Tagungsbericht “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film”

Stereotype Rollen, festgefahrene Strukturen und mangelnde Transparenz in Entscheidungsprozessen. Klar ist: Die deutsche Film- und Fernsehbranche braucht mehr Mut zur Veränderung. Doch wie lässt sich Wandel herbeiführen, mit alten Mustern brechen? Während der Tagung “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film”, die in Kooperation mit dem Filmfest München entstand, wurden vom 25.-27. März 2022 Missstände benannt und Lösungsansätze diskutiert.

zur Bildergalerie

“Noch immer werden oft die gleichen Geschichten aus den gleichen Perspektiven mit den ewiggleichen Gesichtern erzählt”. Gleich zu Beginn der Tagung zitierte Boussa Thiam, Moderatorin und Kulturjournalistin, diesen Satz und verdeutlichte damit die Ausgangslage: Die deutsche Medienbranche muss mehr tun für Inklusion und Diversität in Film und Fernsehen. Impulse für Veränderung wünschte sich auch Diana Iljine, Direktorin des Filmfests München, die gemeinsam mit Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing das Vorprogramm zur dreitägigen Veranstaltung “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film” eröffnete.

Dass die Gesellschaft in all ihren Facetten nicht hinreichend in deutschen Produktionen abgebildet wird, belegte die Fortschrittstudie zur audiovisuellen Diversität mit Zahlen, die von Prof. Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock vorgestellt wurde. Initiiert wurde die Studie in Zusammenarbeit mit der MaLisa Stiftung, die die Schauspielerin Maria Furtwängler mit ihrer Tochter Elisabeth Furtwängler ins Leben gerufen hat. Zwar habe es Fortschritte in der Geschlechterverteilung der Hauptrollen gegeben, sodass diese nun zu 47 Prozent mit weiblichen Darstellerinnen besetzt seien. Dennoch würden weiterhin vorwiegend junge, schlanke Frauen gezeigt, hauptsächlich im Kontext von heterosexuellen Partnerschaften und Beziehungen. Diese Eindimensionalität von weiblichen Rollen sei vor allem in Produktionen prominent, in denen Männer Regie führten. Eine weitere Zahl verdeutlichte die Diskrepanz zwischen gelebter Realität und filmisch abgebildeten Szenarien: 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland habe eine Migrationsgeschichte, im Kino ist das aber nur bei 15 Prozent aller Protagonist:innen der Fall. (Den Livestream aus dem Vorprogramm unserer Tagung können Sie hier abrufen.) “Es spielt eine Rolle, wer Geschichten schreibt und wer sie realisiert”, so Elizabeth Prommer. Diversität sei auch für die Zusammensetzung des Teams hinter der Kamera von Relevanz, beeinflusst diese doch die Geschichten, die auf Leinwänden und Bildschirmen erzählt werden.

Migrantische Namen in höchsten Hierarchieebenen gibt es kaum

Komplexe, facettenreiche Geschichten sind allerdings nicht nur im Kontext von weiblichen Rollen Mangelware. Neben der Tatsache, dass Personen mit Behinderung oder Migrationshintergrund, sowie als Schwarz und People of Color gelesene Menschen in der Medienbranche ebenfalls deutlich unterrepräsentiert sind, werden auch sie häufig in Kontexten gezeigt, die negative Stereotype reproduzieren. Die Schauspielerin Thelma Buabeng berichtete, wie sie als Schwarze Schauspielerin vorwiegend Anfragen für Rollen als Geflüchtete, Dienstmädchen oder Sklavin bekommen habe. Die im Jahr 2020 losgetretene internationale Bewegung gegen Rassismus, Black Lives Matter, habe zwar zu Veränderung geführt und durch Initiativen wie Buabengs „Black Womxn Matter“ zu mehr Empowerment und stärkerer Vernetzung verholfen. Doch außerhalb dieser Community blieben Formate und Sendungen, die Vorurteile und Rassismus reproduzierten keine Seltenheit und seien immer wieder ein Schlag ins Gesicht.

