Also hat Gott die Welt geliebt – Hans Küng zum Abschied

Mehrfach weilte Hans Küng (19.03.1928 – 06.04.2021) auch in der Evangelischen Akademie Tutzing. Geboren am Sempacher See (bei Luzern), ordiniert auf den Menschenfischer vom See Genezareth, ist er auch im Starnberger See geschwommen. Er hielt sich fit. Und ackerte unermüdlich an seinen Themen. 1995 bei Weltethos & Weltpolitik, 1997 zur Weltinnenpolitik und 2012 auf dem Symposion Literatur. Zensur. Verfolgung. Er strahlte, begeisterte, argumentierte, wurde still und hörte aufmerksam zu, der Nuancen wegen, noch mehr aber den Menschen zuliebe. Eine persönliche Erinnerung von Studienleiter Dr. Jochen Wagner.


Hans Küng im Alfa Romeo Giulia. Eine kleine Filmsequenz zeigt den streitbaren, weltberühmten Theologen am feinen Holzlenkrad seiner macchina italiana sichtlich heiter. Offensichtlich führt die Autobahn gen Süden. Gleichviel liebte er es, im hauseigenen Schwimmbecken diszipliniert täglich seine Bahnen zu ziehen. Auch auf Skiern sah man den Ästheten, mitunter der Eitelkeit gescholten, elegant in Fahrt. Für das große Werk eines Barthold Heinrich Brockes Irdisches Vergnügen in Gott (1721ff) war er ein formidabler Zeuge. Doch lebte Hans Küng, am 6. April 2021 in seiner Wahlheimat Tübingen 93-jährig verstorben, eine Passion theologischer und philosophischer Existenz, die kein reines Vergnügen, sondern vielfach eine Leidensgeschichte war. Zeitlebens scheute er als Schüler, Student, Priester, Wissenschaftler, Hochschullehrer und Stiftungsdoyen kein heißes Eisen.

Getrieben von einer unerschöpflichen Leidenschaft für die Botschaft Jesu von Nazareth, arbeitet er in, mit und wider seine Kirche für das Reich Gottes. Das treibt schon den Studenten der Theologe und Philosophie an der Gregoriana in Rom an und zündet mit der in Paris auf Französisch verfassten Doktorarbeit mit dem Titel Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung (1957) einen vitalen Impuls: Während Küng emphatisch für die Ökumene wirbt, wird für ihn, von der Kurie der Irrlehre verdächtigt, in Rom die Akte 399/57i angelegt. Hans Küng steht auf dem Index. Das schmerzt. Doch unterwegs “zur Sache” denkt er nicht strategisch. “Früh muss sich krümmen, wer Kardinal werden will”, reimt er in einem Interview – und ficht alsdann Jahre unverdrossen für das Zweite Vatikanische Konzil. Als dessen Berater sucht sogar Papst Paul VI. 1965 das Gespräch mit Küng. Der Versuch, Küng mit einem Lob seiner Schriften kirchenkritisch zu entschärfen, ja in die klerikale Zweckrationalität einzubinden, scheitert jedoch. Voll robustem Selbst- wie frommen Gottvertrauen nährt solch systemische Affirmation Küngs Hunger nach drängendsten Reformen in der Kirche und ihrer dringenden Öffnung für weltweite, politische, interreligiöse Perspektiven.

Es haben seine weltlichen Neigungen, existenzielle Quellen seines Selbst, und sein unglaubliches, auch über seine Kapazitäten gehendes Arbeitspensum, sichtlich einen gemeinsamen Eros: fare bella figura (einen guten Eindruck machen). Achtsam wie in seiner Selbstsorge, ist er auch in seinen Schriften, Vorlesungen und Seminaren, insbesondere im Gespräch: das Anderssein des Anderen vernehmen, verstehen, respektieren, wo nötig kritisieren. Von sublimen Vereinnahmungen alla anonymes Christentum oder anonymes Christuswirken hält er nichts (mag’s anonima auch im Namen Alfa Romeo, der Società Anonima Lombarda Fabbrica Automobili stehen).

