Leben im Ökodorf

Wie funktioniert das Leben im Öko-Dorf? Welche ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Innovationen werden dort entwickelt? Welche dieser Innovationen und Erfahrungen können für die gesamte Gesellschaft wegweisend sein? Ist das Leben im Ökodorf eine Form von Weltflucht oder sind die neuen Gemeinschaften Zukunftslabore für die anstehende “Große Transformation” unserer Gesellschaft?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Tagung “Ökodorf – Weltflucht oder Zukunftslabor?” (28. bis 30. April 2017), die Studienleiterin Katharina Hirschbrunn durchführte. Eine kurze Zusammenfassung erhalten Sie -> hier.

Das Multimedia-Special “Tutzinger Thesen” zu den Ökodörfern mit Video-Interviews und Reportagen können Sie hier nachlesen.

Nachfolgend ein Bericht von Angelina Schaefer:

Unsere Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen: bröckelnde Demokratie, soziale Ungleichheit, fortschreitender Klimawandel. In der Debatte um die Lösungen dieser Probleme tauchen vielerlei Fragen auf: Wie sind ökologische und soziale Ziele in Einklang zu bringen? Wie kann eine gesellschaftliche Transformation vorangetrieben werden? Und wie soll diese genau aussehen? Auf unserer Tagung „Ökodorf – Weltflucht oder Zukunftslabor?“ wurden diese Fragen im Hinblick auf die Rolle von intentionalen Gemeinschaften diskutiert. Dazu sollten an dem Wochenende verschiedenste Dimensionen der Ökodörfer einbezogen und eine umfassende Betrachtung dieser alternativen Form des Zusammenlebens erfolgen.

Damit dies gelingen konnte, wurde den TeilnehmerInnen zunächst ein Einblick in das Leben in einem Ökodorf vermittelt. Jede Gründung und Aufrechterhaltung einer Gemeinschaft stellt eine große Herausforderung dar: Wie kann der finanzielle Aufwand auf alle BewohnerInnen gerecht verteilt werden? Wie wollen wir unsere landwirtschaftliche Versorgung organisieren? Mit welchen Methoden sollen unsere Entscheidungen getroffen werden, damit jeder ein Mitspracherecht hat und Transparenz gewahrt wird? Wichtige AkteurInnen erzählten, dass ein Leben in Gemeinschaft wie ein Halbtagsjob betrachtet werden kann, in dem man ohne Terminkalender aufgeschmissen ist. Die größte Herausforderung an Ökodörfern ist die Organisation des Zusammenlebens und die Vereinbarkeit von Individualität und Gemeinschaft.

Das Resultat dieser Herausforderungen ist ein riesiger Pool an Wissen, der innerhalb der Gemeinschaften generiert wird. In der Gemeinschaft Schloss Tempelhof gibt es durch die Umsetzung einer solidarischen Landwirtschaft eine Entkopplung von Preis und Produkt und eine Förderung der  ökologischen Vielfalt. Das Ökodorf Sieben Linden hat ein dreistöckiges Strohballenhaus gebaut. In der Kommune Lossehof wird eine Gemeinsame Ökonomie praktiziert, wodurch die Bedürfnisse der einzelnen von Einkommen und Vermögen losgelöst werden. Und vor allem werden Konfliktlösungsmethoden und Entscheidungsstrukturen, z.B. soziokratisches Wählen in der Gemeinschaft Schloss Blumenthal, ausgetestet und weiterentwickelt.

Dadurch manifestieren sich im Zusammenleben Basiswerte wie Toleranz, Vertrauen und Transparenz. Dr. Iris Kunze zeigte in ihrem Vortrag, dass Ökodörfer durch ihre Intentionalität, Ganzheitlichkeit und Selbstverantwortung stark an der Umsetzung nachhaltiger Lebensweisen beteiligt sind. Sie können als Brutkästen sozialer Innovationen angesehen werden, weil die Infrastruktur für wirksame Veränderungen besser nicht sein könnte. Dr. Marcus Andreas betonte in seinem ethnologischen Beitrag, dass Ökodörfer keineswegs als Inseln zu verstehen sind, sondern die BewohnerInnen als PionierInnen für eine alternative gesellschaftliche Ordnung fungieren.

