Bericht einer Teilnehmerin an der Tagung „Vom Leben schreiben“

Tagung anlässlich der Verleihung des Marie Luise Kaschnitz-Preises der Evangelischen Akademie Tutzing an Angelika Klüssendorf
17. – 19. Mai 2019

Schloss, See, verschneites Gebirge, blauer Himmel – eine sonnige Atmosphäre umhüllte die Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing anlässlich der Verleihung des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises an Angelika Klüssendorf und maximierte  den Genuss dieser „Feier der Literatur“, die schon die Begründung der Jury für ihre Entscheidung betont.

Denn die Literatur spielt eine geradezu lebenserhaltende Rolle für die Protagonistin in Klüssendorfs Romantrilogie Das Mädchen, April, Jahre später. Lesend entkommt sie ihrem bedrückenden, von Ungerechtigkeit, Herzlosigkeit, Kälte und Gewalt bestimmten prekären Milieu und rettet sich in andere Welten. Der Schlussvers aus Rilkes Requiem, „Wer spricht vom Siegen, Überstehn ist alles“ scheint auch sie zu leiten.

Die Autorin der Trilogie zeichnet sich aus durch eine lakonische, prägnante, in doppeltem Sinn „treffende“ Sprache: der Leser kann sich dem Sog dieser Prosa kaum entziehen.  Hier wird geradezu exemplarisch vorgeführt, wie der Leser nicht von Gefühlen liest, sondern durch die Lektüre Gefühle empfindet. Wie gelingt ihr diese Erzählweise? „Reduktion! Reduktion! Reduktion!“ – so beschrieb Angelika Klüssendorf während der Gespräche mit dem Auditorium ihre Erzählstrategie und sprach von „harter Arbeit“, die vor der endgültigen Fassung liege.  Katja Lange-Müller, Schriftstellerin und Referierende der Tagung, beschrieb die Wirkung der Prosa der Preisträgerin am Beispiel ihrer Lektüre der Klüssendorf-Erzählungen Aus allen Himmeln. Diese Lektüre begeisterte sie und schlug sie  derartig in ihren Bann, dass sie sie nicht unterbrechen konnte und bis morgens 5 Uhr in einer Kneipe lesend ausharrte. Sie  führte letztlich  zu einem noch unveröffentlichten Text von Katja Lange-Müller, einer atmosphärisch dichten und erheiternden Beschreibung einer Nacht in einer Berliner Kneipe, „Hier allein“, den die Verfasserin dem dankbaren Tutzinger Auditorium vorlas.  Ein schönes Beispiel dafür, wie Literatur Literatur generiert!

Thomas Geiger, Mitglied der Jury des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises , stellte diese begeisterte Leserin – ihrerseits Trägerin zahlreicher Preise und Auszeichnungen wie etwa des Ingeborg-Bachmann-Preises – und die diesjährige Preisträgerin des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises mit biographischen Details vor und moderierte die Lesungen und Gespräche zwischen den beiden Autorinnen. Er wies darauf hin, dass Kinder generell und solche aus plebejischem Milieu insbesondere, wie überhaupt plebejische Figuren („nein, Gestalten“, wandte Katja Lange-Müller ein, „denn sie werden schließlich sorgfältig und literarisch gestaltet“),  in der zeitgenössischen Literatur sonst kaum vorkommen.

An der wirkmächtigen Prosa von Angelika Klüssendorf hat auch ihr Lektor, Olaf Petersenn, seinen Anteil, den er aber, wie er in seinem Referat bzw. der anschließenden Diskussionsrunde betonte, nicht überbewertet sehen möchte. Der Moderator dieser Runde, Hajo Steinert, ebenfalls Mitglied der Jury, hob in seiner Vorstellung hingegen die eminent bedeutende Rolle eines Lektors hervor: Er sei oft Reduzierer eines Textes, darüber hinaus aber auch dessen Hebamme ebenso wie Begleiter und Seelsorger des Autors. Olaf Petersenn wies in seinem Vortrag  auf die literarischen Einflüsse der preisgekrönten Autorin hin wie etwa Das große Heft von Ágota Kristóf. Auch in diesem Werk ist von maximalem Unbehütetsein die Rede, das durch Lesen von Texten bekämpft wird, allerdings in diesem Fall durch rein funktionalen Umgang mit faktisch ausgerichteten Sachtexten, während „das Mädchen“ (und später „April“) in direktem Gegensatz dazu sich an Märchen und fiktionalen Texten orientiert und sie als Heilmittel für die Verwundungen ihrer Seele anwendet. Wo sie sich in die Lektüre von faktisch-enzyklopädischen Werken wie Brehms Tierleben  verliert, da dienen ihr diese als Impuls zur Imagination.

