„Wandel durch Annäherung“

Vor 55 Jahren erfand Egon Bahr in einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing das Motto der Ostpolitik Willy Brandts.

Es gibt Tage, an denen Geschichte geschrieben wird. Der 15. Juli 1963 ist ein solcher gewesen. Der Ort: die Evangelische Akademie Tutzing. Die Tagung des Politischen Clubs der Akademie kam einer Art Parteiengipfel gleich, die jedoch nicht im Bundestag, sondern im außerparlamentarischen Raum stattfand. Es sollte eine Sternstunde dieser Akademie werden, die 1947 gegründet wurde als „dritter Ort“ einer Zivil- und Bürgergesellschaft, als Ort der Begegnung und des Diskurses, von dem über die Jahre hinweg viele Impulse ausgingen, die in Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien ihre Wirkung entfalteten.

An den Starnberger See kamen praktisch alle, die Rang und Namen hatten: Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Pressesprecher Karl-Günther von Hase. Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt – mit seinem Pressesprecher Egon Bahr -, der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel, dazu seine Parteikollegen aus der CSU Franz Josef Strauß, Friedrich Zimmermann und Richard Jaeger. Von der FDP war Erich Mende und von der CDU Kurt Georg Kiesinger angereist. Die internationale Beteiligung war durch drei US-Senatoren sichergestellt. Und es nahmen auch die namhaften Publizisten Sebastian Haffner und Matthias Walden teil. Bahr hielt damals im Anschluss an Willy Brandt einen Vortrag, der – wie es „Der Tagesspiegel“ in Berlin notierte – auf „starke Beachtung und ein kritisches Echo“ stieß. Das war auch gar nicht anders zu erwarten, denn es ging um das Thema Wiedervereinigung.

Diplomatischer Drahtseilakt

Bahr sagte, seine Ausführungen seien „zur Anregung gedacht und entspringen dem Zweifel, ob wir mit der Fortsetzung unserer bisherigen Haltung das absolut negative Ergebnis der Wiedervereinigungspolitik ändern können“. Und weiter auf seinem diplomatischen Drahtseilakt: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie… Die Wiedervereinigung ist ein außenpolitisches Problem… Heute (Anm.: 1963) ist klar, dass die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen…, dass jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist.“

Am Ende dieser – aus heutiger Sicht – geradezu prophetischen Rede, fragte Egon Bahr vorsichtig, „ob es nicht Möglichkeiten gibt…“ Dann folgt im vorletzten Satz des Manuskriptes die entscheidende Formulierung, die das Motto der Ostpolitik Willy Brandts werden und zu einer grundlegenden Neuorientierung führen sollte: „Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“

Unsere Gesellschaft braucht Orte des Diskurses

Dieser Slogan hat nicht nur Schlagzeilen für ein paar Tage gemacht, sondern die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte dauerhaft beeinflusst. Sie hat Egon Bahr berühmt gemacht – auch die Evangelische Akademie Tutzing. Für viele ist es eine, wenn nicht sogar die Sternstunde politischer Bildungsarbeit in Deutschland gewesen – und bis heute geblieben. Politiker und Bürger trafen sich zum Meinungsstreit – über Parteigrenzen hinweg. Unsere Gesellschaft braucht solche Diskursorte. Vor allem aber braucht es die Bereitschaft, die politische Kontroverse hier zu führen – und nicht nur innerhalb der eigenen Gefolgschaft, Filterblase oder Echokammer.

Zurück in das Jahr 1963: Die tatsächliche politische Lage schien geradezu zementiert und keinen Spielraum zu lassen. Bahr, ein Meister der Diplomatie, sagte im Schlusssatz seines Vortrags: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusion zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpasst, denn sonst müssten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.“

Eine überzeugende Beschreibung, was Aufgabe der Politik ist: nach einer klugen Betrachtung – die möglichen Optionen vor Augen – entschieden zu handeln. Die Früchte des Tuns lassen sich oft spät ernten, manchmal bleiben sie auch ganz aus. Egon Bahr ist es vergönnt gewesen, die Früchte zu ernten, an deren Saat, Wachstum und Reife er selbst wesentlich beteiligt war.

Am Anfang des Mottos steht bereits das Ergebnis des beabsichtigten Handelns: dass es zu einer Veränderung des Status Quo kommt – zum Wandel. Das Instrument, um ihn zu bewerkstelligen, ist die Annäherung. Diese kann man vom Gegenüber trefflich einfordern. Aber der Begriff intendiert, dass ich selbst nicht warte, bis der andere sich bewegt, sondern dass ich mich bewege. Ein Ansatz, der im privaten wie im öffentlichen Leben durchaus angebracht ist. Es ist nicht hoch genug zu achten, wenn einer den ersten Schritt wagt. Eine Belohnung ist freilich nicht garantiert. Aber – Gott sei Dank – auch nicht ausgeschlossen. Die Wiedervereinigung bleibt für viele Menschen ein Wunder.

2012 aktualisierte Egon Bahr die geprägte Redewendung. Als er von der Akademie mit dem „Tutzinger Löwen“ ausgezeichnet wurde, präsentierte er sein Motto mit einer neuen Ausrichtung: „Die Modernisierung des Wandels durch Annäherung heißt heute: Globalisierung durch Annäherung.“ Ob es eine ähnliche Wirkung entfalten kann?

Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing

Tags: , , , , , ,