Migrantische Namen seien kaum präsent in den höchsten Hierarchieebenen der deutschen Filmbranche, so Showrunner, Produzent und TV-Journalist Memo Jeftic. Er sprach mit Literatur- und Kulturwissenschaftler PD Dr. Özkan Ezli von der Universität Konstanz darüber, warum es so schwerfalle, Migrationsgeschichte zu erzählen. Er sieht ein “Diskursphänomen”. Der Film habe auf der einen Seite die Aufgabe, als “Wunschmaschine” zu fungieren und Fantasiegeschichten zu erzählen und auf der anderen Seite gesellschaftliche Realitäten zu spiegeln. Gerade öffentlich-rechtliche Sender hätten einen Bildungsauftrag und damit die Aufgabe, die Komplexität der Gesellschaft möglichst facettenreich abzubilden. Darüber hinaus berge Kino und Fernsehen das Potenzial, Sehgewohnheiten zu verändern, gesellschaftlich Marginalisiertes zu normalisieren: Dafür müsse man für mehr Vielfalt vor sowie hinter der Kamera sorgen und nach neuen Geschichten suchen. “Neue Geschichten gibt es schon”, setzte Schauspielerin Sheri Hagen dem entgegen. Festgefahrene, diskriminierende Strukturen verhinderten aber, dass diese Geschichten erzählt und sichtbar gemacht würden.

Geschichten von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft sprechen lassen

Sheri Hagen ist auch Protagonistin des Kurzfilms “I am” von Schauspieler und Regisseur Jerry Hoffmann. In dem Film gehe es nicht um Rassismus, sondern schlichtweg um zwei Frauen, die mit ihren Träumen und Traumata umgehen und miteinander auskommen müssten. Nicht oft habe sie die Gelegenheit gehabt, eine solche Rolle zu spielen, so Sheri Hagen. Komplexe Rollen seien selten für BIPOC, bestätigte auch Jerry Hoffmann.

“Lasst zu, dass die Geschichten von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft sprechen”, so Cherish Oteka, Produzentin des mit dem BAFTA Award 2022 ausgezeichneten Kurzfilms “The Black Cop”. Ihr Film sei die Geschichte aller, die auf der Suche nach dem Selbst seien. Man müsse endlich wegkommen von der Vorstellung, dass bestimmte Erzählungen nicht von der breiten Masse verstanden werden könnten, dass das Erlebte und die Emotionen keinen Anklang finden würden.

Wie Diversität in der britischen Medienbranche gezielt gefördert wird, darüber berichteten zwei Vertreterinnen des British Film Institute (BFI): Die Direktorin des British Film Funds, Oscarpreisträgerin und Produzentin Mia Bays, sowie Inklusionsbeauftrage (Industry Inclusion Executive) Melanie Hoyes. Alle Projekte, die sich am BFI um Fördergelder bewerben, müssten die Diversitätsstandards der Institution erfüllen. Es werde nicht nur explizit darauf geachtet, dass Repräsentation in der Besetzung vor der Kamera und im Team hinter der Kamera mitgedacht wird. Zusätzlich gehe es auch darum, dass Filme für ein möglichst breites Publikum zugänglich gemacht werden, beispielsweise durch Audiodeskriptionen und Untertitel, und dass benachteiligten Personengruppen ein Mehrwert in Form von Trainingsangeboten oder Beförderungen geboten wird. Es sei wichtig, darauf zu achten, wer nicht im Bild sei, wer nicht dazu eingeladen werde, seine Geschichte zu erzählen, so Mia Bays. Gatekeeper und Schlüsselfiguren auswechseln, Zugänge und Chancen offen gestalten, Strukturen schaffen, die konsequent gegen Mobbing und Rassismus vorgehen, mit betroffenen Communities kooperieren – es sind Impulse und Lösungsansätze wie diese, die auch hier in Deutschland angewendet werden könnten – oder auch “a light to shine in”, wie Mia Bays es nannte. Als einen wichtigen Punkt nannten die Vertreterinnen des BFI unter anderem Sprache, die sowohl ausgrenzend als auch integrierend wirken kann. Es sei unumgänglich, sich die Barrieren im Umgang miteinander bewusst zu machen. Das BFI hat aus diesem Grund Leitlinien für die Filmbranche erstellt, die als Hinweise für jedes Unternehmen funktionieren können, um Benachteiligungen zu verhindern und ein Bewusstsein für nichtdiskriminierende Sprache schafft (hier nachlesen).

Welche Geschichten erzählt der deutsche Film? Welche hingegen nicht? Dieser Frage widmete sich eine Paneldiskussion mit Duc Ngo Ngoc, Narges Kalhor, Haley Louise Jones, Sheri Hagen und Sara Fazilat. Was sowohl in dieser Debatte als auch im Verlauf der Tagung immer wieder deutlich wurde: Diversität wird in der deutschen Film- und Medienbranche nicht selten als Risiko betrachtet. Es gebe so viele Ideen und Projekte, die keinen Zugang zu Finanzierung bekämen, so Regisseurin und Drehbuchautorin Narges Kalhor. Es brauche hier einerseits mehr Transparenz, andererseits mehr Mut, neue Erzählweisen und Perspektiven zuzulassen. Ein konkreter Vorschlag von Schauspielerin, Regisseurin und Produzentin Sara Fazilat (zu sehen im Film “Nico”): Gerade GEZ-Einnahmen könnten umverteilt und dafür genutzt werden, als “risikolastig” eingestufte Produktionen zu ermöglichen und Diversität eine Plattform zu bieten. Von der Assoziation, Inklusion mit einer automatischen Qualitätsminderung zu verbinden, müsse man sich dringend lösen. Teams und Gremien diverser besetzen, das würde von Vornherein einerseits für mehr Verständnis und Offenheit sorgen und andererseits die Möglichkeit schaffen, Talente zu hören und zu sehen, die sonst untergegangen wären, so eine Anmerkung von Regisseur Duc Ngo Ngoc.