Angelika Klüssendorf, die in der DDR in prekärem Milieu aufgewachsen und 1985 nach Westberlin gegangen ist, lässt ihre eigene Lebenserfahrung in ihre Texte einfließen. Das Thema „Das Authentizitäts-Paradox. Über das Eigene schreiben“ behandelte der Schriftsteller Stephan Wackwitz und stellte akribische Reflexionen über „schwach oder unzuverlässig idealisierte Autobiographien“ versus „stark oder zuverlässig idealisierte Autobiographien“ an. Dieser Gegensatz sei oft nicht absolut zu fassen, sondern als Kontinuum anzusehen. Auch Tagebücher ließen sich in diesen Gegensatz einordnen.  Aus seinem detailreichen Vortrag seien als Beispiele hier nur angeführt einerseits  Anton Reiser  von Karl Philipp Moritz oder auch Lebensgeschichte von Johann Heinrich Jung-Stilling, beides Texte aus dem 18. Jahrhundert, in denen Erfahrungen nicht-adeliger und nicht-bürgerlicher Individuen erzählt werden, und andererseits Autobiographien etwa von Augustinus, Goethe, Bismarck o.a., die allesamt als zielstrebig auf Wirkung bedachte stark idealisierte Texte anzusehen seien. Die Texte von Angelika Klüssendorf könne man als stilisierte Autobiographien lesen, die, so Wackwitz, einen magischen Kurzschluss zwischen Gegenwart und Vergangenheit darstellten.

In seiner „privaten Ouvertüre mit theoretischem Zusatz zur Frage filmischer Adaption“ schilderte Torsten Schulz, Professor für Praktische Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg, seine Begegnung mit Angelika Klüssendorfs Roman Das Mädchen und diejenige mit der Autorin selbst. Beide Begegnungen lösten so starke Impulse und Emotionen in ihm aus, dass sie zum Beschluss einer Verfilmung  des Romans (einerseits) und zur Eheschließung mit seiner Autorin (andererseits) führten.  Torsten Schulz machte das Auditorium auch mit generellen Grundlagen und Überlegungen zu Verfilmungen bzw. Adaptionen bekannt und verglich Trivialtexte oder auch Dokumentar-Literatur, die leicht zu verfilmen seien, mit anspruchsvoller fiktionaler Literatur, die gewichtige Probleme bereiteten.  Fragen der Rechte des Verlags, der Verbindung zur Autor, des Regiepartners, der Finanzierung und manches andere müssten bedacht bzw. gelöst werden. Dabei gelingen aber auch immer wieder hervorragende Verfilmungen großer Texte. Die Adaption des Romans Das Mädchen ist auf gutem Weg – das Tutzinger Publikum kann sich darauf freuen.

Eine weitere Autorin wurde uns unter dem Programmpunkt „Mädchenleben“ vorgestellt: Nana Ekvtimishvili, eine Georgierin, die auch auf der Frankfurter Buchmesse von 2018, auf der ihr Heimatland Ehrengast war, ihre Werke präsentierte. Nach ihrem Studium der Philosophie in Tiflis studierte sie – bei Torsten Schulz an der Filmuniversität Babelsberg – Filmregie und -dramaturgie und realisierte ihren ersten Film Die hellen Tage. Tanja Graf, Leiterin des Literaturhauses München, befragte sie über ihren Debüt-Roman  Das Birnenfeld, ein weiteres Werk, in dem harte Lebensbedingungen von Kindern geschildert werden. In dem Schicksal der Kinder eines Kinderheimes am Rande von Tiflis spiegeln sich die Probleme des ganzen Landes. Nana Ekvtimishvili erzählte von der patriarchalischen Gesellschaft in Georgien, in der – vor allem auf dem Land und in unterprivilegierten Schichten – Frauen Gewalt erfahren. Die Romantrilogie von Angelika Klüssendorf  hat sie sehr bewegt, wie sehr, das wurde bei ihrer Lesung eines Abschnitts daraus sehr deutlich…

Diese Tagung – eine ungemein eindrückliche „Feier der Literatur“ – wurde in hervorragender Weise vorbereitet, geleitet und moderiert von Judith Stumptner, der Studienleiterin für Kunst, Kultur, Bildung, Digitales, Social Media an der Evangelischen Akademie Tutzing und stellvertretende Akademieleiterin. Die Tagung ging zu Ende mit der feierlichen Preisverleihung an die Autorin Angelika Klüssendorf, die achtzehnte in der Reihe preisgekrönter Autorinnen und Autoren. Sie ist ohne Zweifel eine Bereicherung dieses Spiegels der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Dr. Brigitte König

 

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