Loslassen – Abschied von Karlheinz A. Geißler

Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler war über viele Jahre Wegbegleiter der Evangelischen Akademie Tutzing. Gemeinsam mit Dr. Martin Held entwickelte er die “Zeitakademien” im Projekt “Ökologie der Zeit”, das über mehr als 20 Jahre hinweg bestand und dessen Spuren bis heute sichtbar sind. Am 9. November 2022 ist Karlheinz Geißler verstorben. In diesem Nachruf erinnert sich Martin Held an einen außergewöhnlichen Menschen, seine Arbeit, Ideen – und seine Freundschaft.

“Es kann aber auch schwer, sehr schwerfallen loszulassen, Routinen des Alltags zu überwinden, Abschied zu nehmen. Am schwersten fällt uns dabei, die Vergänglichkeit und Endlichkeit im Leben anzunehmen.”

So haben wir als Tagungsteam gemeinsam mit Karlheinz Geißler im Klappentext unserer letzten Zeitakademie “Loslassen – über die Kunst des Aufhörens” (26.-28. Juni 2015) formuliert.

In der Tat, es fällt mir sehr schwer vorzustellen, dass er nicht mehr unter uns ist. Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler ist am 9. November 2022 in München gestorben. Er war ein langjähriger Begleiter und Freund der Akademie. Er hat viele Menschen angesprochen und emotional bewegt mit seinen Vorträgen und Publikationen über sein Lebensthema “Zeit”, ihre Vielfalt und unseren Umgang mit ihr. Er hat begeistert und als Mitveranstalter und begnadeter Redner die Menschen immer wieder an die Akademie nach Tutzing gelockt – ein Ort, der auch für ihn ein ganz besonderer war. Dafür sind wir ihm dankbar.

1989 traf ich mich mit ihm und wir tauschten uns darüber aus, dass es ansteht, eine “Ökologie der Zeit” zu entwickeln und zu verbreiten. Also der Frage nachzugehen, wie die ökologischen Probleme mit unserem Umgang mit Zeit eng verwoben sind. Wir waren uns rasch einig: Das ist nicht eine Sache von ein oder zwei Tagungen. Das ist ein Programm, das wir gemeinsam entwickeln und in einem auf längere Zeit angelegten Projekt vertiefen und verbreiten wollen. “Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße”, so lautete der programmatische Titel unserer ersten Tutzinger Zeitakademie, die vom 19. bis 23. Mai 1993 stattfand (damals waren solch lange Tagungen noch möglich). Es war ein Erlebnis vom “Ankommen – Zeit des Anfangs” am Mittwochnachmittag bis zum “Abschied – Zeit zum Gehen” am Sonntagmittag.

Geißlers Motto: “Zeit leben, nicht managen”

Freundschaften entstanden. Manuel Schneider, Barbara Adam und Klaus Kümmerer kamen bald zum Team des Projekts “Ökologie der Zeit” dazu. Später dann Ida Sabelis, Sabine Hofmeister und Fritz Reheis. Wir ahnten damals nicht, dass es insgesamt 25 Zeitakademien bis 2015 werden sollten – ohne Karlheinz Geißler wäre das undenkbar gewesen.

Es war eine Freude mit ihm zusammen zu arbeiten. Unvergessen, wie er bei einer Tagung den “Simultanten” einführte, eine Person, die nicht einfach alles nur noch schneller erledigen will, sondern durch Gleichzeitigkeit noch mehr in eine Zeiteinheit stopft. Es hat Spaß gemacht, wie er abends im Grünen Salon bei einem guten Glas Wein über die Zeiten des Weins im Alten und im Neuen Testament vortrug.

