„Ganzheitliche Entwicklung“ – Anforderungen an die Entwicklungszusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung

Vortrag von Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Tagung „Religion und Staat – zwischen Kooption und Kooperation (25 Jahre Demokratie in Südafrika)“ am 13. Februar 2019 an der Evangelischen Akademie Tutzing.

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Ich habe mich gefreut, zu dieser Veranstaltung eingeladen worden zu sein, gibt es doch in meiner Vita gleich mehrere Anknüpfungspunkte für das mir aufgegebene Thema „‘Ganzheitliche Entwicklung‘ – Anforderungen an die Entwicklungszusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung“. Wie manche vielleicht wissen, habe ich vor meiner Zeit als Bischof das Fach Katholische Soziallehre wissenschaftlich vertreten. Als Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax und als Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz konnte ich mich dann intensiver mit der Entwicklungspolitik und den Herausforderungen der Globalisierung auseinandersetzen.

Und nicht zuletzt: Im vorigen Jahr war ich in Madagaskar und Südafrika, um einen kleinen Beitrag zur Festigung des kirchlichen Bandes zwischen Europa und Afrika zu leisten. In Madagaskar fand im Mai 2018 ein katholisches Afrikanisch-Deutsches Bischofstreffen statt, das sich der Frage nach der „ganzheitlichen Entwicklung“ unter den heutigen Bedingungen stellte. Mir sind dabei die Gemeinsamkeiten deutlich geworden, die die katholische Kirche in Afrika und Europa in der Analyse der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Realität verbindet. Offenkundig waren aber auch die Unterschiede: Afrikaner und Europäer sind eben nicht nur mit verschiedenen Wirklichkeiten konfrontiert, sondern sie begegnen diesen Wirklichkeiten auch mit einem kulturell und historisch unterschiedlich geprägten Blick.

An die Madagaskar-Reise schloss sich für mich ein Besuch in Kapstadt an, wo ich die Gelegenheit hatte, mit den Mitgliedern des hochrangigen Runden Tisches zusammenzukommen, der sich bereits seit mehreren Jahren vor allem den sozialen und ökologischen Problemen des Bergbaus widmet. Das Stichwort lautet: Courageous Dialogues. Zu dieser Gruppe gehören führende Vertreter der christlichen Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Bergbauunternehmen. Unter anderem bin ich in Kapstadt Kardinal Wilfrid Fox Napier, dem ich durch unsere gemeinsame Arbeit in Rom verbunden bin, und dem anglikanischen Erzbischof Thabo Makgoba begegnet. Unsere heutige Veranstaltung in Tutzing knüpft ja auch an diesen südafrikanischen Gesprächszusammenhang an.

Ich möchte Sie einladen, mit mir in drei Überlegungen einzutreten:
Zunächst werde ich versuchen, das Entwicklungsverständnis der Enzyklika Laudato si‘ von Papst Franziskus wenigstens den Grundzügen nach zu entfalten.
Danach wird es um die Frage gehen, was die von Papst Franziskus geforderte oder beworbene „ganzheitliche Entwicklung“ für die Entwicklungszusammenarbeit zwischen Nord und Süd bedeutet.
Und schließlich will ich mit Ihnen wenigstens kurz über Möglichkeiten und Probleme der Kooperation zwischen Staat und Religion im Feld der Entwicklung nachdenken.

• Ganzheitliche Entwicklung nach Laudato si‘

Bei anderer Gelegenheit habe ich bereits darauf hingewiesen, welche besondere Bedeutung drei päpstliche Enzykliken für meinen eigenen theologischen Werdegang entfaltet haben. Da ist Pacem in Terris, die große Friedensenzyklika von Papst Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963. Und da ist Populorum Progressio. In dieser Enzyklika von 1967 beschreibt Papst Paul VI. Entwicklung als umfassenden Prozess, der über die wirtschaftliche Dimension hinausgeht und den ganzen Menschen und alle Menschen betrifft. Entwicklung ist keine Option unter anderen, so sagt Papst Paul VI., sondern ein Recht aller Menschen, sich auf dieser Erde in all ihren Dimensionen entfalten zu können. Dieses „Grundgesetz“ (PP 22) beruht auf dem gemeinsamen Ursprung aller Menschen, auf ihrer Gleichheit vor dem Schöpfer und der allen eigenen Menschenwürde. Entwicklung ist in dieser Perspektive ganz eng mit der Sorge um das Gemeinwohl und mit einer solidarischen Nutzung der Güter dieser Erde verbunden.