Sein ganzes Leben streitet er mit Rom

Der gebürtige Schweizer, geboren am 19. März 1928 in Sursee am Sempacher See, aufgewachsen im elterlichen Schuhmachergeschäft, ist ein Rebell, ein Wilhelm Tell der Religion, aber ein herzlicher: Also hat er, Gott ähnlich, die Welt geliebt. Es lockt nach Sprachspiel und Schusters Leisten: Sein ganzes Leben streitet er mit Rom. Den Päpsten, derer er sieben erlebt, lebt er seinen Stil vor. Mögen sie Pontifex heißen – aber es reicht nicht, die Brücken zu bauen. Erst mit dem Hinübergehen, dem Überschreiten, wörtlich transzendieren, wird ein Schuh draus. Küng steht fest auf beiden Beinen, um den Reformen den Boden zu bereiten. Wie sein Schweizer protestantischer Kollege Karl Barth wendet er die ideologiekritischen Feuerbach-Thesen von der radikalen Umkehrung des Oben ins Unten, des Himmlischen ins Weltliche, des Heiligen ins Profane, des Hierarchischen ins Geschwisterliche, des Egomanen ins Solidarische, ja auch des Androzentrischen ins Geschlechtergleichberechtigte, der Knechtschaft in die Freiheit an. Mit der lateinamerikanischen Spiritualität der Befreiung oder Hölderlins Motto zum Hyperion, d.h. dem Grabspruch des Ignatius von Loyola, Non coerceri maximo, contineri a minimo – divinum est (was nichts Größeres über sich hat, und noch das Kleinste in sich birgt – heilig ist‘s) fokussiert er, wie es seine unvollendete Habilitation Menschwerdung Gottes über die Philosophie Hegels vorzeichnet, auf die Humanität Gottes: Was du oben anhimmelst, macht es dich auch unten menschlich? So wächst aus der wissenschaftlichen Kritik – Küng ist ab 1960 (Teenie-)Professor für Fundamentaltheologie an der Uni Tübingen – Buch um Buch und mancher Bestseller: Die Kirche (1967), Unfehlbar? Eine Anfrage (1970), Mysterium Ecclesiae (1973), Christ sein (1974), Existiert Gott? (1978), Schriften zur Ökumene, den Weltreligionen und zum Weltethos (1980ff), Die Frau im Christentum (2001), Was ich glaube (2009), Ist die Kirche noch zu retten? (2011), Glücklich sterben? (2014, Erlebte Menschlichkeit (2014). 24 Bände umfasst die Gesamtausgabe der Werke von Hans Küng. Über 22.000 Seiten scheut er sich auch nicht vor heiklen Themen wie Empfängnisverhütung, Abtreibung, Eucharistie für Geschiedene, Frauenordination, Zölibat und zu Missbrauch und Sexualität, wie zu Natur, Ökologie und Ökonomie.

Sein fare bella figura hat ein eigenes Profil. Wenn sein Universitätskollege und späterer Widersacher als Chef der Glaubenskongregation und Papst, Professor Joseph Ratzinger, auf einem Fahrrad unterwegs (weil ohne Führerschein), 1968/69 unruhiger Studierender wegen dem Seminar lieber fern zuhause blieb, wurde der Charismatiker Küng von den Protesten der jungen Leute inspiriert. Nicht mit der Bibel, mit dem Grundgesetz in der Hand zeigte er Haltung.

Küngs Adressat: die globale Welt

Doch aller Mut half Küng nichts gegen die ärgste Wunde und die, wie er bekennt, schlimmste Zeit seines Lebens von Dezember 1979 bis April 1980. Unerwartet entzog ihm Rom seine venia legendi kurz vor Weihnachten am 18. Dezember 1979. Er er-fuhr diese Kränkung ohne Rechtsverfahren sprichwörtlich beim Skifahren. Er, von 1963 bis 1980 Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie und Direktor des Instituts für Ökumenische Forschung der Universität Tübingen, war der Lehrerlaubnis beraubt. Und jetzt, aus der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen ausgeschlossen? Nun kam ihm die Welt zu Hilfe: Baden-Württemberg und die Universität Tübingen errichteten ab 1980 für Küng eine fakultätsunabhängige Professur für Ökumenische Theologie und machten ihn zum Direktor des Instituts für ökumenische Forschung der Universität Tübingen. Von da an war Professor Küngs Adressat die globale Welt.

Rehabilitiert werden sollte Küng indes nie. Auch das Jahre spätere Gespräch mit Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, 2005 in Castel Gandolfo, ergab keine Versöhnung. Dennoch atmet Küngs neue Vision mit der Stiftung Weltethos, deren Präsident er bis März 2013 war, eine große Nähe zu Jorge Mario Bergoglio’s Enzyklika Fratelli tutti. Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Zur Stiftung Weltethos legte Hans Küng 1989 sein Basispapier vor: “Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Friede unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Standards. Kein Überleben unseres Globus in Frieden und Gerechtigkeit ohne ein neues Paradigma internationaler Beziehungen auf der Grundlage globaler ethischer Standards.” Was Wunder, dass der nonkonforme Kosmopolit auch – 350 Orte hat er zu seinem die Ökumene erweiterten Projekt Weltreligionen und Weltethos besucht, dabei 1993 in Chicago vor dem Parlament der Weltreligionen, 2001 nach 9/11 bei Kofi Annan vor der Uno gesprochen – auch Martin Luther Küng gerufen wurde.

Was verbinde alle Menschen über alles Trennende, wenn nicht die eine Welt?

