Begrüßungsrede von Judith Stumptner zur Verleihung des Marie Luise-Kaschnitz-Preises an Angelika Klüssendorf

Es gilt das gesprochene Wort!

Manuskript der Rede vom 19. Mai 2019

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

auch von mir ein herzliches Willkommen zu diesem Festakt, ich freue mich, dass Sie hier sind, um gemeinsam mit uns Angelika Klüssendorf zu ehren und ihre Literatur zu feiern!

Dieser Preis ist immer eine besondere Angelegenheit: denn zu diesem Preis gehört nicht nur dieser Festakt, sondern auch eine Tagung, die es erlaubt, sich ein ganzes Wochenende lang mit dem Werk einer zeitgenössischen Autorin – der Preisträgerin – auseinanderzusetzen. Wir haben das auch in diesem Jahr getan und für die die nicht dabei waren, möchte ich einen kurzen Einblick geben.

Erzählungen schreiben, so hieß es zum Auftakt der Tagung, als Angelika Klüssendorf im Gespräch mit Katja Lange-Müller die Besonderheit kurzer Erzählungen erörterte,  und sich vieles um die Formel „Reduktion, Reduktion und nochmals Reduktion drehte.
Es folgten Auseinandersetzungen mit einem großen Vorbild der Preisträgerin  nämlich Agota Kristofs Werk „Das große Heft“.  Anhand derer kam das Gespräch schließlich auf die Bedeutung von Literatur für die Figuren in Angelika Klüssendorfs Werken, bevor es dann in einem weiteren Beitrag um die Kunst und die Schwierigkeit ging, das Eigene Sein wiederum in Literatur zu verarbeiten.
Mit Beiträgen zu einer möglichen filmischen Adaption des Romans das Mädchen und mit der Erörterung von Mädchenleben in Georgien fokussierte die Tagung dann auf den ersten Band der Trilogie, die schließlich am gestrigen Abend in einer öffentlichen Lesung in Gänze vorgestellt wurde.

Ein vielfältiges Programm, das ganz unterschiedliche Einblicke in das Werk der Preisträgerin ermöglicht hat und das den Titel „vom Leben Schreiben“ tatsächlich mit Leben gefüllt hat.

Heute nun endet die Tagung mit einem Festakt, in dem wir Angelika Klüssendorf für ihr Gesamtwerk den Marie Luise Kaschnitz-Preis verleihen. Aber warum eigentlich der Marie Luise Kaschnitz-Preis? Wie kommt der Literaturpreis einer Evangelischen Akademie zu diesem Namen? Um dies zu klären, müssen wir ins Jahr 1951 zurückschauen.

Damals, genauer, im September 1951, fand hier in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Tagung mit der Überschrift „Wozu Dichtung?“ statt. Sie trug den Untertitel „Begegnung des Schriftstellers mit der jungen Generation“ und sollte im generationsübergreifenden Gespräch eine Antwort auf eben jene Frage nach dem Zweck der Poesie suchen. Das sei nötig, denn, so konstatierte der Journalist und Literaturkritiker Benno Reifenberg in seinem Auftaktvortrag, die Literatur befinde sich seit den Schrecken des Nazi-Regimes und angesichts der folgenden politischen Entwicklungen im Frostzustand. Sie sei wie Saat unter winterlichem Boden.

Glaubt man der Presseberichterstattung zu dieser Veranstaltung, ist das Konzept der Tagung nicht aufgegangen. Von Passivität der Geladenen ist die Rede, von fehlendem Humor und einer arroganten Überheblichkeit. Überhaupt, die relevanten Dichter hätten gänzlich gefehlt in diesen Tagen und von der jungen Generation sei auch nichts zu sehen gewesen.[1] Und, so eine kleine Randnotiz in den Tagungsunterlagen: Auch die Kirchenprominenz fehlte, da der Termin den einzigen ernsthaften Urlaub, den der Landesbischof sich in jenem Jahr genehmigen könne, tangierte, weshalb sein Büro ihn gar nicht erst darauf hingewiesen hatte.

Doch obwohl diese Veranstaltung so gründlich scheiterte, sollte sie in die Geschichte der Akademie eingehen. Denn ein Programmpunkt, der offiziell gar nicht gelistet war, bewegte dann doch die Gemüter. Es war die abendliche Lesung von Marie Luise Kaschnitz, die damals kurz vor ihrem großen Durchbruch als Schriftstellerin stand.