2015 schließlich hat Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato si‘ den Prozess der Entwicklung mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen neu entfaltet. Diese Enzyklika ist von einer Zusammenschau der sozialen und ökologischen Herausforderungen geprägt, die er im Untertitel als „Sorge um das gemeinsame Haus“ zusammenfasst. Die ökologische Krise und die soziale Ausgrenzung von Menschen werden als Einheit betrachtet – ganzheitliche Entwicklung muss beide Dimensionen gleichermaßen in den Blick nehmen. Deshalb stellt der Papst die Grundfrage: Wie können wir so zusammen leben, dass es nicht nur allen Menschen gut geht, sondern auch der Schöpfung?

Sowohl die Umwelt, die rücksichtslos ausgebeutet wird, als auch die Armen, denen die Chance auf ein erfülltes Leben vorenthalten wird, sind für Papst Franziskus Leidtragende eines Entwicklungsverständnisses, das dem „technokratischen Paradigma“ (LS 109) erlegen ist. Dieses Paradigma sieht der Papst als Ausdruck einer verkürzten Sicht der Wirklichkeit. Geradezu verhängnisvoll ist für ihn die Vorherrschaft des technokratischen Paradigmas in Politik und Wirtschaft: „Die Wirtschaft nimmt jede technologische Entwicklung im Hinblick auf den Ertrag an, ohne auf mögliche negative Auswirkungen für den Menschen zu achten“ (LS 109), so in Laudato si‘. Vor dem Hintergrund seiner Kritik am vorherrschenden Fortschrittsverständnis plädiert Papst Franziskus für eine ganzheitliche neue Fortschrittsidee, die sich nicht nur in Produktionszahlen und materiellen Leistungsbilanzen zeigt, sondern „eine bessere Welt und eine im Ganzen höhere Lebensqualität hinterlässt“ (LS 194).

Will man die Vorstellung einer „ganzheitlichen Entwicklung“ näher bestimmen, dann muss man den Blick auf das Wirklichkeitsverständnis des Papstes richten, das er dem „technokratischen Paradigma“ entgegensetzt. Wiederholt steht in der Enzyklika die Formel „Alles ist miteinander verbunden“ (u.a. LS 16). Statt verkürzter Sichtweisen auf Teilbereiche zielt ein dermaßen weit gespanntes Wirklichkeitsverständnis auf das große Ganze. Das Bewusstsein, dass alles miteinander in Beziehung steht, ist zugleich eine Kritik an einer technologischen bzw. ökonomischen Praxis, bei der die Verfolgung einseitiger Interessen im Vordergrund steht.

Der ganzheitliche Blick des Papstes fordert, dass auch bei der Erfassung des Konkreten immer das Ganze menschlicher Existenz im Blick gehalten werden muss. Eine wirklich menschengerechte Entwicklung muss folglich alle Lebensbereiche des Menschen einschließen, also sowohl die materiellen als auch die immateriellen Bedürfnisse. Entwicklung in diesem Sinne bedeutet, im Dienst am ganzen Menschen und tendenziell aller Menschen zu stehen und auch die geistigen, sittlichen, spirituellen und religiösen Aspekte wahrzunehmen und zu fördern.

Was die Zielsetzung einer ganzheitlichen Entwicklung betrifft, so sind nach Laudato si‘ nicht technologische Innovationen oder die Zunahme ökonomischer Wachstumsraten entscheidend, sondern mit dieser Art des Fortschritts ist vor allem die „Besserung der Lebensqualität“ (LS 46) verbunden. Zur Lebensqualität gehört die Gesundheit, dazu gehören auch tragfähige soziale Beziehungen, insbesondere im Bereich der Familie, deren „zentrale Bedeutung“ (LS 213) eigens herausgestellt wird. Wichtig für ein gutes Leben ist auch das „historische, künstlerische und kulturelle Erbe“ (LS 143), das aus der Sicht des Papstes bedroht ist, weshalb ein ganzheitlicher Entwicklungsgedanke die Pflege der kulturellen Reichtümer einschließen muss. Hier werden Prämissen für ein gutes Leben genannt, die durch Kriterien für eine neue Art des Fortschritts verwirklicht werden sollen.