“Ivie wie Ivie” von Regisseurin Sarah Blaßkiewitz hat ebendiese Talente sichtbar gemacht und konnte gleichzeitig das Risiko-Narrativ widerlegen. In ihrem mittlerweile mehrfach ausgezeichneten Film geht es um Identität und Familie, aber auch um Diskriminierung und Rassismus. Hauptdarstellerin Haley Louise Jones sprach auf dem Podium gemeinsam mit ihrer Kollegin Sheri Hagen über die Hürden, die sie als Schwarze Schauspielerin überwinden müsse, über die Zusammenarbeit am Set und die persönliche Bedeutung des Films.

Das Erzählen von Diversität als gesamtgesellschaftliches Interesse

Ein weiteres Panel spürte Entscheidungsprozessen in Produktionsleitung, Fernsehsendern und Filmförderungen nach. Um einen Strukturwandel herbeizuführen, brauche man mehr Diversität in Entscheidungspositionen, so Schauspieler und Produzent Tyron Ricketts, der nach Jahrzehnten der erfolglosen Suche nun seinen Filmstoff über den ersten Schwarzen Polizisten in Sachsen in Zusammenarbeit mit Disney+ produziert (“Sam – ein Sachse”). Auch an den Filmhochschulen müsse man mehr Raum für Diversität bei Studierenden wie Dozierenden schaffen, fügte Jan Krüger, Produzent und Verleiher bei der Port au Prince Film & Kultur Produktion GmbH, hinzu. Dass Sender wie der Bayerische Rundfunk bereits versuchten, ihre Programme und Produktionen inklusiver zu gestalten, unterstrich BR-Redakteurin Fatima Abdollahyan. Sie sieht öffentlich-rechtliche Sender hier klar in einer Bringschuld. Die Ergebnisse dieser Bemühungen dürften aber nicht allein in den Mediatheken hochgeladen werden, ihnen sollte auch im Fernsehprogramm mehr Raum gegeben werden, dafür plädierte Nico Hofmann, Regisseur, Produzent und Geschäftsführer der UFA GmbH. Sein Unternehmen hatte sich Ende 2020 verpflichtet, mehr Diversität vor und hinter der Kamera umzusetzen. Ziel: bis zum Ende des Jahres 2024 im Gesamtportfolio seiner Programme eines Jahres die tatsächliche Diversität der Gesellschaft abzubilden. Als Orientierung gelte der Zensus der Bundesregierung. (Erste Ergebnisse hier abrufen.)

Filme trügen zum demokratischen Prozess bei, fügte Dorothee Erpenstein hinzu, Geschäftsführerin des FilmFernsehFonds Bayern, die mit ihrer Institution die Tagung förderte. Das Erzählen von Diversität müsse als gesamtgesellschaftliches Interesse wahrgenommen werden.

Wie lässt sich Diversität finanzieren? Damit beschäftigte sich einer von vier Workshops während der Tagung. Gerade in Deutschland stehe verhältnismäßig viel Geld für die Filmförderung zur Verfügung. Vielmehr müsse also eine gerechtere Verteilung angestrebt werden, so Philipp Kreuzer, Produzent und Geschäftsführer von Maze Pictures und Aufsichtsratsvorsitzender von German Films. Einerseits müssten hier die öffentlich-rechtlichen Sender in der Finanzierung von Diversität proaktiv vorgehen. Entscheidungsprozesse sollten transparenter gestaltet werden – beispielsweise dahingehend, nach welchen Kriterien Gelder verteilt und Projekte ausgewählt werden. Aber auch auf Bundesebene könne mehr getan werden, etwa hinsichtlich der Harmonisierung von Diversitätsstandards.

