Meşale Tolu hat im Gefängnis Solidarität gelernt

Die gebürtige Ulmerin mit kurdischen Wurzeln wurde im April 2017 in Istanbul festgenommen, während sie in der Türkei als Übersetzerin und Reporterin arbeitete. Der Vorwurf: Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Fast acht Monate musste sie in Haft verbringen ehe sie mit ihrem kleinen Sohn aus dem Gefängnis freikam. In Tutzing erzählte sie, wie sie trotz Demütigungen und willkürlicher Repressionen erhobenen Hauptes in die Freiheit ging.

„Die Kraft der Frauen“ hieß die Tagung, zu der Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel und Studienleiter Dr. Jochen Wagner am letzten Februar-Wochenende Referentinnen eingeladen hatten, die alle einen eigenen Beleg für den Tagungstitel lieferten: Die Bürgermeisterin Marlene Greinwald, die Historikerin und Autorin Prof. Dr. Miriam Gebhardt, die Ärztin Dr. med. Sonja Herzberg, die Juristin Valerie Holsboer, die Pfarrerin und Seelsorgerin Karoline Labitzke, die Rechtsprofessorin Dr. Silke Ruth Laskowski, die Präsidentin der Bundeswehruniversität Prof. Dr. Merith Niehuss, die Musikerin und Komponistin Monika Roscher, die Bayerische Staatsministerin für Wohnen, Bau und Verkehr, Kerstin Schreyer, die Unternehmerin und Stifterin Dr. Kirsten Schrick, die Bäuerin Christine Singer, die Journalistin und Podcasterin Barbara Streidl, die Journalistin Susanne Hermanski sowie die Journalistin und Crossmedia-Volontärin der „Schwäbischen Zeitung“ Meşale Tolu.

Der Beitrag der 36-jährigen Tolu war der letzte der Tagung – und er hinterließ einen bleibenden Eindruck. Im Gespräch mit Ulrike Haerendel erzählte die Journalistin von ihrer Inhaftierung in der Türkei, der Zeit im Gefängnis und der Zeit danach.

Wendepunkt 2012/2013

Als Kind habe sie nicht viel Zeit in der Türkei verbracht, nach ihrem Lehramt-Studium zog es sie in den Journalismus und dafür – in die Türkei. Sie übersetzte für die Nachrichtenagentur ETHA und berichtete seit 2014 für den privaten Radiosender Özgür Radyo in Istanbul. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde der Sender per Regierungsdekret von der Regierung Erdogan geschlossen.

Der Moment, den sie als Wendepunkt in der türkischen Politik beschreibt, datiert sie nicht auf den Sommer 2016 als es zum Putschversuch kam. Tolu sagt, die Wende habe etwa 2012/2013 stattgefunden, als die türkische Regierung den Friedensprozess mit den Kurden aufkündigte. Von diesem Zeitpunkt an sei es schwieriger geworden, sich als Medienschaffende frei auf den Straßen zu bewegen. Sie als junge Journalistin habe die politische Situation hingegen als interessant empfunden und die Chance ergriffen, dort in den Beruf einzusteigen. „Alles, was ich über den Journalismus gelernt habe, habe ich in der Türkei gelernt“, sagt sie heute und meint damit vor allem, mit wenig Ausstattung und (Wo-) Manpower als Reporterin unterwegs zu sein. Sie habe damals alles selbst gemacht: Fotos, Bild- und Tonaufnahmen, Texte geschrieben und Seiten produziert.

2014, mit 30 Jahren, brachte Meşale Tolu ihren Sohn zur Welt. Nach der Geburt pendelte sie weiter zwischen Deutschland und der Türkei. Im Sommer 2016 veränderte sich die Situation für Journalistinnen und Journalisten, die aus der Türkei berichteten, gravierend. Auch vor Erdoğan sei die Presse nicht frei gewesen, so Tolu. Ihr sei bewusst gewesen, dass es Journalisten schwer haben in dem Land, vor allem aber sei ihr bewusst gewesen, dass es Frauen in der Türkei schwer haben. Dennoch habe sie bis zu ihrer Verhaftung nichts von einer Überwachung durch den Staat bemerkt.

