. In ihrer Tagung wollte sie Kindern und Jugendlichen gezielt die Möglichkeit geben, sich zu vernetzen und zu erkennen, dass sie mit ihren Fragen und Problemen nicht alleine sind sowie sich auch durch die Themen der anderen politisieren zu lassen und diese Themen auf kreative Art zu äußern.

Sorgen und Botschaften junger Menschen – Luxusprobleme?

Keine Schule, keine Treffen in Vereinen, mit Freundinnen und Kumpels – Kinder und Jugendliche finden sich momentan vor allem alleine vor ihren Rechnern zu Hause wieder. Und: Sie werden zu wenig gehört. Ihre Botschaften, Sorgen und Ideen werden als Luxusprobleme abgetan. – Ein Zustand, den Julia Wunderlich in ihrer Arbeit nicht hinnimmt. “Die Interessen von jungen Menschen haben vom Mutterleib an wenig Lobby”, sagt sie. Für sie ist klar: “Es ist ein Recht der Jugend teilzuhaben und mitzubestimmen. Und ich finde es wichtig, dass das medial sichtbar wird“. Ihr Ansatz und „Herzensthema”: Jugendpolitik, die als eigener Politikansatz die Bedürfnisse von Menschen zwischen 12 und 27 Jahren in den Fokus des politischen Handelns rückt, wie die Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik schreibt.

Forum für die Themen, die den jungen Leuten auf den Nägeln brennen, sind regelmäßig die Veranstaltungen des “Jungen Forums”, dem Referat für Jugendpolitik und Jugendbildung an der Evangelischen Akademie Tutzing. Auch in den Kunst-Workshops der Tagung “Your Voice! Be creative und meet online again” Ende Februar kamen die Themen der Jugend zum Vorschein.

Im Poetry-Slam-Workshop mit Philipp Potthast entstanden ausdrucksstarke Texte zum Bachelorabschluss ohne Bibliothek und Feiern mit den Freunden, zum Homeschooling und zur Herausforderung dabei den Nährstoffhaushalt im Gleichgewicht zu halten oder auch zum Unbehagen, nachts alleine durch die Stadt nach Hause zu laufen.

Wünsche fürs Homeschooling, Systemkritik, Bodyshaming, Klimawandel

Die Comic-Strips, die im Workshop mit der Comic-Illustratorin und Graphic Recorderin Kathrin Rödl entstanden, erzählten in bunt und schwarz-weiß von persönlichen Erlebnissen, Gesprächen oder der Gefühlslage ihrer Schöpferinnen und Schöpfer. Sie gaben zum Beispiel Wünsche fürs Homeschooling (etwa nach einem Schulfach für eigenständiges und strukturiertes Lernen, dem Verständnis für psychische Gesundheit bei Schulärztinnen und eine stärkere Betreuung durch Schulpsychologen), übten aber auch Systemkritik (zum Beispiel über das, was in der Schule alles nicht gelehrt wird, wie zum Beispiel wirkmächtige Philosophinnen und weibliche Vorbilder) oder machten auf konkrete Probleme (sexistische Übergriffe, Bodyshaming, Fast Fashion und Hoffnungslosigkeit im Klimawandel) aufmerksam.

In der Improtheater-Session mit dem Theaterwissenschaftler und künstlerischen Leiter des Ensembles Bühnenpolka, Tobias Zettelmeier, ging es dagegen vor allem um “Mindset”, seinem Gegenüber positiv zu begegnen und eine andere Erfahrungswelt anzunehmen. Im “Ja, genau…!”-Spiel entstand in kürzester Zeit eine Vertrautheit zwischen eigentlich fremden Menschen, die dadurch lernten, sich mit anderen Situationen und Emotionen zu identifizieren. Außerdem kam der Körper als Darstellungsmittel zum Einsatz. Gewünschter Effekt des Improvisationstheaterspiels: die Überwindung der eigenen Unsicherheit.

Vorbereitung auf Jugend-Hearing der Bundesregierung

Studienleiterin Julia Wunderlich war begeistert von dem Ideenreichtum und der Energie, die ihr während ihrer Veranstaltung entgegenkam. Sie ermunterte die Teilnehmenden, sich weiter Gehör zu verschaffen. Einen konkreten Termin nannte sie dafür ebenfalls: den Online-Talk “Jugend auf Stopp”, den sie am 8. März veranstaltet. Die Ergebnisse dieses Treffens werden im Jugend-Hearing eingebracht, das mit Bundesjugendministerin Franziska Giffey am 11. März veranstaltet.

Um dafür bereits Ideen zu sammeln, wurden am Ende der Tagung Stimmen im Chat gesammelt: “Was fehlt euch gerade konkret, wofür gibt es (noch) keine Lösung, was vermisst ihr, was vorher selbstverständlich was?”, “Was braucht ihr, habt ihr Lösungsideen?” und “Was ist eure Vision davon, wie es nach der Pandemie weiter gehen soll?”. Auch hier war die Beteiligung groß. “Ich möchte nicht mehr hören, dass sich junge Menschen keine Gedanken machen”, erkannte Julia Wunderlich dieses Bedürfnis nach Mitgestaltung und die konkreten Ideen zum Umgang mit der Lebenssituation von jungen Menschen in der Pandemie.

Nach einer letzten Tanzeinheit für alle, vom Improtheater-Workshop angeleitet, beendete Julia Wunderlich die Tagung mit den Worten “Ihr seid so wichtig für die Gesellschaft und es gibt viele Menschen, die euch hören.”

Dorothea Grass, Mitarbeit: Johanna Hofmann, Julia Wunderlich

 

Hinweis:

Bild: Das Team von “Your Voice! Be creative und meet online again”: Julia Wunderlich, Philipp Potthast, Tobias Zettelmeier und Kathrin Rödl (Collage: Julia Wunderlich / eat archiv)

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