Zu reden begann ich mit dem Unsichtbaren. Anschlug meine Zunge das ungeheure Du, vorspiegelnd altgewesene Vertrautheit. Aber wen sprach ich an?“[2] – so beginnt der Gedichtzyklus, den Marie Luise Kaschnitz am 9. September 1951 hier an dieser Stelle erstmals öffentlich vortrug und den sie anschließend „Tutzinger Gedichtkreis“ nennen sollte.

Die Dichterin führte darin eine an Gott gerichtete Klage, ja, man könnte sogar sagen, eine Anklage gegen Gott, ob der Unmenschlichkeit, der Verrohung, der Kälte, der wachsenden Technisierung, Einsamkeit und Hilflosigkeit, die das Leben der Menschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren beherrschte. Obwohl das Gedicht – so der Journalist Rolf Seeliger – „manchmal etwas tragisch affektiert“ und „eigenartig dynamisch durchbrochen“[3] wirkte, faszinierte der mehrseitige Gedichtzyklus die Anwesenden. Der Münchner Merkur spricht von einer „überlegenen, unserer Zeit zu innerst verbundenen Lesung“[4] und einem Journalisten der „Schwäbischen Landeszeitung“ schien das Gedicht in seiner Gegenwartskritik gar die einzig gültige Antwort der vertretenen Dichter auf die Frage „Wozu Dichtung?“[5]

Dieses Erlebnis  also begründet die Verbundenheit unseres Hauses zu Marie Luise Kaschnitz und führte dazu, dass anlässlich ihres 10. Todestages im Oktober 1984 erstmals eine Autorin, Ilse Aichinger, in ihrem Namen ausgezeichnet wurde. Bis heute schmückt zudem das immergleiche Zitat von Marie Luise Kaschnitz die Urkunden für die PreisträgerInnen.

Das Zitat stammt aus dem 1971 entstandenen Essay  „Von der Schwierigkeit, heute die Wahrheit zu sagen“  und lautet:

„Künstlerische Wahrheit ist Treue zu sich selbst und zu seiner Zeit. […] Die Wahrheit, auch die künstlerische, ist unbequem, die Gesellschaftskritik stößt, auch in freien Ländern auf Widerstand, den neuen Formen bringen nicht nur die Böswilligen Misstrauen entgegen.“

Als künstlerische Wahrheit bezeichnet Marie Luise Kaschnitz in diesem Essay das Ergebnis eines Prozesses, den  der Schriftsteller durchläuft, indem er die Wirklichkeit in sich aufnimmt, sie von Unwesentlichem  befreit, sie in eigene Worte kleidet, in selbst gewählte Formen gießt und unter Einsatz seines Könnens in etwas Neues, Dauerhafteres, möglicherweise Wichtigeres als die dann bereits vergangene Wirklichkeit verwandelt.[6]

Wenn man weiß, dass Marie Luise Kaschnitz in ungewöhnlichem Maße und oft ohne große Verfremdung ihre eigene Biografie literarisch verarbeitet hat, bekommt dieses Zitat eine ganz unerwartete Erweiterung. Dann geht es für die Schreibenden nicht nur darum, das, was um sie herum vor sich geht aufzunehmen und in literarischer Form zu verarbeiten um auf diese Weise das Erlebte in allgemeingültigere Formen zu gießen, die auch unabhängig von der Person des Autors Bestand haben.

Vielmehr ist beim autobiographisch inspirierten Schreiben neben der Umgebung auch das Werden, Handeln und Sein der Autorin das Zentrale, das aber ebenfalls – wie Kaschnitz sagt – von Unwichtigem befreit und neu gefasst werden muss, damit es für sich stehen kann.

Etwas, das mir ungleich schwerer erscheint, erfordert es doch dem Können und der literarischen Verfremdungsarbeit Mut zur ungeschönten Auseinandersetzung mit sich selbst, verlangt es doch eine beständige Selbstverortung, macht es doch in erheblichem Maß verletzlich.