In den Workshops am Samstagnachmittag, an dem wir mit Sonnenschein und warmen Temperaturen belohnt wurden, konnten die Gäste unserer Tagung selbst ein Feeling für die verschiedenen Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bekommen. In tiefste Konzentration versunken entstand beim Woodworking eine Verbundenheit mit der Natur, indem die natürliche Form von Holz durch Schnitz- und Hobelarbeiten betont wurde. Die Forum-Methode als soziales Werkzeug und Soziokratisches Wählen in der Praxis gaben einen Einblick in Entscheidungs- und Konfliktlösungsmethoden. Bei der Praktischen Naturbeobachtung und dem Workshop mit lebendiger Erde erfuhren die TeilnehmerInnen mehr über die Wahrnehmung und ihre eigene Verankerung in der Um- und Mitwelt. Sehr praktische Einblicke wurden beim Bau einer Komposttoilette gewährt und viele Fragen zum gemeinschaftlichen Wirtschaften im Workshop zur Gemeinsamen Ökonomie beantwortet.

Nach einem ausgelassenen Abend mit viel Tanz zu Gurdan Thomas und interessanten Gesprächen in den Salons, widmeten wir uns am Sonntag der Frage, welche Bedeutung die Ökodörfer für unsere Gesellschaft haben. Dr. Oliver Parodi stellte dies in seiner Präsentation sehr bildlich dar: In der medialen Diskussion und der breiten wissenschaftlichen Debatte werden die ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit oft thematisiert. Tatsächlich bilden diese Aspekte jedoch nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs. Es gibt nämlich eine weitere Dimension, die viel zu selten betont wird, allerdings eine wichtige Rolle spielt: die kulturelle.

Dr. Geseko von Lüpke unterstützte diese Feststellung, in dem er die grundsätzliche Bewusstseinsveränderung als die wichtigste von drei Ebenen des kulturellen Wandels darstellt. Die erste Ebene des politischen Widerstands und zweite Ebene der Analyse von Fehlentwicklungen sind wichtig, um eine Umweltzerstörung zu verlangsamen, werden die Welt allerdings nicht dauerhaft verändern. Eine Wende in der dritten Ebene, d.h. eine massenhaft individualisierte Wertveränderung ist die notwendige Basis für ein gesellschaftliches Umdenken. Und dafür können BewohnerInnen von Ökodörfern als „change agents“ auftreten.

Als Abschluss der Tagung wurden in einer Fish-Bowl-Debatte, in der sich jeder, der etwas sagen wollte, in einen kleineren Kreis der Sprechenden begeben konnte, die Konklusionen des Wochenendes zusammengetragen. Das in den letzten Tagen generierte Wissen müsse jetzt umgesetzt werden, weil der Wert dessen sehr hoch ist. Vor allem die Wissenschaft sollte sich mehr auf die Erforschung des Phänomens Ökodorf einlassen und eine stärkere Vernetzung von alternativen Gemeinschaften mit Politik und Forschung stattfinden. Die Evangelische Akademie Tutzing wurde als Unterstützer und Vorreiter eines notwendigen kulturellen Wandels verstanden und der Wunsch nach einer Plattform zum künftigen Austausch geäußert. Die TeilnehmerInnen und ReferentInnen betonten die besondere Stimmung, die während der Tagung aufgekommen war und alle Beteiligten Teil einer produktiven und interessierten Gemeinschaft hat werden lassen.

Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur können und dürfen für einen erfolgreichen nachhaltigen Wandel nicht isoliert betrachtet werden. Von der ganzheitlichen Denkweiße in den Ökodörfern und intentionalen Gemeinschaften kann unsere Gesellschaft viel lernen, um die Bedürfnisse der Gegenwart zu realisieren, ohne die Bedürfnisse der Zukunft zu gefährden.

Foto oben rechts: Tagungsgäste im Schlosspark (c) Schaefer

Eva Stützel (li.) (Sieben Linden) und Steffen Andreae (Kommune Lossehof) berichteten von den finanziellen Herausforderungen und ökonomischen Alternativmodellen in Gemeinschaften.

Foto: Schaefer

Der Philosoph und Rechtsanwalt Ernst Friedrich Lauppe gab den Gästen der Tagung einen fachkundigen Einblick in die vielfältigen Finanzierungsmöglichkeiten eines Öko-Dorfes.

Foto: Schaefer

Ricardo Pfeiffer und Jorge Dzib bauten zusammen mit den TeilnehmerInnen eine Kompost-Toilette und erklärten deren nachhaltige Funktionsweise.

Foto: Schaefer

Richard Brockbank vom Klostergut Schlehdorf begeisterte in seinem Umgang mit Holz und übertrug seine Kreativität auf die Teilnehmenden.

Foto: Schaefer

Michael Würfel (Sieben Linden) und Maja Lukoff (Gemeinschaft Schloss Tempelhof) sprechen mit Katharina Hirschbrunn über ökologische Innovationen in Ökodörfern.

Foto: Schaefer

Als guten Start in den letzten Tagungstag wurde den TeilnehmerInnen bei der Morgenandacht ein atemberaubender Blick auf die Berge gewährt.

Foto: Schaefer

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