Er führte uns in die Vielfalt der Zeitformen ein: Anfänge, Abschlüsse, Übergänge und Warten. Gemeinsam luden wir ein zu Rhythmen und Eigenzeiten. Wie es uns generell nicht darum ging, der “Monokultur der Beschleunigung” lediglich eindimensional die “Entschleunigung” von allem und jedem entgegenzuhalten. Sondern für die vielfältigen Formen und Möglichkeiten, “Zeit zu leben” zu sensibilisieren; sich auf die Suche zu begeben nach den “rechten Zeitmaßen” im Umgang mit Natur – auch der eigenen Natur.

An einem Tag im Sommer 1995 saßen wir einen guten halben Tag auf der Löwenterrasse am See und ließen uns Zeit, die Tagung “Die Zweite Heimat. Chronik einer Jugend – Erzählte Zeit von und mit Edgar Reitz” vorzubereiten. Vom 16. bis 20. Februar 1996 nahmen 100 Menschen an der Filmtagung teil: 26 Stunden Film, Konzert, Austausch über Biographien, Gespräch mit dem Regisseur, gemeinsam erlebte Zeiten, Erinnerungen, die bleiben. Wichtig war ihm die Zusammenarbeit mit Künstlern. Zu nennen sind der Bilderzyklus von Renate Kirchhof-Stahlmann, die Torfarbeiten von Karl Weibl im Schlosspark, die Terragrafien Ekkeland Götzes im Musiksaal und die musikalischen Interventionen Walter Siegfrieds.

Karlheinz Geißler war ein politisch wacher und engagierter Zeitgenosse, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er initiierte die Zeitakademie “Aufbrechen in bessere Zeiten. Zeitpolitik – Zeit in der Politik” (26.-28. März 2004). Er analysierte Tendenzen zur Nonstop-Gesellschaft ebenso wie er ein Programm für eine andere Zeitkultur entwarf.

Viele Menschen erreichte er über seine Vorträge und seine Bücher. Gemeinsam publizierten wir im Tutzinger Projekt “Ökologie der Zeit” zu Zeiten der Landwirtschaft und Ernährung, zu Zeiten der Böden, über die Vielfalt der Zeiten bis hin zu den “flimmernden Zeiten” unserer Medienwelt.

Eine Sonnenuhr als Erinnerung

Karlheinz Geißler publizierte unermüdlich. Ich kann aus der langen Liste seiner Werke nur eine ganz kleine Auswahl auflisten: Noch im vergangenen Jahr veröffentlichte er “Immer mit der Ruhe – Leben ist zu schön für Hast und Hektik” und “Alles eine Frage der Zeit” (gemeinsam mit Harald Lesch und Jonas Geißler). Weitere wegweisende Titel waren für ihn “Die Uhr kann gehen – Das Ende der Gehorsamkeitskultur” (2019) und “Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit” (2015, gemeinsam mit Jonas Geißler). Dieses Buch trifft seinen Zugang zu Zeiten ganz besonders, sein Motto “Zeit leben, nicht managen”.

Karlheinz Geißler hinterlässt vielfältige Spuren: seinen Humor, seine klugen Zeit-Analysen, seine brillanten Vorträge – all das werden wir vermissen. Es ist traurig, dass er nicht mehr unter uns ist. Aber wenn wir in die Akademie kommen, können wir etwas von seinem Wirken in der Akademie spüren. “Alles hat seine Zeit”, das ist der bekannte Spruch aus dem Prediger Salomo (auch Buch Kohelet genannt). Auf der Sonnenuhr in der Akademie steht das Motto seines Tutzinger Projekts “Ökologie der Zeit”:

alles hat seine zeit

alles braucht seine zeit

Dr. Martin Held, ehem. Studienleiter für Wirtschaft und Arbeitswelt, nachhaltige Entwicklung der Evangelischen Akademie Tutzing

Hinweis:
Die Trauerfeier für Karlheinz A. Geißler findet am 20.12. um 12.45 Uhr auf dem Nordfriedhof in München statt.

 

Bild: Karlheinz A. Geißler (Foto: Jonas Geißler)

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