Zurück zur Normalität?

Der Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 hat sozial-ökologische Problemlagen wie unter einem Brennglas verdeutlicht. Während im Sommer und frühen Herbst viel daran gesetzt wurde, gesellschaftliche Prozesse wieder hochzufahren, kamen in der Evangelischen Akademie Tutzing Vertreter aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen, um über ein “Zurück zur Normalität” nach der Krise hinauszudenken.

Ob in Kommunalpolitik und Bundespolitik, Pflegebereich und Gesundheitswesen, Psychologie, Soziologie, Debatten über Arbeitswelt, Wirtschaftswachstum und Globalisierung – die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen Fragen aufgeworfen und bestehende Problematiken verschärft. Zu einer interdisziplinären Bestandsaufnahme hatte das Kolloquium “Alles bleibt anders?” am 20. September 2020 in die Evangelische Akademie Tutzing (EAT) geladen. Das Tagungsteam, bestehend aus Studienleiterin Katharina Hirschbrunn, Dr. Martin Held – freier Mitarbeiter der Evangelischen Akademie Tutzing und Mitglied des Gesprächskreises „Die Transformateure“ (zum Link) – ,  Jutta Höcht-Stöhr und Anna Hanusch von der Stiftung Weiter-Denken (mehr dazu hier) sowie Dr. Manuel Schneider vom Münchner Forum Nachhaltigkeit (weitere Informationen) luden zu einem persönlichen Austausch von Erfahrungen, dem Zusammentragen von Einschätzungen und Diskussionen ein. Im Mittelpunkt standen dabei folgende Fragen:

  • Können die in der Pandemie gewonnen Erkenntnisse als Anstoß dienen, gesellschaftliche Prioritäten in Zukunft neu zu setzen?
  • Bremst die Krise nachhaltig oder wird sie zum Anlass, Prozesse sozial-ökologischer Transformation zu intensivieren?
  • Welche Voraussetzungen und Parameter haben sich geändert?

In ihrer Einführung sagte Jutta Höcht-Stöhr, der Lockdown habe “eine Chance zum Weiterdenken” eröffnet. Anna Hanusch berichtete aus der Münchner Stadtpolitik, dass Entscheidungen deutlich schneller als gewöhnlich getroffen und umgesetzt worden seien. Aus dieser Flexibilität gelte es zu lernen. Corona habe zugleich eine deutlichere Prioritätensetzung aufgrund beschränkter Haushaltsmittel nötig gemacht, die eine Konzentration auf Zukunftsthemen verlange.

Zur Organisation des Care Bereichs von Pflege bis Erziehung sagte Thorsten Nolting, Leiter der Diakonie München, die Pandemie habe Entwicklungsbedarfe bestätigt und die entsprechenden Berufsfelder als systemrelevant ins Bewusstsein gehoben. Eine Wende hin zu mehr Anerkennung für Arbeiten am menschlichen Körper und in der sozialen Betreuung konnte er nicht feststellen. Auf die Frage, in welcher Form sich diese Anerkennung äußern könne, schlug er höhere Investitionen, mehr Lohn, Weiterbildungen und Personal vor. Grundvoraussetzung für Veränderung sei die Überwindung verengter Vorstellungen über Tätigkeiten im Care-Bereich. Es wurde deutlich, wie weitreichend Corona in die Arbeit der Diakonie eingreift – von neuen Herausforderungen im Ehrenamt bis hin zu der Sorge um die Unterbringung von Wohnungslosen im kommenden Winter. Insgesamt berge die coronabedingte “Vollbremsung” kleine Chancen, aber keine großen, so Nolting.

Der Psychoanalytiker und Autor Dr. Wolfgang Schmidbauer blickte auf die sozialpsychologischen Auswirkungen der Krise, in der die Menschen verstärkt mit neuartigen Ängsten konfrontiert sind. Das Ausmaß der durch die Schutzmaßnahmen hervorgerufenen strukturellen Veränderungen und Ungleichheiten bedeute eine “besondere seelische Belastungsprobe”. Die Herausforderung: einen vernünftigen Weg finden zwischen übertriebener Angst und übersteigerten Schutzmaßnahmen einerseits und der Verleugnung der Gefahr andererseits. Die Eventkreativität in der Krise – die schnellen Reaktionen, die neuen Einfälle, der neue Umgang untereinander, etc. – all das seien eher nur kurzzeitige Effekte. Für strukturelle Veränderungen werde deutlich mehr Zeit benötigt. Zugleich sah er in der Eigenreflexion sozialer Systeme, die “auf Kante genäht” funktionieren – etwa Krankenstationen oder Familien – durchaus Potenzial zur Veränderung.