Mit dem Wissen darum, dass ein Text autobiographisch inspiriert ist, richtet sich die Aufmerksamkeit  außerdem noch einmal in anderer Weise auf die Figuren. Bei Angelika Klüssendorfs Figuren folgt man gebannt den Geschichten meist junger Mädchen, die darum ringen, ihre Würde in einem fremdbestimmten, durch Verwahrlosung und Gewalt geprägten Leben zu erhalten, sich aus der Ohnmacht zu befreien und ihren eigenen Weg zu gehen.

Dabei beeindrucken die Zähigkeit und die Willensstärke,  mit denen die Protagonistinnen trotz  widriger Umstände vorwärts gehen. Jury-Mitglied  Marie Schmidt sagte dazu: Es ist das Wollen und Wahrnehmen der Figuren, also der Menschen, die die künstlerische Wahrheit in Klüssendorfs und Kaschnitz‘ Texten ausmachen. Eine Gesellschaftskritik  also, die so weit entfernt ist von der elenden Übung des Kommentars, wie es nur Literatur sein kann.“ Und Hajo Steinert ergänzt:  „Schreiben ist Gegenwind. In jedem von Klüssendorfs Romanen offenbart sich die Widerstandskraft von Literatur“.

Meine Damen und Herren, wir zeichnen heute eine Autorin mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis aus, deren Werk in besonderer Weise bewegt. Es sind keine einfachen Themen die die Autorin bearbeitet und auch, wenn man bei der Lektüre immer wieder die Luft anhält, fesseln die Geschichten, ziehen einen unweigerlich in ihren Bann. Mehr zur Besonderheit des Werkes hören wir gleich in der Laudatio von Dr. Jens Bisky.

Gleichzeitig zeichnen wir heute auch eine Autorin aus, in deren Werk sich eindeutige Parallelen zum Werk der Namensgeberin finden:

Die literarische Verarbeitung des Eigenen ist ein gemeinsamer Punkt, der Fokus auf die Prägungen der Kindheit sowie die beständige Suche der Figuren nach Heimat, Liebe und Zugehörigkeit sind weitere. Besonders augenfällig aber ist ein Thema, mit dem auch wir uns in der Beschäftigung mit Angelika Klüssendorfs Werk gestern ausführlich auseinandergesetzt habe, nämlich: Die Bedeutung des Lesens für das Finden des eigenen Weges, der Einfluss von Literatur auf das eigene Werden, der Halt, den Schreiben und Lesen bedeuten können.

In Angelika Klüssendorfs Trilogie bietet diesen Halt zunächst Brehms Tierleben und ein Grimmsches Märchen. Etwas später die Geschichte des GFrafen von Monte Christo. Freud und Rielke und Beckett tauchen auf Und schließlich kommt man gar nicht mehr nach mit dem Zählen der genannten Lektüren.

In der Begründung für die Wahl von Angelika Klüssendorf heißt es so unter anderem  über die drei letzten Romane auch: Diese Trilogie über fortschreitenden intellektuellen Eigensinn und Selbstbehauptung ist nicht zuletzt eine Feier der Literatur, die für die Protagonistin schon als Kind Rettung und Erlösung bedeutete. Damit steht Angelika Klüssendorf in der Tradition großer deutscher Erzählerinnen wie auch Marie Luise Kaschnitz.

Eine Feier der Literatur, die begehen wir heute. Und gefeiert wird das Werk Angelika Klüssendorfs. In das uns Jens Bisky in seiner Laudatio gleich noch einen tieferen Einblick geben wird!

Davor hören wir noch einmal Musik und ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

[1]    Vgl. Rolf Seeliger, Wozu Dichtung – fragen Dichter?, 15.9.1951 und „Unser Anteil an der Not des Geistes“, Münchner Merkur, 12.9.1951.

[2]    Kaschnitz Gedichte. Ausgewählt von Elisabeth Borchers. Insel Verlag, 2002, S.35-46

[3]    Rolf Seeliger, Wozu Dichtung – fragen Dichter?, 15.9.1951

[4]    Max Ruland; Unser Anteil an der Not des Geistes, Münchner Merkur, 12.9.1951

[5]    O.B.: Wozu dichten? – Schwäbische Landeszeitung, 21.9.1951

[6]    Vgl. Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke, Band 7, Die Essayistische Prosa, Insel Verlag 1989, S. 337-340

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