Diversitätsbewusstsein in der Filmerziehung

In der Diskussion des Workshops “Diversität vermarkten” sprach Filmproduzent Jan Krüger unter anderem davon auch Zielgruppen anzusprechen und zu erreichen, die beispielsweise aus Kostengründen nicht in die Kinos kommen könnten. Mit Unternehmen kooperieren, Events kreieren und Multiplikatoren suchen, damit man auch diese Menschen erreichen kann.  Matthijs Wouter Knol, Direktor der Europäischen Filmakademie, ging dabei auch auf die Relevanz von Filmerziehung ein: Durch Ausstrahlungen von und Diskussionen zu Filmen an Schulen könne man ein junges Publikum einbeziehen. Auch Crowdfunding sei eine Möglichkeit, Projekte mit einer besonders spezifischen Zielgruppe zu vermarkten – hier sei der Vorteil, dass es bereits vor der Fertigstellung des Films ein Publikum gebe.

Investieren in Berater:innen, Expertisen nutzen, das sei beim Verfassen eines Drehbuches wichtig. Das sagte Drehbuchautor und Regisseur Duc Thi Bui, der einen Workshop zum Thema “Diversität schreiben” begleitet hatte: Menschen brächten Erfahrungsschätze mit. Mehr Diversität brauche es außerdem in all jenen Instanzen, die Einfluss auf das Script übten, allen voran Produktionsteams.

Bereiche, in denen Deutschland – vor allem im unmittelbaren Vergleich zu Großbritannien – noch großen Aufholbedarf hat. Was kommt als nächstes? Wie kann Diversität und Repräsentation im deutschen Film und Fernsehen gefördert werden? Der dreitägige Austausch an der Akademie mündete in zahlreichen handfesten Impulsen und Anregungen: Veränderung brauche klare Leitplanken und Vorgaben, hieß es. Hier könne man das Filmförderungsgesetz heranziehen und in Bezug auf Diversitätsstandards konkretisieren. Auch die Forderung nach mehr Transparenz und offeneren Zugängen wurde immer wieder laut: Entscheidungen müssten klarer kommuniziert und begründet werden. Und DCM-Produzentin Rosh Khodabakhsh schlug die Möglichkeit zu einer dreitägigen Berufsbegleitung vor, um Interessierten einen Einblick zu gewähren und Hürden abzubauen – längere Praktika könnten sich viele Menschen nicht leisten. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Filmförderinstitutionen aus verschiedenen Bundesländern wünschte sich Sheri Hagen – gerade eine Harmonisierung der Einreichverfahren und -voraussetzungen sei gut umsetzbar, so Helge Albers, Geschäftsführer der MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, die mit einer “Diversity-Checklist” deutschlandweit eine Vorreiterrolle einnimmt (hier mehr erfahren).

Wie ausschlaggebend Diversität hinter den Kameras ist, wurde ebenfalls deutlich: in Drehbuch, Produktion, Regie und Casting ebenso wie in der Filmförderung und an den Hochschulen. In Beratung investieren, Anlaufstellen für Diskriminierung und Rassismus schaffen und eine respektvolle Sprache entwickeln, zum Beispiel durch Preferred Terms-Listen oder Sprachführer, auch das sei wichtig. Diversität müsse von Anfang an mitgedacht und auf eine selbstverständliche Art und Weise erzählt werden. Mit Klischees brechen und Diversität als Chance statt als Risiko betrachten – es wird Zeit, umzudenken, sich selbst zu reflektieren und internalisierte Vorurteile und Rassismen aufzudecken.

Diese Tagung ist ein erster Anfang, der Veränderungsansätze aufspüren konnte. Diese Veränderungen gilt es nun anzugehen.

Alessia Neuner, Dorothea Grass, Alix Michell

 

Bild: (v.l.n.r.) Dorothea Grass, Julia Weigl, Elizabeth Prommer, Thelma Bouabeng, Maria Furtwängler, Boussa Thiam, Christoph Gröner, kniend: Diana Iljine (Foto: Bojan Ritan / Filmfest München)

INFORMATIONEN AUS DER TAGUNG:

 

 

 

(Foto: Bojan Ritan / Filmfest München)

BERICHTE ZUR TAGUNG IN DEN MEDIEN:

 

Bild: Melanie Hoyes, BFI Film Fund, im Interview (Foto: Bojan Ritan / Filmfest München)

Sheri Hagen Foto: Bojan Ritan

LEKTÜRE-EMPFEHLUNG:

  • “Die Schönheit der Differenz” von Hadija Haruna-Oelker
  • “Sprache & Sein” von Kübra Gümüsay
  • “Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten” von Alice Hasters
  • “Exit Racism” von Tupoka Ogette

 

 

 

Bild: Die Schauspielerin Sheri Hagen während der Tagung “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film” in Tutzing. (Foto: Bojan Ritan / Filmfest München)

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,