Wie können wir Lebensräume mit Zukunft gestalten?

Zwischen Top-Down und Bottom-Up: Wie können gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land entstehen? Und wie wirken von der “großen Politik” getroffene Entscheidungen (Top-Down) und Maßnahmen vor Ort auf kommunaler Ebene (Bottom-Up) gut zusammen? Damit beschäftigte sich eine Tagung der Akademie im Juni, über die Studienleiter Martin Waßink hier berichtet.

Was versteht man unter Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen und was gilt es zu bedenken, um sie nicht nur her-, sondern auch sicherzustellen? Das war die große Frage, zu der sich in der Online-Tagung “Gleichwertigkeit in Stadt und Land – eine Illusion?” am 04. und 05. Juni 2021 sowohl Expertinnen und Experten als auch Interessierte austauschten. Dabei wurde auch deutlich, was junge Menschen am Leben in ländlichen Räumen schätzen und kritisieren und wo die versteckten Probleme in Städten liegen. Und es gab einen Konsens: Alle Prozessbeteiligten streben eine nachhaltige Raumentwicklung an, in der jede politisch getroffene Maßnahme die Generation von morgen mit berücksichtigt.

Die Frage nach gleichwertigen Lebensverhältnissen wird uns als Gesellschaft vermutlich in den nächsten Jahren weiter begleiten. Auch die Problemlagen in Städten sollten nicht vergessen werden, zum Beispiel beim Thema Wohnraum. Auf bewegende Weise teilte Pfarrer und Autor Dr. Felix Leibrock seine autobiografischen Erfahrungen über eine lange Wohnungssuche in München und seine daraus entstandenen Kontakte mit Obdachlosen in einer erzählenden Lesung. Zuvor, zum Auftakt der Tagung (hier alle Infos zur Veranstaltung), diskutierten zwei profilierte Vertreter der Raumforschung bzw. der Stadt- und Regionalentwicklung über die Frage nach der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen: Prof. Dr. Rainer Danielzyk, Geschäftsführer der Akademie für Raumforschung in der Leibniz-Gemeinschaft und Vorsitzender des Beirats für Raumentwicklung der Bundesregierung, diskutierte in einem moderierten Gesprächs mit Prof. Rainer Miosga, Präsident der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum e.V. und Mitglied der Enquete-Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern.

Eine als Raumentwicklung verstandene Raumordnung mit einem Mindestmaß an zentralen Vorgaben hält Danielzyk nach wie vor für aktuell und wichtig. Dabei sei es sinnvoll, “in einen guten Dialog” zwischen staatlicher Top-Down-Politik und Bottom-Up-Bürgerbeteiligung zu kommen. Er wies auf die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung hin. Die Bodennutzung wird auf kommunaler Ebene entschieden – den Rahmen dafür schafft die Raumordnung, die auf Bundesebene beschlossen wird.

Eine alternative Landesentwicklungspolitik auf normativem Fundament

Manfred Miosga nahm in seinem Vortrag die Abstimmung der Bundesländer mit den Kommunen im gemeinsamen Bemühen aller Gebietskörperschaften um gleichwertige Lebensverhältnisse in den Blick. Er warb – im Unterschied zu Danielzyk – für einen Perspektivenwechsel: In der Verfassung verbriefte Individualrechte sollten bei Fragen der Daseinsvorsorge die Argumentationsgrundlage sein (Stichwort Diskriminierungsverbot). Dabei stellt er die Leitfrage: Wie kann Chancengleichheit für jedes Individuum erreicht werden? Und weiter: Welche Bedingungen braucht es für das Lebensumfeld, so dass das Leben in Stadt und Land auf vergleichbare Weise gestaltet werden kann? Es gehe seiner Überzeugung nach nicht um Mindeststandards, sondern um konkrete Angebote in der Daseinsvorsorge, beispielsweise um neue Wege der Mobilitätsermöglichung: “Wir müssen staatliche Infrastruktur- und Regionalpolitik in anderen Dimensionen als bisher betreiben”, so Miosga.