Seine Vision war, mit seinen vielen befreiungstheologischen Freunden gesprochen, auch Compassion. Also hat Küng die Welt geliebt. Küng, oft jugendlich, ein attraktiver Mensch, die anmutende Rauheit seiner Stimme, hat die Weltenliebe von Haus aus einfach gelebt. War er doch ein Hans, in feinem Zwirn und gut beschuht, statt ein Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein. Er lebte den Wettstreit, die Competition, vom lateinischen cumpetere, gemeinsam etwas bestreben wie (er)beten. Denn hierbei spielen Konkurrenz und Kooperation zusammen. Philosophisch war er Hegelianer. Vom Wahnwitz des Eigendünkels zum Gesetz des Herzens führe der Weg über Arbeit und Demut. Doch nur, wo jemand seine Ideale nicht auf dem Sofa vor der garstigen Welt schütze. Vielmehr wo man seine Passionen, Werte und Ideen mit den Widersachern und Gegensätzen mischt und mengt, um so, vom Herzschlag für das Wohl aller getrieben, die Unterschiede, la différance zu feiern. Ja, es ging immer auch um Politik, um das Heils- als Weltgeschehen. Lobt nicht das fare bella figura gerade die Unähnlichen? Küng konnte wettern und Küng konnte lachen. Als wollte er daran erinnern, dass Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft nicht nur was schön sei, was uns interesselos wohl gefalle und: vergnüge, entfalte, sondern auch die Frage, was dürfen wir hoffen? Es ist denn nicht weit zu seinen Tübinger Kollegen Ernst Bloch und Jürgen Moltmann, auch über das Spielerische das Hoffen zu lernen.

Bei Küng spürte man die Zuversicht, dass Traum und Tat Geschwister sind, dass man in der Welt zuhause sein kann – wie er oben über Tübingen in Waldhäuser mit weitem Blick bis zum persönlichen Umgang in auch geselliger Nähe. Bevor Gott uns Heil schenkt, gewährt er uns das Leben auf dieser Welt. So sieht Küng in der profanen Ordnung des Glücks eben Bilder gelingenden Lebens, die eine inquisitorische Institution der Macht oft vermissen lässt. Am Entstelltsein der sakralen Ordnung der Erlösung durch das Einhergehen des Heiligen mit Gewalt hat er lebenslang gelitten. Denn was verbinde alle Menschen über alles Trennende, wenn nicht die eine Welt? Ist nicht Hans Küngs Vermächtnis Weltethos eine einzige Andacht zur Welt als Geheimnis Gottes?

Lieber Subjekt eigenen Begehrens als entmündigtes Objekt

Ja, für Hans Küng entstand Transzendenz seitwärts. Dieses menschliche lumen naturalis hat er in den nahen wie den fernen Narrativen von Religionen und Kulturen gesucht: Menschwerdung des Menschen als kleinstes gemeinsames Vielfaches aller Weltdeutungen. Dafür ist er auch mehrfach nach Tutzing gekommen. Geboren am Sempacher See, ordiniert auf den Menschenfischer vom See Genezareth, ist er auch im Starnberger See geschwommen. Er hielt sich fit. Und ackerte unermüdlich an seinen Themen. 1995 bei Weltethos & Weltpolitik, 1997 zur Weltinnenpolitik und 2012 auf dem Symposion Literatur. Zensur. Verfolgung. Er strahlte, begeisterte, argumentierte energisch und wurde still, hörte aufmerksam zu, nicht nur der Nuancen, sehr den Menschen zuliebe. Er wurde persönlich, auch zornig, und zeigte Demut für ein privilegiertes Leben, Dank für die vielen Verbündeten. Und hatte Humor. Ob er den Witz kenne, warum er nicht Papst geworden sei? Ja, weil er dann angeblich nicht mehr unfehlbar wäre. Auf der Feier der Uni zum Emeritus meinte er über seine Laudatoren: “Herr, vergib ihnen ihre Übertreibungen, aber vergib auch mir mein großes Gefallen an ihnen.” Da war wieder sein rebellischer Stil, das Vermögen, etwas Schwerem die Erscheinungsweise von Leichtigkeit zu stiften.

Bis zuletzt wollte Hans Küng lieber Subjekt eigenen Begehrens als entmündigtes Objekt sein. Weil er ans ewige Leben glaube, wolle er auch in eigener Verantwortung über Zeitpunkt und Art seines Sterbens entscheiden. Nochmals ein Affront gegen die kirchliche Lehre, doch aus Erfahrung – experientia facit teologum, Als junger Priester das qualvolle Sterben seines Bruders und die Demenz des Freundes Walter Jens zu erleben, zuletzt an Parkinson und Makuladegeneration leidend, all das hat Küng eine Art emanzipatorischen Trotz gelehrt. “Glückliches Sterben” sei kein “Selbstmord”, sondern ringe um ein menschenwürdiges Lebensende. Er ist zuhause gestorben, “nicht lebensmüde, lebenssatt”. Sein Grab hatte er sich längst auf dem Tübinger Stadtfriedhof nahe der letzten Ruhestätte seines engen Freundes Walter Jens ausgesucht. Wer ist schon gern allein.

Dr. Jochen Wagner

Bild: Hans Küng 1995 in Tutzing (Foto: Manuela Klare)

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