Miteinander leben, reden – und streiten

Redigierte Mitschrift der Rede von Joachim Gauck (Bundespräsident a.D.) anlässlich der Verleihung des „Tutzinger Löwen“ der Evangelischen Akademie Tutzing am 9. April 2019

Sehr geehrter Herr Direktor Hahn, meine sehr geehrten Damen und Herren,

lieber Herr Professor Heuss, Ihre freundlichen Worte waren natürlich eine Erinnerung an Abschnitte meines Lebens, an die ich nicht jeden Tag denke. Haben Sie Dank für die Würdigung. Da kommt alles zusammen und erfüllt mich mit Freude.

Es ist natürlich nicht nur dieses handliche Raubtier, der Tutzinger Löwe, der mich zur Freude veranlasst, sondern auch ihre Generosität. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, mir dieses Tier zuzuwenden. Aber da bin ich auch Protestant und jetzt frage ich mich wieder: „Hab ich mich zu schnell über das Lob gefreut?“, denn sowas darf man ja eigentlich nicht so richtig zeigen. Sich freuen, das können unsere katholischen Brüder und Schwestern besser. Die mögen sich gerne mal freuen und stehen dann mit beiden Beinen fröhlich auf der Erde. Bei uns Protestanten wird eher die Kultur der Betroffenheit zelebriert. Auch darüber könnte ich jetzt reden oder auch das Leitthema „Freiheit und Verantwortung“ noch mal besprechen. Aber ich habe mir etwas anderes vorgenommen.

Ich habe mich besonders gefreut, dass in der Begründung für die Ehrung davon die Rede war, dass, ich zitiere: „ein friedliches Miteinander von Verschiedenen in Deutschland und in Europa gelingen kann“.

Diese Formulierung enthält ja mehrere Elemente und ich finde alle diese Elemente wichtig und bedenkenswert: erstmal sagt sie, dass uns etwas gelingen kann.

Sie wendet sich also gegen jene, die so tun, als seien wir von vornherein zum Scheitern verurteilt – eine Haltung, die noch nie etwas Gutes hervorgebracht hat.

Sie sagt aber auch, dass es gelingen kann – das heißt, dass es dafür keine Garantie gibt, sondern dass dies an Bedingungen geknüpft ist. Bedingungen, die auszuhandeln sind und die dann auch erfüllt werden müssen. Optimismus alleine reicht ebenso wenig wie das Wegschauen oder das sprachliche Ummanteln bestehender Probleme.

Weiter spricht Ihre Formulierung davon, dass es uns um ein Miteinander von Verschiedenen gehen muss: Weder um ein Miteinander von Gruppen, die alle gleich werden müssen – noch darum, dass alle Verschiedenen nur nebeneinander her leben und sich immer weiter in ihren Identitäten voneinander abgrenzen, ohne ein Miteinander im Blick zu haben.

Damit kommt Ihre Preisbegründung, ob geplant oder nicht, einem aktuellen Problem sehr nahe, und deshalb will ich mich auch vor diesen Überlegungen nicht drücken am heutigen Abend, denn ein Konzept eines echten Miteinanders der Verschiedenen formuliert absolut keine Selbstverständlichkeit. Es ist auch nicht banal oder trivial. Sondern es ist eine Vorstellung, die wir nur erreichen, wenn wir etwas ändern an der Art und Weise, wie wir miteinander leben und reden und streiten.

Bisher, so meine ich, erreichen wir sie nur partiell und oft gar nicht – und zahlen dafür einen hohen Preis.

Warum glaube ich das und was ist der Preis? Was hindert uns daran, uns bei öffentlichen Debatten in einem Miteinander der Verschiedenen zu begegnen? Die Ausgangslage: Wir sind ein Einwanderungsland, die Pluralität von Ethnien und Religionen hat sich wohl so stark erhöht wie nie zuvor in deutscher Geschichte.

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