Er betonte die Notwendigkeit einer normativen und ethischen Fundierung von Politikmaßnahmen, die in der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erarbeitet worden sei. Letztlich erwuchs daraus ein Messkonzept für verschiedene Gerechtigkeitsdimensionen, die auf den Philosophieschulen von John Rawls bis Amartya Sen beruhen. Miosga ist sich sicher, dass damit ein fundierter, alternativer Entwurf für eine neue Landesentwicklungspolitik erarbeitet wurde. Dass einige Ergebnisse, die in der Enquete-Kommission erarbeitet wurden, in das aktuelle Koalitionsprogramm der Staatsregierung in Bayern eingeflossen sind, freut ihn. Er ermunterte in seinem Impuls politische Entscheider, sich mehr als bisher an dem von ihm mitentwickelten Konzept der “räumlichen Gerechtigkeit” zu orientieren. (Den Abschlussbericht dieser Enquete-Kommission finden Sie hier.)

Eine nachhaltige Raumentwicklung für künftige Generationen

Alle Menschen sollten die gleichen Chancen haben, dafür müsse aber nicht die Ausstattung vor Ort genau gleich sein, so Miosga, sondern die Art der Mitgestaltung müsse gerecht sein (“Verfahrensgerechtigkeit”). Welche Unterschiede als akzeptabel erachtet werden und wo Handlungsbedarf ist, ist Gegenstand der Diskussion. Die Dimension der Enkelgerechtigkeit bzw. Generationengerechtigkeit sollte eine feste Verankerung haben, damit alle Politikkonzepte heute so gestaltet werden, dass künftige Generationen mitgedacht werden.

Hier bestand zwischen Danielzyk und Miosga ein klarer Konsens: Wenn man Raumordnung von ihrem Grundgedanken her ernst nehme, bekräftigte Rainer Danielzyk bereits zu Beginn der Diskussion, sei diese jenseits der Begrifflichkeit schon immer nachhaltig orientiert gewesen: Es gehe immer um den Ausgleich zwischen begünstigten und benachteiligten Regionen. Danielzyk verwies als Beispiel auf ein Bundesraumordnungsprogramm aus den 1970erJahren, in dem ein “zweiseitiges Disparitätengefälle” – ökonomisch von Stadt zu Land, aber ökologisch von Land zu Stadt – festgestellt wurde. Zugleich räumte er unter der Perspektive der Nachhaltigkeit Fehler ein: etwa, wenn Autobahnen in Moorgebiete gebaut worden seien.

Welchen (konkreten) Einfluss hat die bundesstaatliche Ebene?

Rainer Danielzyk sieht hier ein Problem der Umsetzung und nicht der gesetzlichen Grundlagen oder der Leitbilder. Die Bundesraumordnung habe eine “diskursive Macht” und natürlich einen gewissen finanziellen Einfluss, die zu wertvollen Modellprojekten geführt habe. Zur Herstellung von Gleichwertigkeit müsse man jetzt handeln, Infrastrukturgestaltung koordinieren und Daseinsvorsorge betreiben, um damit einen konzeptionellen Rahmen zu schaffen. Eine wichtige Maßnahme aus Sicht des Beirats für Raumentwicklung sei zum Beispiel die Gründung von Fachhochschulen in ländlichen Räumen, um zukunftsträchtige Netzwerke mit Wirtschaftsunternehmen zu knüpfen. Danielzyk wies darüber hinaus auf die Rolle von kultureller Urbanität im Sinne von Vielfalt und die Experimentierfreude in ländlichen Räumen hin. In Gesprächen mit jungen Leuten habe er erfahren, dass sie immer wieder ihren dörflichen Kontext als beengend erleben und sich dort sozial kontrolliert fühlten.

“Wenn einer anders ist, hat er es schwer”

Wie die Lebensrealität junger Menschen im ländlichen wie nicht-ländlichen Umfeld aussieht, dazu gaben Maria Stöckl, Landesgeschäftsführerin der Katholischen Landjugend in Bayern, und Manfred Walter, Heimatpädagoge von der Evangelischen Landjugend in Bayern, fundierte Auskünfte. Stöckl bestätigte auf Grundlage von Ergebnissen der selbst durchgeführten qualitativen Studie “Stadt. Land. Wo?” zur Lebensrealität junger Menschen in drei verschiedenen Regionen in Bayern (städtisch wie ländlich) den Eindruck von Danielzyk beim Thema Vielfalt: Es gebe sehr dominante Lebens- und Wertvorstellungen, so dass diejenigen Jugendlichen, die zum Beispiel in Bezug auf sexuelle Orientierung davon abwichen, einen schweren Stand hätten. Die geringe Weltoffenheit und Toleranz benannten auch die für ihre Studie interviewten Jugendlichen als Schwäche von ländlichen Räumen.

