Nachruf auf Antje Vollmer

Im Mai hätte die frühere Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und Grünen-Politikerin erster Stunde ihren 80. Geburtstag gefeiert. Am 15. März ist Antje Vollmer gestorben. In einem persönlichen Nachruf würdigt Willi Stöhr, Pfarrer i.R. und früherer Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing, die Politikerin und Theologin.

Antje Vollmer habe ich 1988 durch die Tagung Grün gewählt, je gereut? kennengelernt. Das war die Zeit grüner Flügelkämpfe: Wir hatten streitende Fundis und Realos eingeladen. Sie stach hervor, weil sie vehement auf Dialog setzte und sich zielstrebig für einen Aufbruch aus der Krise engagierte. Dass der gelungen ist, kann man daran sehen, dass die Grünen zehn Jahre später Regierungspartei waren.

Ihr Engagement für Konfliktlösungen, Dialog und Versöhnung zeigte sich auch bei brisanten Themen: Als sich die Gewaltspirale der RAF durch die Morde an Karl Heinz Beckurts und Gerold von Braunfels immer weiterdrehte, rief sie bei mir an und fragte, ob die Akademie nicht bereit wäre, eine nichtöffentliche Konsultation zur Terrorismusdiskussion durchzuführen. Es gelang uns, Staatssekretär Klaus Kinkel, Spitzen des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie der Bundesanwaltschaft mit aus der Haft entlassenen früheren RAF-Mitgliedern an einen Tisch zu bringen. Ergebnis war die damals höchst umstrittene Dialoginitiative Antje Vollmers mit RAF-Häftlingen in Gefängnissen, um Gewalt zu durchbrechen: Aus heutiger Sicht ein wichtiger Baustein zur Auflösung der RAF. Nie wieder habe ich in Tutzing so viele Polizisten in Zivil gesehen, die rund um die Akademie postiert waren.

Antje Vollmer ging es aber auch um die großen politischen Themen. Kurz nach dem Mauerfall fragte sie, was die Akademie als historischer Ort der Brandt’schen Ostpolitik jetzt vorhabe. So entstand im Januar 1990 die Konsultation Neue Antworten auf die Deutsche Frage. Kurt Masur, Jens Reich, Konrad Weiß und andere Bürgerrechtler sowie Staatsvertreter der DDR trafen auf westliche Spitzenpolitiker wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Willy Brandt und Hans Dietrich Genscher. Dass dies in paritätischer Besetzung gelang, war auch ein Verdienst Antje Vollmers, die in Ost und West unermüdlich für die Veranstaltung warb. Damals wurde mir auch bewusst, wie sehr sie parteiübergreifend vernetzt und geachtet war. Dies bestätigte sich auch später: 1994 wurde sie von Wolfgang Schäuble bei der Wahl zur Vizepräsidentin des Bundestages unterstützt. Auch Horst Teltschik lud sie als Chef der Sicherheitskonferenz als erste Grüne nach München ein.

Auch wenn Antje Vollmer sich wie Günter Grass ein langsameres Zusammenwachsen beider deutscher Staaten gewünscht hätte, zeigte sie sich bis zuletzt tief beeindruckt vom Mut Gorbatschows, der als “Held des Rückzugs” die Auflösung der Sowjetunion nahezu gewaltfrei hingenommen habe. Deshalb wurde er ihr ein ähnliches Vorbild wie Gandhi, Mandela oder Martin Luther King. Folgerichtig hat sie auch ihren Namen unter eine Todesanzeige für Gorbatschow gesetzt und beklagt, dass bei dessen Trauerfeier in Moskau kein einziger Vertreter westlicher Staaten anwesend war. Auf diesem Hintergrund ist auch ihr Eintreten für friedliche Konfliktlösungen und Pazifismus zu verstehen, welche aus ihrer Sicht langfristig immer wirksamer sind als Waffen. Zuletzt hat sie dies in ihrem “Politischen Vermächtnis” differenziert begründet.

Da sie als Theologin selbst aus der evangelischen Erwachsenenbildung kam, war sie mit der Arbeit Evangelischer Akademien verbunden. In Tutzing beteiligte sie sich an einer Denkwerkstatt zur Zukunft von Akademiearbeit. 2000 hielt sie eine Kanzelrede und war mehrfach bei Tagungen des Politischen Clubs. So warnte sie 2015 bei der Tagung Rußland – quo vadis? davor, Russland zu verdrängen, auch wenn es sich durch seine Militärpolitik selbst isoliere.

In den letzten Jahren ist es stiller um Antje Vollmer geworden. Dennoch war sie nicht untätig. Sie schrieb Bücher über Widerstandskämpfer gegen Hitler, engagierte sich beim Runden Tisch Heimerziehung, pflegte regen Austausch mit Kulturschaffenden wie Christoph Schlingensief und vielen anderen. Als ich sie vor einem halben Jahr zuletzt besuchte, was sie von ihrer Krankheit gezeichnet. Sie bleibt als streitbare Demokratin, unbequeme Mahnerin, und unideologische Denkerin in Erinnerung. In ihrem steten Bemühen, Streitende zusammenzuführen und so die Gesellschaft zusammenzuhalten, wird sie fehlen.

Willi Stöhr

Über den Autor: Pfarrer Willi Stöhr war früher unter anderem Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing, Pfarrer der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau und bis zu seinem Ruhestand Leiter der Evangelischen Stadtakademie in Nürnberg.

 

Bild: Antje Vollmer, damals Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, 1990 während der Konsultation “Neue Antworten auf die Deutsche Frage” an der Evangelischen Akademie Tutzing.
(Foto: Harald W. Setzwein / eat archiv)

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