Die Gewalt während der Verhaftung hat sie am meisten verstört

Dann wurde Deniz Yücel verhaftet. Tolu übersetzte deutsche Berichte darüber ins Türkische, damit die Menschen in der Türkei von dem Fall erfahren konnten, „bis dahin hatte die Öffentlichkeit in der Türkei ihn ja nur als Terroristen kennengelernt.“ Tolu wollte, dass die Menschen wissen, dass Yücel ein Journalist ist – „und zwar ein guter.“ Kurze Zeit später wurde auch Tolus Mann, ebenfalls ein Journalist, verhaftet, drei Wochen später sie selbst – kurz bevor sie das Land mit ihrem zweijährigen Sohn hatte verlassen wollen.

Was sie bei ihrer Verhaftung am meisten verstört habe, sei der gewalttätige Umgang mit einer jungen Frau mit kleinem Kind gewesen, so Tolu. Ihren Sohn musste sie bei ihrer Verhaftung bei ihrem Nachbarn lassen – erst später im Gefängnis sollte sie ihn zu sich nehmen dürfen.

Schnell habe sie verstanden, dass die Art und Weise ihrer Verhaftung einer „systematischen Repression“ gefolgt sei: die mehrstündige Razzia, das siebentägige Polizeigewahrsam bei durchgehender Neonbeleuchtung und vor laufenden Überwachungskameras, die Beleidigungen und Gewaltdrohungen und fortwährenden „Kooperationsangebote“ mit der Polizei, die Nacktuntersuchung als sie in die JVA überführt wurde. „Sie wussten, ich bin eine Mutter, mein Kind kann nicht vom Vater betreut werden, weil er auch in Haft ist. Sie haben versucht, mich emotional zu knacken. Es ging darum, mich systematisch einzuschüchtern (…). Sie wollten mich brechen.“ Die Einschüchterungsversuche hätten während der gesamten Haft angehalten.

Das tragende Gefühl: Solidarität

In ihrer Haft im Frauengefängnis in Bakırköy habe sie verschiedene Perspektiven des Gefängnisalltags miterlebt. Viele Sichtweisen seien hier aufeinandergeprallt: die der Leitung, der Gefängniswärterinnen, der Mithäftlinge, die aus verschiedenen Gründen inhaftiert waren – und je nach Hintergrund gesammelt eingesperrt wurden. Sie war zusammen mit Insassinnen inhaftiert, denen das Label „politischer Häftling“ verpasst worden war: Juristinnen, Journalistinnen und Gewerkschafterinnen seien etwa darunter gewesen.

Diese Frauen hätten ihr zum ersten Mal in ihrem Leben gezeigt, „wie Solidarität wirklich funktioniert.“ Völlig konkurrenzlos und ohne Neid hätten die Frauen sich gegenseitig geholfen. Selbstverständlich sei das nicht gewesen, denn in anderen Zellen des Gefängnisses hätte es durchaus auch Gewalt unter den Gefangenen gegeben.

Ihre Zellengenossinnen hatten dagegen beschlossen, sich nicht der Lebensfreude berauben zu lassen. „Wir wollen, dass alle erhobenen Hauptes hier wieder rausgehen“, habe man ihr gesagt. Der gemeinsame Hintergrund, zu Unrecht eingesperrt zu sein, habe diese Frauen alle zusammengeschweißt und auch der feste Wille, nach vorne zu schauen und sich gegenseitig dabei Halt zu geben.