Stöckl zeigte weiteren Handlungsbedarf auf: Mehr politisches Engagement von Jugendlichen wäre von politisch Verantwortlichen erwünscht, gleichzeitig geben junge Menschen in der Studie an, dass sie unzufrieden mit den vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten seien. Hier gebe es zu ergründen, was getan werden müsse, damit das von beiden Seiten gewollte politische Engagement von jungen Menschen auch zustande kommen kann.

Warum junge Menschen ihre Zukunft gerade auch in ländlichen Räumen sehen

Ein wichtiger Bindungsfaktor an ländliche Räume in allen anderen Themen- und Engagementfeldern sei für junge Menschen die Möglichkeit, sich einzubringen, sich zu beteiligen und das Lebensumfeld selbst zu gestalten. Als stärksten Standortvorteil nannten Jugendliche in der Studie die tiefgreifenden sozialen Beziehungen. Das Zugehörigkeitsgefühl zur ländlichen Umgebung, welche sich durch Dialekt und Sprache manifestiere, bedeute eine hohe Vertrautheit. Viele gaben an, dass sie ihre Zukunftspläne auch in der dörflichen Heimat verwirklichen könnten. Indizien für eine Landflucht konnte Stöckl nicht erkennen.

Als wichtigste Erkenntnis betonte Maria Stöckl, dass nicht die harten Faken entscheidend für die Wahl des Lebensorts junger Menschen seien, sondern eher “weichen Faktoren” wie soziale Einbindung, Freizeitangebote und eben die Vielfaltsfähigkeit ländlicher Gemeinschaften. Deshalb sehe sie es als Aufgabe von Jugendarbeit und Bildungsarbeit, mehr Vielfaltsfähigkeit zu fördern. Hier entfalte Jugendarbeit ihre Wirkung, da junge Menschen ihren Sozialraum mitprägen und gestalten könnten.

Lernorte für regionale Identität

Manfred Walter, Landessekretär der Evangelischen Landjugend in Bayern und Heimatpädagoge, lud anschließend zu einem Perspektivwechsel ein: Wie eine regionale Identität entstehen kann, skizzierte Walter ausführlich im Vorfeld der Tagung in einem Beitrag für den Rotunde-Blog (hier lesen).

Eine politische Forderung wäre vor diesem Hintergrund, Lernorte für regionale Identität zu schaffen, die auf freiwilliger Basis funktionieren, Spaß bieten, Gemeinschaften fördern und eine Botschaft transportieren. So gestaltete Lernorte findet Manfred Walter wichtig, damit Jugendliche selbstbestimmt aktiv werden können. In einer Befragung von 600 Jugendlichen aus dem bayernweiten Jugendverband der Evangelischen Landjugend in Bayern wurde diese Konzeption bestätigt.

Doch wie kann man Lebensverhältnisse und Zufriedenheit wissenschaftlich erfassen? In ihrem Vortrag gab Dr. Annett Steinführer vom Johann Heinrich von Thünen-Institut einen Überblick über die Möglichkeiten, Lebenszufriedenheit und gleichwertige Lebensverhältnisse messbar zu machen. Die Herausforderung dabei: Sowohl Zufriedenheit, Gleichwertigkeit und Lebensverhältnisse sind multidimensionale Konzepte. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einfachen linearen Beziehungen zwischen Zufriedenheit und Gleichwertigkeit sei deshalb angebracht, so Steinführer. So trete zum Beispiel das “Unzufriedenheitsdilemma” auf, wenn Menschen trotz objektiv guter Lebensbedingungen (Nahverkehr, Erreichbarkeit von Ärzten, Schuldichte, Einkaufsmöglichkeiten,…) diese als schlecht bewerteten. Umgekehrt spreche man von einem “Zufriedenheitsparadox”, wenn offensichtlich schlechte Lebensbedingungen mit zum Beispiel hoher Arbeitslosigkeit als gut empfunden würden.

Steinführer führte eine Auswertung von Daten aus dem Jahr 2016 an, bei der über 1.700 Menschen konkret gefragt wurden: “Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?”. Es zeigte sich, dass Menschen aus Regionen mit guter ökonomischer Lage zufriedener sind als Menschen aus Regionen mit einer weniger guten sozioökonomischen Lage. Auch äußerten sich die interviewten Menschen in den alten Bundesländern im Durchschnitt zufriedener als Befragte aus dem Osten Deutschlands.