In der Krise gewannen digitale Technologien zusätzlich an Bedeutung, doch was davon wird bleiben? Von einem “gewaltigen Digitalisierungsschub” innerhalb der meisten Firmen sprach der Journalist Helmut Martin Jung von der Süddeutschen Zeitung. Die Umstellung in Deutschland sei sehr schnell erfolgt und vieles habe unerwartet gut funktioniert. Inwiefern der anfängliche Schwung zu einer tatsächlichen und praktischen Umsetzung verschiedener Konzepte führen wird, bleibe abzuwarten. Für eine gelingende Transformation sei besonders die Politik gefragt, aber auch die Bedeutung individueller Einstellungen und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, dürfe nicht unterschätzt werden. Digitalisierung sei “weder per se gut oder schlecht” – es handele sich um Technologien, die der Mensch für sich nutzen könne.

Aktuell ist noch nicht klar abzusehen, welche Implikationen sich aus dem Zuwachs mobilen Arbeitens für die Arbeitswelt ergeben. Klaus Mertens, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Fachreferent im Betriebsrat der ZF Friedrichshafen AG am Standort Schweinfurt, skizzierte die Lage folgendermaßen: Die hohe Autonomie im Homeoffice erfreue sich wachsender Beliebtheit und stelle ein „außerordentlich hohes Gut“ für die Beschäftigten dar. Nun sei der Moment gekommen, nach objektiven Kriterien für Entlohnungsformen jenseits von Stundenlohn und Zeiterfassung zu fragen. Die negative Seite der Medaille: die Gefahr betrieblicher Vereinsamung. Hier müsse mit entsprechenden Konzepten entgegengewirkt werden. Er berichtete bereits von Plänen, Büros für die Zeit nach der Krise in primäre Begegnungsorte umzuwandeln.

Als „soziales“ und als „weibliches“ Risiko beschrieb Prof. Dr. Cordula Kropp, Soziologin an der Uni Stuttgart, die Corona-Situation. Sie wünscht sich ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen, die Teil des Corona-Risikos sind. Hier sei die Gesellschaft gefragt, die ganze Breite der Risikowahrnehmungen zu sehen. Der dominante öffentliche Diskurs der letzten Monate habe sich stark eindimensional auf die Infektionsübertragbarkeit fokussiert.  Die Reduktion gesellschaftlicher Komplexität auf nur wenige Elemente stelle ein Hindernis für den Übergang vorhandener Ansätze hin zu nachhaltiger Transformation dar. Zur Frage, inwiefern alte Handlungslogiken nach Corona tatsächlich außer Kraft gesetzt seien, zeigte sie sich skeptisch und erwartet eher einen „Siegeszug algorithmischen Denkens“.

Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Corona-Krise und den daraus abzuleitenden Folgerungen für andere Krisen wie die Klimakrise referierte Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Er beobachtet, dass die jeweiligen Gesellschaftsgruppen mit dem Rückgang des subjektiven Bedrohungsgefühls in Eigenlogiken reagieren, die nicht zu kontrollieren seien. Die fehlende Eindeutigkeit aus der Wissenschaft sei eine “Zumutung für die Öffentlichkeit”. Von einer Verwissenschaftlichung der Politik wollte er daher nicht sprechen. Dem Umgang mit Corona liege die Erwartungshaltung zugrunde, dass diese zeitlich begrenzt sei. Anders die Klimakrise, die ein chronisches Geschehen darstelle und so die Dringlichkeit des Durchregierens außer Kraft setze. “Gottseidank” fügte Herr Nassehi hinzu, denn ein Durchregieren in der Klimakrise sei nur unter diktatorischen Verhältnissen denkbar. Im Allgemeinen sprach er sich dafür aus, bei der Krisenbewältigung Vertretern unterschiedlicher Wissenschaften Gehör zu schenken.