Fremdbestimmt unter archaischen Zuständen

Sie selbst habe in dieser Zeit eine Wandlung vollzogen. Als sie im Gefängnis angekommen sei, sei sie eine Frau gewesen, die immer versucht hatte, ihr Leben selbstständig und ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen. Die Verantwortung für ihr eigenes Leben und das ihres Sohnes auf den eigenen Schultern zu tragen, sei völlig normal für sie gewesen. Zunächst habe sie diese Haltung im Gefängnis auch weiter gezeigt. Doch die Zustände dort seien für sie immer mehr zur Belastung geworden. Zum einen sei da das Gefühl gewesen, der eigenen Freiheit beraubt worden und fremdbestimmt zu sein, zum anderen habe sie sich um alle Alltagsdinge selbst kümmern müssen – und zwar mit archaischen Mitteln. Wäsche waschen mit der Hand etwa. Und schließlich gab es da auch noch ihren kleinen Sohn, den sie nach einer Weile hatte zu sich holen können und für den sie stark bleiben wollte, etwa wenn sie ihm immer wieder erklären musste, warum und an welchem Ort sie jetzt seien. „Die Kräfte waren total ausgeschöpft“, erzählte Tolu.

Schließlich hätten ihre Zellengenossinnen eine Versammlung einberufen und sie gefragt, was sie jeden Tag leisten muss, um für ihren Sohn und sich zu sorgen. Danach hätten sie ihr heimlich Arbeit abgenommen: Kleidung für sie gewaschen oder mit dem Kind gespielt, es gefüttert und gewaschen. Sie selbst, so Tolu, habe sich zunächst nicht eingestehen können, dass sie Hilfe benötigte. Durch die Hilfe ihrer Zellengenossinnen habe sie auf einmal Zeit gehabt, um zu lesen und zu schreiben und plötzlich habe sie bemerkt, wie gut es tut, zugeben zu können, dass man Hilfe braucht, schwach ist oder auch Angst hat. Irgendwann habe sie sogar mit den anderen Frauen zusammen weinen können. Bis dahin hatte sie nur weinen können, wenn sie alleine war.

Die Öffnung gegenüber ihren Zellengenossinnen veränderte Meşale Tolu. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr nur auf sich selbst und ihre eigenen Ängste und Probleme konzentriert habe, habe sie endlich auch andere Perspektiven wahrnehmen können. Frauen, die schon seit 15 Jahren in Haft lebten, erzählten ihr ihre Geschichten. „Auf einmal war ich so dankbar, dass ich von ihnen aufgefangen wurde und sie mir ihre Stärke weitergegeben haben.“

„Sich öffnen, damit andere Frauen sich auch öffnen, das Schutzschild beiseite legen“ – das ist das, was für Meşale Tolu seitdem Solidarität unter Frauen und Feminismus ausmache und ihr Kraft gebe.

Das Schlimmste? Die Ohnmacht

Eine weitere Kraftquelle seien die vielen weiteren Solidaritätsbekundungen gewesen, die sie während der Zeit ihrer Haft aus Deutschland erreicht hätten: Briefe, die sie erhielt, Zeitungen, Bücher und Zeitschriften, Postkarten aus der ganzen Welt. Ihre frühere Gymnasiallehrerin startete eine Petition für sie, die Schülerin, die sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte. All diese Menschen hätten ihr eine „völlig neue Welt eröffnet“. Das wertvollste, das Menschen in sich tragen, sei unbändige Solidarität mit anderen, das habe sie dadurch gelernt, sagt Tolu heute – und dass sie jeder nutzen sollte. „Diese ganze Kraft, die von außen auf mich eingeströmt ist, hat mich so ermutigt, dass ich wusste, es gibt keine andere Alternative als zu kämpfen.“, erzählte sie in Tutzing.

Ihre Ängste lernte sie umzuwandeln in Stärke, denn: „Die Ohnmacht ist das Schlimmste.“ Das habe sie sich im Gefängnis bewusst gemacht und beschlossen, nicht in einen Zustand der Ohnmacht zu fallen. Wenn sie sich darauf konzentrierte, so erinnert sie sich heute, dann habe sie in den Himmel geschaut und gewusst, dass alles wieder besser wird. Sie präzisiert an dieser Stelle: „Ich habe nicht den Stacheldrahtzaun beobachtet, sondern den freien Himmel.“ Und dabei sei sie sich eines immer sicher gewesen: „Nach allen düsteren Tagen scheint dann doch wieder die Sonne.“

Dorothea Grass

Bild: Meşale Tolu in Tutzing (dgr/eat archiv)

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