Selbstverortungsdiskurs einer Gesellschaft im Wandel?

Auf der politischen Bühne lasse sich die wieder wachsende Bedeutung des Themas der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse anhand einer Datenbank zu Bundestagsreden zwischen 1970 und 2019 abschätzen – zwischen 2015 und 2019 wurde darüber in etwa so oft diskutiert wie vor 25 Jahren zu Zeiten der Wiedervereinigung. Als Fazit stellte Steinführer fest, dass die zyklisch wiederkehrende Gleichwertigkeitsdebatte als Ausdruck eines “Selbstverortungsdiskurs einer Gesellschaft im Wandel” zu sehen sei.

Prof. Gabriele Tröger-Weiß von der TU Kaiserslautern zählte in ihrem Impuls zu “Kooperationen, Netzwerken und Wertschöpfungsketten in der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen sowie ihre Bedeutung für die Regionalentwicklung” viele Facetten von Gleichwertigkeit auf. In der Diskussion zeigte sie sich skeptisch inwieweit rein ehrenamtlich geprägte Netzwerke einen positiven Unterschied machen können. Hauptamtliche Strukturen seien nicht zu unterschätzen und allenfalls Netzwerke von Verbänden, wie die Industrie- und Handelskammer eines biete, seien wirksame Player beim Streben nach gleichwertigen Lebensverhältnissen.

Drei Leuchtturmprojekte für gleichwertige Lebensverhältnisse

Zum Abschluss der Online-Tagung stellten mehrere Initiativen ihre Projekte für Regionalentwicklung in Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und der Eifel vor: Die “Steinwald-Allianz”, ein Verbund von 17 Gemeinden der nördlichen Oberpfalz, zeigte, wie mit einem mobilen Dorfladen ein regionaler Kreislauf von Lebensmittelproduktion und Versorgung gelingen kann. Durch einen festgelegten Fahrplan auch in kleinste Dörfer der beteiligten Kommunen wird die Nahrungsmittelversorgung als wichtiger Bestandteil der Daseinsvorsorge auch in einer sehr dünn besiedelten Region sichergestellt. Mehr als 500 Produkte aus der Region, viele davon in Bio-Qualität, hält der begehbare LKW bereit (mehr dazu hier). “Meck Schweizer” geht für die Region der Mecklenburgischen Schweiz sogar noch einen Schritt weiter, und liefert “Fretbüdel”, Tüten mit frischen Nahrungsmitteln aus regionaler Herstellung, direkt nach Hause. Die Transportfahrzeuge sind überdies CO2-emissionsfrei unterwegs. – Ein Paradebeispiel dafür, wie nachhaltige Daseinsvorsorge möglich ist (zum Link).

Mit der Generationsgenossenschaft Geno-Eifel eG wurde ein neues Konzept zur Stärkung des nachbarschaftlichen Zusammenhalts in Zeiten des demografischen Wandels deutlich. Die GenoEifel eG versteht sich als “Selbsthilfe-Gemeinschaft”. Die Mitglieder der Genossenschaft sorgen füreinander mit Tätigkeiten, die jeder und jede selbst als Nachbarschaftshilfe anbieten kann. Sowohl für Jugendliche, für Familien und Senioren gibt es konkrete Unterstützungsangebote.

Diese drei Beispiele verdeutlichen sowohl die Herausforderungen als auch konkrete Wege zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse unabhängig vom Grad der Urbanität. Die Themen Stadt, Land und gleichwertige Lebensverhältnisse werden uns auch im kommenden Studienjahr beschäftigen – etwa in der Fachtagung “Verantwortung und Governance in ländlichen Räumen” vom 01. bis 03.09.2021. Eine Teilnahme ist sowohl in Präsenz als auch online möglich. Weitere Informationen zum Programm und Anmeldung finden Sie hier.

Martin Waßink, Studienleiter für Wirtschaft, Arbeitswelt und Nachhaltige Entwicklung

Bild: Wortwolke von Annett Steinführer, aus ihrem Vortrag während der Tagung “Gleichwertigkeit in Stadt und Land – eine Illusion?” im Juni 2021 (Quelle: Annett Steinführer)

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