Das Ziel der Lebensqualität, das bisher in keiner Sozialenzyklika einen so zentralen Stellenwert innehatte, verweist auf den Menschen als Ebenbild Gottes und seine besondere Würde. Die Neuausrichtung einer Entwicklungs- oder Fortschrittsperspektive geschieht allerdings nicht nur für den Menschen, sondern auch durch den Menschen. Papst Franziskus setzt großes Vertrauen auf die Fähigkeiten des Menschen, insbesondere auf seine Entscheidungsfreiheit: „Die menschliche Freiheit ist in der Lage, die Technik zu beschränken, sie zu lenken und in den Dienst einer anderen Art des Fortschritts zu stellen, der gesünder, menschlicher, sozialer und ganzheitlicher ist“ (LS 112).

Neben der Freiheit ist für eine wahrhaft menschliche Entwicklung auch ein ethisches Bewusstsein unabdingbar, das sich verantwortlich weiß für die Folgen des Handelns. Auch hier wird vom Menschen ein „Kurswechsel“ (LS 53) verlangt. Ein ganzheitlicher Entwicklungsbegriff schaut nicht nur auf den unmittelbaren, kurzfristigen Nutzen, sondern nimmt auch die langfristigen Wirkungen von Handlungen in den Blick. Das Leugnen von Begrenzungen ist Ausdruck des vom Papst kritisierten „technokratischen Paradigmas“. Stattdessen fordert er dazu auf, bestehende Grenzen, seien sie ökologischer, sozialer oder ökonomischer Natur, zu akzeptieren. Das gehört zur ethischen Perspektive eines neuen Fortschrittsbegriffs.

• Eine neue entwicklungspolitische Perspektive

Die Perspektive auf Ziel und Möglichkeiten von Entwicklung, wie sie Papst Franziskus formuliert, hat ganz praktische Auswirkungen auf das Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit. Die Umsetzung einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen erfordert Veränderungen im politischen, ökonomischen und ökologischen Bereich – hierzulande und andernorts, nicht zuletzt auch in der Kooperation zwischen den Staaten.

Mit der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, auf die sich die internationale Gemeinschaft ebenfalls im Jahr 2015 verständigt hat, geben die Staaten der Überzeugung Ausdruck, dass sich die globalen, sozialen und ökologischen Herausforderungen nur gemeinsam lösen lassen. Sie stellen sich der Aufgabe, „die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen“, wie es in der Präambel der Agenda 2030 heißt. An diesem Anspruch wollen sie sich messen lassen, er soll Richtschnur der Entwicklungszusammenarbeit sein. Die 17 Ziele der Agenda sind ihre Leitmotive und sie streben nichts weniger an als die „Transformation der Welt“. Die Staaten unterstreichen die „gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortlichkeit“ aller, daran mitzuwirken. Entwicklung, so zeigt die Agenda, kann nicht exportiert werden, sondern wir haben die Pflicht, einander dabei zu unterstützen, das große Wort der „Transformation“ in konkrete politische Schritte zu übersetzen. Entwicklung ist immer intransitiv zu verstehen: Wir arbeiten nicht nur daran, die Voraussetzungen dafür zu verbessern, dass andere sich entwickeln und ihr volles Potential entfalten können. Sondern auch wir sind gefordert, uns selbst zu entwickeln – beispielsweise um die Hindernisse zu erkennen, die wir anderen durch unsere Lebensweise in den Weg legen, und auf deren Überwindung abzuzielen.

Ganzheitliche Entwicklung verlangt – sowohl in der Perspektive von Laudato si‘ als auch in der Agenda 2030 – nach politischen Rahmensetzungen. Der richtige politische Rahmen ist unverzichtbar, wenn eine integrale menschliche Entwicklung für alle möglich sein soll. Exemplarisch möchte ich auf einige Eckpunkte hinweisen, die mir mit Blick auf die erforderlichen Transformationsprozesse auch für die Entwicklungszusammenarbeit unverzichtbar erscheinen:

Erstens: Ökologische Grenzen anerkennen
Die katastrophalen Folgen einer ungebremsten Ausbeutung der Ressourcen unserer Erde zeigen sich deutlich im Verlust der biologischen Vielfalt, in der Degradierung der Böden oder der Überfischung der Meere, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Klimawandel und die allgemeine Luftverschmutzung gerade in den Großstädten und Industriegebieten zeigen, dass wir die Erde in ihren Regenerationskapazitäten überfordern. Wenn wir Gottes Schöpfung allein den Profitinteressen überlassen, werden wir bald schon nicht mehr auf ihr leben können. Wir brauchen Rahmenbedingungen zum Schutz unserer Umwelt. Am Prinzip der Gerechtigkeit orientiert müssen wir fragen, was zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen getan werden muss und wer für die Umweltschäden und -belastungen als Verursacher verantwortlich ist. Der Klimawandel ist vielleicht das drängendste Problem; und er macht deutlich, dass die Rahmenbedingungen für eine gerechte Entwicklung vielfach nur noch auf internationaler Ebene gesetzt werden können. Versäumnisse werden in vielen Teilen der Welt katastrophale Folgen haben und gerade den ärmsten Ländern die Chancen auf eine gute – auch wirtschaftlich gute – Entwicklung rauben.

Zweitens: Staatliche Ordnung gestalten
Eine staatliche Ordnung muss so funktionieren, dass sie wirtschaftliche und soziale Entwicklung fördert. Nur wenn die Regeln für das wirtschaftliche und politische Leben von allen Beteiligten als verlässlich erlebt werden, sind Menschen und Unternehmen bereit, sich zu engagieren. Fortdauernde politische Instabilität ist das Gegenbild einer solchen Verlässlichkeit. Gleiches gilt für Korruption, also für die Möglichkeit Einzelner oder bestimmter Machtgruppen, die geltenden Regeln für sich selbst außer Kraft zu setzen. Gefestigte staatliche Institutionen sind eine unverzichtbare Rahmenbedingung für den Entwicklungsprozess einer Gesellschaft. Sie in jedem einzelnen Land und in internationaler Zusammenarbeit zu fördern, ist unerlässlich.

Drittens: Soziale Marktwirtschaft in internationaler Kooperation stärken
Der Markt ist ein zentrales Instrument jeder wirtschaftlichen Ordnung, die Prosperität für die Bürger ermöglichen will. Aber viele Menschen erleben das, was ihnen als Marktwirtschaft präsentiert wird, faktisch als ein Spiel der Mächtigen, das die Reichen begünstigt und die Ungleichheit in der Gesellschaft vergrößert. Stattdessen hat die Kirche immer darauf beharrt, dass der Markt als Teil einer umfassend angelegten sozialen Ordnung verstanden und ausgestaltet werden muss, wie es Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Centesimus Annus gefordert hat. Er braucht Regeln und auch Restriktionen. Und er muss begleitet werden durch staatliche Bemühungen um soziale Absicherung, den Schutz von Arbeitnehmerrechten und eine Redistribution von Reichtum zugunsten der schwächeren Bevölkerungsgruppen. Ich bin überzeugt: Allein mit einer solchen Wirtschafts- und Sozialordnung kann Entwicklung weltweit gelingen. Oder anders gesagt: Wir müssen über den Kapitalismus hinausdenken!

Viertens: Welthandel fair gestalten
Nicht erst seit US-Präsident Trump die weltweiten Handelsbeziehungen an dem Prinzip „America first“ ausrichtet, wird über die Gestaltung des Welthandels gestritten. Es gibt eine Reihe von bilateralen Handels- und Investitionsabkommen, die große Auswirkungen auf die Entwicklungschancen der einzelnen Länder haben. Es ist meines Erachtens schwer bestreitbar, dass dem globalen Handel, der sich vor allem seit den 1990er Jahren stark ausgeweitet hat, ein entscheidender Anteil an der Reduzierung der weltweiten Armut – besonders in Asien – zukommt. Aber es gibt nicht nur Gewinner, es gibt auch Verlierer des Welthandels. Und das Problem der Ungleichheit hat sich verschärft, wie auch viele Ökonomen betonen.

