Über Vögel und andere Tiere

Dankesrede der Schriftstellerin Angelika Klüssendorf anlässlich der Verleihung des Marie Luise-Kaschnitz-Preises der Evangelischen Akademie Tutzing am 19. Mai 2019.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich danke der Jury herzlich für diesen Preis, ebenso den Preisstiftern, Jens Bisky für seine schöne, mich sehr beglückende Laudatio sowie Frau Stumptner und dem Team der Evangelischen Akademie für die Ausrichtung der Tagung und dieser Preisverleihung.

Über Vögel und andere Tiere
(Kleine Auseinandersetzung über Außenseiter)

Ich habe mich gefragt, warum so viele Tiere eine nicht unerhebliche Rolle in meinen Büchern spielen. Zuerst kam mir in den Sinn, ich würde einen helleren Akzent gegen meine Heldinnen setzen wollen. Nicht, dass meine Heldinnen durchweg dunkel wären, sie sind etwas anderes: Sie sind Außenseiter. Aber warum all die Tiere?

Tiere müssen sich nicht erfinden. Sie sind einfach da. Ein Spatz bleibt immer ein Spatz. Den Tieren bleibt die Suche nach dem eigenen Selbst erspart. Das ist für meine Romanhelden eine anziehende Vorstellung, sie verspricht doch eine gewisse Sicherheit, sogar eine Art Geborgenheit. Sich nie in Frage stellen zu müssen kann doch ab und an sehr heilsam sein. Artur, die wichtigste Figur aus meinem ersten Buch, ist selbst eine Art Tier; er nennt seine Glieder und Gelenke Kroppzeug. Kroppzeug, das ihn nicht voranbringen will. Er schlüpft zu den Fröschen und sieht mit ihren Augen. Ich weiß nicht, ob das ein Trost sein soll. Aber geht es überhaupt um Trost? Glotzt er nicht viel mehr wie ein Frosch, weil er nicht weiter weiß? Weil das Leben ihn als Mensch einschüchtert? Er versucht das Röcheln einer Ratte anzunehmen und sich dieser anzuverwandeln, seine Möglichkeiten sind begrenzt.

Während Artur, ein Ausgesetzter, noch in Furcht und Schrecken verharrt, ist das rebellische namenlose Mädchen aus der über zwanzig Jahre später erschienenen Trilogie gleichwohl beschädigt, aber selbstbewusster. Die Ratte, die in einem Keller vor ihr sitzt, dient ihm als Anschauungsmaterial. Es studiert ihr Fell, schätzt die Größe, zählt sogar die Schuppenringe des Schwanzes. Das Mädchen hat keine Angst vor dem Tier, sie sind gleichberechtigt. Und nicht nur das, Tiere erscheinen als Rettung, und schließlich kann das Mädchen sie sogar aus Buchseiten auferstehen lassen. Das Mädchen im Keller eingesperrt, ohne Essen und Trinken, blättert die Seiten von Brehms Tierleben durch, bestaunt die Baukunst der Termiten, betrachtet den schwarz glänzenden Aaskäfer bei der Arbeit, begleitet die Skorpionsfliege auf ihrem ersten Flug. Dann aber lösen sich plötzlich die Tiere aus den Buchseiten, eine Feldgrille springt unter seinem Fuß hervor, mit Gesumme erhebt sich der mächtige Goliathkäfer in die Luft, eine Eintagsfliege sucht nach Wasser, während mehrere Kornmotten nach Getreide ausschwärmen. Fast könnte man meinen, dieser Keller wäre ein Zufluchtsort. Also doch Trost? Zumindest hat das Leben seinen Schrecken verloren.

Das Mädchen lässt die Tiere ausbrechen, so wie es später selbst ausbrechen wird. Wenn seine Mutter es verprügelt, stellt das Mädchen sich vor, es wäre der mächtige Goliathkäfer, es würde seine Flügel benutzen und davon fliegen. Oder: Die Mutter ein Zitterwels, der, wenn man ihn berührt, elektrische Schläge austeilt. Das ist der Grundstein für die spätere Schriftstellerin. Das Mädchen selbst sieht sich als Stabheuschrecke, entzieht sich so nicht nur dem Alptraum seiner Kindheit, sondern beginnt damit, sich selbst zu einer literarischen Figur zu machen. Es will sich nicht wegducken, unsichtbar werden wie Artur. Es stellt sich und kommt damit durch, denn sein Leben ist kein Schicksal und das Mädchen ist kein Opfer. Das ist ihm wichtig, von Anfang an.

Wir kennen alle die Momente aus der Kindheit, in denen wir uns sagten: Dieses Bild vergisst du nie. Die Magie eines Augenblickes, der dem Kind von so großer Wichtigkeit erscheint, dass es sich vornimmt, diesen Augenblick zu retten, in dem es sich vornimmt, nicht zu vergessen. Es kann der Blick aus dem Fenster sein, auf einen Vogel gerichtet, der in Freiheit davon fliegt, während man selbst flügellos zurück bleibt. Licht oder Schatten, eine bestimmte Empfindung – es ist, als wüsste bereits das Kind, wie unwiderruflich diese Zeit vorübergehen wird, und dieser Bruchteil erinnerte Zeit soll uns später die Magie zurück bringen.

Aber oft ist das, was uns bleibt, nur das Versprechen. Die Magie, das Besondere ist zerstoben. Und es ist meine Aufgabe als Schriftstellerin, diesen erinnerten Augenblick wieder zum Leuchten zu bringen und lebendig aufscheinen zu lassen.

Folgende Szene gibt es in meinem neuen Buch, das ich gerade schreibe:

Der Schnee fiel dicht vom Himmel, schluckte die Geräusche ringsherum. Hilde verharrte eine Weile auf der Lichtung, dann sah sie den Fuchs. Das Tier schoss aus dem Schnee, dehnte seinen schmalen, rötlichen Körper, die Läufe ausgestreckt, wirbelte durch die Luft, drehte sich einmal, zweimal, als wäre eine verrückte Tanzmelodie zu hören. Seiten später erzählte die Protagonistin auf einem Fest von dem tanzenden Fuchs auf der Lichtung. Sie habe noch nie etwas so Schönes gesehen, sagte sie. Ihr Gesprächspartner fragte sie nach dem Datum und klärte sie auf: Das war kein tanzender Fuchs, sagte er, diesen Fuchs habe ich geschossen.

Auch das ist wichtig, ist mir wichtig: Schreiben heißt das Leben erfassen, das, was uns ausmacht. Auch wenn der Fuchs nicht tanzt.

In meinen Büchern ist die Insektenwelt zu Hause, genauso wie Wölfe, Füchse, Kühe, Ratten, aber vor allem sind es die Vögel. 375 Vögel konnte ich in meinen Erzählungen und Romanen zählen, und ich stelle mir vor, sie kämen jetzt aus meinen Büchern heraus, hierher zu uns, die Nachtigall würde pfeifen, schluchzen, ihre Arien trillern, die Singdrossel rufen: Flieder, Flieder, Flieder, pflück ihn, pflück ihn, und der Pirol flötete für uns.

Herzlichen Dank.

Bild: Angelika Klüssendorf am 19. Mai 2019 im Musiksaal der Evangelischen Akademie Tutzing. (Foto: dgr/eat archiv)

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