Vertrauen als vorsorgendes Prinzip

Am 5. Oktober 2020 diskutierten wir über die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte in Zeiten der Corona-Krise. Der Mitschnitt dieses Gesprächs ist nun auf dem YouTube-Kanal der Akademie abrufbar.

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Im Gesundheitswesen sind sie oft die erste Anlaufstelle: die Allgemeinmediziner. Das gilt auch und gerade in der Covid-19-Krise. Etwa 9000 Hausärzte gibt es in Bayern, “zunehmend auch in Zweierpraxen”, wie der Allgemeinmediziner und Pädagoge Prof. Dr. Jochen Gensichen von der Stiftung Allgemeinmedizin zur Begrüßung sagte. Sie sind für die Patientinnen und Patienten im Krankheitsfall die ersten Ansprechpartner: Aktuell würden sich 19 von 20 Corona-Patienten in Bayern von ihrem Hausarzt behandeln lassen.

Was bedeutet das für die niedergelassenen Mediziner und Medizinerinnen, was für ihre Belegschaft? Die Erwartungen sind groß: genügend Raum für die Patientinnen und Patienten, genügend Zeit und Expertise geben können, schnelles Handeln, neue Wege der Kommunikation, umgehende Ergebnisse von Laboren oder auch das Gewährleisten der sich stetig wandelnden Hygieneregeln – zum Schutz des Praxisteams aber auch ihrer Angehörigen und natürlich: der Patienten. “Wir haben auf Sicht gearbeitet”, beschreibt Jochen Gensichen vor allem die Erfahrungen aus der ersten Zeit mit Covid-19 in Deutschland.

Gleichzeitig habe man “Glück gehabt” – und habe dabei auf eine intakte medizinische Infrastruktur und hervorragende Intensivversorgung bauen können. Die Hausarztpraxen hätten als “Schutzwall” für die Krankenhäuser funktioniert, so Gensichen. Hier fand und findet nach wie vor die erste Abklärung statt, bevor Fälle ins Krankenhaus überwiesen werden.

Das Sektorensystem von Hausarztpraxen, ambulanten Kliniken und Krankenhäusern habe sich während der Pandemie als positiv erwiesen, bestätigt auch Prof. Dr. med. Karl-Walter Jauch, Ärztlicher Direktor des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München. So habe man schnell Testkapazitäten aufbauen und umgehend reagieren können. Dazu habe auch die Politik beigetragen, die frühzeitig Beschränkungen erlassen habe. Erneut habe sich auch gezeigt, wie qualitativ hochwertig die medizinische Ausbildung in allen Bereichen in Deutschland sei.

Warnung vor Einsamkeit

Die Ärztin und Rundfunk-Gesundheitsexpertin Dr. Marianne Koch äußert ebenfalls Zufriedenheit über den bisherigen Umgang des medizinischen Sektors mit der Covid-19-Krise. „Wir haben ganz viel richtig gemacht“, konstatiert sie. Das hätte zum einen an dem hervorragenden Gesundheitssystem in Deutschland, aber auch an der Einsicht und Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung gelegen. Koch warnt aber auch: Je länger die Situation anhält und die Menschen mit den Einschränkungen leben müssen, die sie in “unsoziale Situationen” bringe, umso unerträglicher werden diese für viele, die mit Einsamkeit zu kämpfen haben. “Die Ängste und auch die Depressionen werden überhandnehmen”, so Koch. Hier hätten auch die Kirchen eine Aufgabe. Um den Betroffenen über diese Zeit hinweg zu helfen, sei das Vertrauensverhältnis der Hausärzte zu ihren Patienten zentral. “Wir kennen unsere Patienten – teilweise ihr Leben lang”, sagt auch Jochen Gensichen.

Wie geht es nun weiter? Klar ist: Bis eine Covid-19-Impfung verfügbar ist, müssen wir weiter mit Unsicherheiten leben – sowohl die Bevölkerung als auch die Medizinerinnen und Mediziner.

“Wir dürfen uns jetzt nicht ausruhen”, betont Karl-Walter Jauch. Wichtig sei, die gelernten Hygieneregeln beizubehalten und das Vertrauen in die handelnde Politik und Verbände zu bewahren. Die Herausforderung sei, “den richtigen Weg zu finden zwischen Lockerung und strengen Maßnahmen, um das Zusammenstehen nicht zu gefährden”. Hier sehe er eine große Gefahr. Der Mediziner Gensichen von der Stiftung Allgemeinmedizin fordert mehr “sozialen Rückhalt und Stärkung der Selbstwirksamkeit”. Vor allem Kinder und ältere Menschen leiden unter den Alltagsbeschränkungen durch Covid-19, hebt Karl-Walter Jauch hervor.

Für den Alltag in den Hausarztpraxen wünscht Jauch sich auch eine Entlastung der allgemeinmedizinischen Praxen – etwa durch schnellere Testverfahren. Sein Kollege Jochen Gensichen möchte hierfür noch bessere Strukturen geschaffen sehen, auf die die Praxen zurückgreifen können. Das sei ebenfalls wichtig, um die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten zu verbessern: Diagnosen einzuordnen und zu erklären – mit genügend Zeit. Ein brisantes Thema, das in seiner Umsetzung für jede Hausärztin und jeden Hausarzt eine Herausforderung darstellt – und ein Thema von mehreren, die während der Podiumsdebatte angesprochen wurden.

Die vollständige Aufzeichnung des von Akademiedirektor Udo Hahn moderierten Podiumsgesprächs können Sie auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing unter diesem Link abrufen.

Dorothea Grass

Weitere Informationen
Mehr über die Arbeit der Stiftung Allgemeinmedizin finden Sie unter www.stiftung-allgemeinmedizin.de

Bild: Podium am 5. Oktober 2020 im Musiksaal der Akademie (alle Fotos: ma/eat archiv)

Dr. med. Marianne Koch, Internistin und Autorin von Gesundheitsratgebern, hausärztliche Expertin der Bayern 2-Radiosendung “Notizbuch Gesundheitsgespräch”

Prof. Dr. med. Jochen Gensichen MPH, Dipl. Päd., Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München und Gründer der Stiftung Allgemeinmedizin

Prof. Dr. med. Karl-Walter Jauch, Chirurg, Ärztlicher Direktor des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität München

Führte als Gastgeber und Moderator durch den Abend: Pfarrer Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.

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