Darum ist es von entscheidender Bedeutung, dass Verhandlungen über Handelsabkommen transparent geführt und eben nicht allein von den Interessen der wirtschaftlich Stärkeren dominiert werden, sondern am Ziel einer gerechten Entwicklung für alle orientiert werden. Abkommen, die auf Freiwilligkeit setzen, werden dafür nicht ausreichend sein, weil denjenigen, die sich daran beteiligen, Wettbewerbsnachteile entstehen können. Klare gesetzliche Regelungen sind ausschließlich freiwilligen Regelungen vorzuziehen; globalen Abkommen gebührt üblicherweise der Vorzug gegenüber multi- und bilateralen Abkommen. Denn wenn viele Länder zusammenkommen, können auch die wirtschaftlich und politisch schwächeren Staaten Verhandlungsmacht organisieren.

Fünftens: Migration gerecht regeln
Wir leben in einem Zeitalter der Migration. Zwar ist die Wanderung von Menschen ein weltgeschichtlich wohlbekanntes Phänomen. Aber die globale Vernetzung samt neuer Kommunikationsmittel und verbesserter Möglichkeiten des Transports hat zu einer starken Ausweitung von Migration auch über weite Strecken hinweg geführt. Dies hat Auswirkungen auf die sozioökonomische und die soziokulturelle Entwicklung in ärmeren und reicheren Ländern. Faire Regelungen, die der Situation von Migranten ebenso wie der ansässigen Bevölkerung, von „Entsendeländern“ wie „Empfängerländern“ gerecht werden, sind nicht leicht zu finden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Weltgemeinschaft zu Rahmenordnungen findet, die den Entscheidungen einzelner Länder Richtung und Ordnung geben. Die von den Vereinten Nationen Anfang 2019 vereinbarten „Global compacts“ zum Umgang mit Flüchtlingen und zu geregelter Migration sind ein solcher Versuch. Man darf hoffen, dass von ihnen Impulse für gerechtere Lösungen auf dem schwierigen Feld der Migration ausgehen.

All dies zeigt die Bedeutung von Politik bei der Verwirklichung ganzheitlicher Entwicklung. Es geht – das macht auch Laudato si‘ deutlich – um eine Wiedergewinnung des Primats der Politik (vgl. LS 189) gegenüber den diversen Einzelinteressen und zugleich um die globale Ausrichtung der Politik. Papst Franziskus wiederholt in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer „echten politischen Weltautorität“ (LS 189), die bereits von früheren Päpsten erhoben wurde. Im internationalen Diskurs wird hier stärker von einer „good governance“ gesprochen, um die Assoziation eines Weltstaates zu vermeiden. Wie auch immer: Strukturelle Veränderungen im policy making sind erforderlich, um dem „globalen Gemeinwohl“ (LS 174) mehr Geltung zu verschaffen.

• Die Kirche – Partner, aber kein verlängerter Arm staatlicher Entwicklungspolitik

Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz das Verhältnis von Religionen – und besonders der christlichen Kirchen – und Staat in der Entwicklungszusammenarbeit ansprechen. Ganz offensichtlich gibt es ein neu erwachtes Interesse von Staaten und auch der Staatengemeinschaft an den Religionen. Ausdruck dafür ist nicht zuletzt die multilaterale Initiative PaRD – Partnership for Religion and Sustainable Development –, die im Jahr 2016 gestartet wurde. In ihr finden sich Organisationen der Vereinten Nationen, Staaten, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Religionsgemeinschaften zusammen, um die Potentiale von engeren Kooperationen zwischen Regierungen und Religionen grundsätzlich zu reflektieren. Das Büro dieser internationalen Plattform ist bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Bonn angesiedelt. Für dieses Engagement sind wir dankbar. Misereor, Missio und Justitia et Pax wirken auf katholischer Seite mit. Einige der internationalen Mitglieder dieser Plattform sind auch hier in Tutzing anwesend. Ich nenne nur Renier Koegelenberg, einen der Initiatoren unseres heutigen Treffens.

Doch es ist nicht zu übersehen: Der neuen Aufmerksamkeit für Religion in der Entwicklungszusammenarbeit wohnen auch Versuchungen inne. Drei dieser Versuchungen seien kurz angesprochen:

Erstens: Instrumentalisierung religiöser Akteure für staatliche Agenden
Manchmal haben Religionsgemeinschaften eine gesellschaftlich Bedeutung, die es nahe legt, sie als quasistaatliche Akteure zu behandeln. Das gilt insbesondere in Situationen prekärer Staatlichkeit, wie etwa in der Zentralafrikanischen Republik oder im Südsudan. Kirchen springen gerade in solchen Situationen mit ihren Fähigkeiten und ihrer Glaubwürdigkeit ein, wo der Staat seiner Aufgabe kaum gerecht werden kann. So sehr wir alle dieses Engagement schätzen: Darin liegt auch eine Gefahr. Es kann geschehen, dass Religionen benutzt werden zur Verwirklichung politischer Zielsetzungen durch die Geber von außerhalb. Trotz kurzfristiger Vorteile auf beiden Seiten laufen Religionsgemeinschaften damit Gefahr, langfristig die eigenen Handlungspotentiale einzuengen und ihre Glaubwürdigkeit zu beschädigen.