Die Krise habe vor Augen geführt, dass die Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum nach wie vor stark sei, so Prof. Dr. Irmi Seidl von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) Zürich. Den entscheidenden Faktor für das weitere nationale und internationale Wirtschaftswachstum sehe sie im Zusammenspiel multipler Krisen (Frackingkrise, Finanzmarktkrise, Immobilienblase, etc.). Auch wenn die Suche nach alternativen, unabhängigen Wirtschaftsformen im Mainstream zurzeit kaum Beachtung finde, ist sich Seidl sicher, dass sich die Wirtschaftswachstumskritik in den alternativen Nischen weiter verbreiten wird. Ihrer Meinung nach heißt das Schlüsselwort: Postwachstum. Die jetzige Situation wertete sie als “fruchtbaren Boden”, um Wachstumsunabhängigkeit zu fördern. Als sichtbare Zeichen des Umdenkens nannte sie etwa die Debatte um alternative Arbeitszeitmodelle, die Neugestaltung von Wertschöpfungsketten oder veränderte Konsumpraktiken. Sie hoffe zudem auf eine coronabedingte Bremsfunktion der kapitalistischen Profitlogik im Gesundheitssektor. Zugleich gab sie zu bedenken, dass sich der Kapitalismus konträr zu den in Europa geführten kapitalismuskritischen Debatten auf globaler Ebene weiter ausbreitet.

Um eine Prognose wagen zu können, ob die Globalisierung auch nach Corona die dominante Tendenz bleibt, sind nach Prof. Dr. Timo Wollmershäuser, stellvertretender Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen sowie Leiter der  Konjunkturforschung und -prognosen in München, folgende Fragen zentral: Wo sind die Risiken angesiedelt? Und mit welchen Schocks rechnen wir in Zukunft? Bei vorwiegend nationalen Schocks wie Konjunkturschwankungen oder Naturkatastrophen bleibe die Globalisierung voraussichtlich die dominante Strategie. Anders bei globalen Schocks in Form kollabierender Finanzmärkte oder Pandemien, die aufgrund des Risikos unterbrochener Lieferketten für eine Rückholung der Produktion ins eigene Land sprächen. Entschieden werde diese Frage bei den Unternehmern. Wollmershäusers persönliche These: “Die Globalisierung hat ihr Ende größtenteils schon gefunden”. Dieser Trend sei bereits seit Langem angelegt, folgende Ursachen lägen ihm zugrunde: 1. Die Globalisierungsmöglichkeiten seien größtenteils ausgeschöpft. 2. Die Digitalisierung trage dazu bei, die Produktion wieder zurückzuholen. 3. Wirtschaftspolitiken und gesellschaftliche Entwicklungen mit verstärkter nationaler Ausrichtung.

Die Abschlussrunde eröffnete die Journalistin Sybille Giel vom Bayerischen Rundfunk mit der Frage, in welcher Weise jeder an seinem Platz zur Schaffung einer resilienten und zukunftsfähigen Gesellschaft beitragen könne. Die darauffolgende Diskussion verdeutlichte die breite Vielfalt der Perspektiven auf die Corona-Pandemie und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen. Mit der Forderung nach “weniger Expertentum und mehr Dialog”, der Hoffnung auf eine “Entwicklung von hierarchischen hin zu kooperativen Systemen” und dem Appell, die “Verschränkungen verschiedener Krisen” mehr in den Blick zu nehmen, kam die durchweg gelungene Veranstaltung zu ihrem Abschluss.

Christine Rothe

Weiterführende Links

Das Programm zur Veranstaltung können Sie hier abrufen.

Video-Interviews

Für das Format “Nachgefragt bei…” sprach Dorothea Grass am Rande der Veranstaltung mit dem Soziologen Prof. Armin Nassehi und dem Psychoanalytiker Dr. Wolfgang Schmidbauer. Die Interviews sind auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing unter diesen Links abrufbar:

Vom Umgang mit Ängsten: Was hat Corona mit den Menschen gemacht? – Nachgefragt bei… Wolfgang Schmidbauer  hier ansehen

Kommunikation in Krisenzeiten: Was können wir von Wissenschaft & Politik erwarten? – Nachgefragt bei… Armin Nassehihier ansehen

 

Bild: Lebendiger Austausch in der Rotunde: Anna Hanusch (Mitte), Jutta Höcht-Stöhr (dahinter) und Dr. Martin Held (rechts im Bild). (alle Fotos: dgr/eat archiv)

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