Zweitens: Mangelnder Respekt vor den gewachsenen internationalen Beziehungen innerhalb der Religionsgemeinschaften
Auch die Religionsgemeinschaften, zumal die Weltreligionen, stehen in eigenen, zunehmend globalen Vernetzungen. Diese globale Realität ist in unterschiedlicher Weise für das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften konstitutiv. Doch muss man sich bewusst sein, dass der Aufbau von Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften immer auch den jeweiligen Länderkontext überschreitet. Religionen, insbesondere die katholische Kirche, werden auch in lokalen Kontexten immer die globale Perspektive, d.h. für die katholische Kirche weltkirchliche Perspektive, mit berücksichtigen. Der Staat wird daher in der Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften ebenfalls die internationale Dimension der Religionen im Blick behalten müssen. So sind etwa in Transformationsprozessen nach Konflikten oftmals internationale Dimensionen und Erfahrungen zu berücksichtigen, die nicht ausgeblendet werden dürfen. Diese Zusammenhänge nicht hinreichend zu beachten, kann sich mittelfristig als kontraproduktiv erweisen.

Drittens: Abschiebung der politischen Verantwortung auf die religiösen Akteure
Fragen politischer Verantwortlichkeit und Haftung dürfen nicht unangemessen verlagert werden. Religionsgemeinschaften dürfen nicht in Haftung genommen werden, wo die Politik versagt. Die Relevanz von Religion und Religionsgemeinschaften zu betonen, darf nicht dazu führen, „religiös-kulturelle Rückständigkeit“ als vermeintliche Ursachen mangelnden Fortschritts herauszustellen, wo es tatsächlich um wirtschaftliche, ordnungspolitische und andere speziell den Staat betreffende Problemstellungen geht. Besondere Aufmerksamkeit verlangt in diesem Zusammenhang der Umgang mit dem interreligiösen Dialog.
Allzu oft begegnen wir der Erwartung, allein die interreligiösen Gespräche, wie sie Papst Franziskus auf hervorragende Weise praktiziert, könnten alle Probleme lösen, würden sie nur richtig und mit ausreichenden Mitteln angepackt. Aber wir dürfen uns nicht täuschen: Interreligiöser Dialog kann ein politisches Klima verändern und Menschen auch sehr konkret helfen, aber es bleibt Aufgabe der Politik, einen freiheitsförderlichen Rahmen für das Zusammenwirken von Menschen unterschiedlicher Religion zu setzen.

Die historische Erfahrung zeigt, dass ein unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen Staat und Religion besteht. Der Versuch, dieses Spannungsverhältnis in die eine oder andere Richtung aufzulösen, führte entweder zu politischer Religion oder zu Formen der Theokratie. Weder das eine noch das andere ist dazu angetan, menschenwürdige Lebensverhältnisse und ganzheitliche Entwicklung zu fördern. Erforderlich ist vielmehr eine konstruktive Gestaltung dieses im besten Fall produktiven Spannungsverhältnisses. Dann kann auch darin eine konkrete Perspektive integraler humaner Entwicklung zum Vorschein kommen.

Ich bin der Überzeugung, dass wir als Kirchen und Religionsgemeinschaften einen wichtigen Beitrag leisten können und leisten müssen für das Programm einer „ganzheitlichen Entwicklung“ und einer „neuen Fortschrittsidee“. Die Tendenz zur Instrumentalisierung der Religionen für politische Zwecke, die sogar von manchen Vertretern der Religionen mit befördert wird, sehe ich mit Sorge. Sie steht dem Einsatz für eine „ganzheitliche Entwicklung“ im Blick auf alle Menschen entgegen. Unsere Orientierung muss sein, das Haus der Schöpfung für alle Menschen bewohnbar zu machen.

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