Frauen, die Kissen vom Kopf nehmen

Doris Dörries Kanzelrede am Weltfrauentag wurde zum Appell an Frauen, ihre eigene Biografie ernst zu nehmen. Sprecht, erzählt und schreibt! – Das ist die Botschaft der bekannten deutschen Regisseurin, Autorin und Schriftstellerin.

„Wann und wie dürfen Frauen reden und worüber und wie lange?“ – so lautete der Titel der Kanzelrede von Doris Dörrie, die sie am 8. März 2020 in der Erlöserkirche in München Schwabing hielt. Zweimal im Jahr laden die Evangelische Akademie Tutzing und ihr Freundeskreis eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens ein, um im Kirchenraum zu einem Thema ihrer Wahl zu sprechen.

Doris Dörries Rede entsprang einem Lebensthema, das sie auch in ihrem Buch „Leben, schreiben, atmen“ verarbeitet hat. In ihrer Kanzelrede rollte sie ihre persönliche Entwicklung auf: was es für sie hieß, Geschichten zu hören und zu lesen – und welch Herausforderung es für sie darstellte, sich selbst das Schreiben zu „erlauben“ und zuzugestehen, obwohl genau das immer ihr Drang war.

Die oft zitierte „Heldenreise“, nach denen die Dramaturgie eines (fast) jeden Buches oder Films funktioniert, habe für Frauen in der Vergangenheit oft nur wenig Anknüpfungspunkte geboten. Denn was habe der „Held“, der seine Welt verlassen muss, um ein Abenteuer zu bestehen, einen Drachen zu besiegen und als veränderter Held wieder zurückzukehren zu tun mit der Welt der Frau, für die der Weg nach draußen oft nicht vorgesehen war und mitunter bis heute gar nicht ist?

Schreiben – als Schutz und Überlebensstrategie

In ihrer Kindheit, erinnerte sich Dörrie, sei es der Vater gewesen, der Texte geschrieben habe, während ihre Mutter die Texte für den Ehemann tippte. Mit ihrem Vater habe sie sich viel über Bücher unterhalten. Er teilte ihre „Winnetou“-Leidenschaft und so genoss sie als Mädchen das Privileg, wenn der Vater ihr vorlas und sie gemeinsam in das Reich der Fantasie abtauchten. Jedoch: „Über sich selbst reden, das tat man einfach nicht – und schreiben schon gar nicht.“

Damit sie selbst zur Schreibenden werden konnte, musste Dörrie zu ihrem eigenen Abenteuer aufbrechen. Alleine ging sie als Achtzehnjährige in die USA, um Schauspielerin zu werden. Bald merkte sie, dass die Schauspielerei nichts für sie war. Sie brach das Studium ab und ging ohne Geld nach New York. Dort begann sie zu schreiben. Sie schrieb, „um sich selbst zu beruhigen“ und stellte fest: „Schreiben ist mein Schutz und wurde zur Überlebensstrategie.“

Bis sie jedoch über sich schreiben konnte, sollte es noch eine ganze Weile dauern. Zunächst habe sie sich etwas gesucht, in dem sie sich perfekt habe verstecken können: Drehbuchschreiben, Filmemachen, zu Beginn vor allem Dokumentarfilme. Zu jedem Projekt habe sie Kurzgeschichten verfasst, um eine Basis für die Drehbücher zu bekommen und die Charaktere herauszuarbeiten. Davon habe Daniel Keel vom Diogenes-Verlag erfahren und sie gefragt, ob er ihre Kurzgeschichten veröffentlichen dürfe. Ein entscheidender Moment. „Ohne diesen Mann hätte ich das nie gemacht“, sagte Doris Dörrie. Sie ist davon überzeugt, dass jeder Mensch Ermunterung braucht, um entscheidende Schritte zu gehen und das eigene Zögern und Zaudern zu überwinden.

Vom „Reichtum in unseren Köpfen“

Aber noch etwas Weiteres sei hinzugekommen. „Frauen haben immer noch das Gefühl, dass ihr Leben nicht erzählenswert wäre.“ Sie selbst kenne diese Zweifel ebenfalls. Geholfen habe ihr zum Beispiel, sich in die Fremde zu begeben. Während eines längeren Aufenthalts in Japan habe sie endlich das Gefühl gehabt, wachsen zu dürfen. – Woran das lag? Ihrer Meinung nach vor allem daran, sich außerhalb gewohnter Kategorien zu befinden: geschlechtlicher Kategorien etwa, aber auch als Fremde in einem anderen Land, in dem sie als blonde große Frau und Tramperin sowieso aus dem Rahmen fiel. „Da war ich für mich im Paradies“, sagt sie heute über diese Zeit. Jeden Tag habe sie aufgeschrieben, was sie gesehen und gehört hatte. So entstand das Drehbuch zu ihrem Film „Kirschblüten – Hanami“, in dem sie ihre eigene Geschichte von Tod und Verlust verarbeitete, auch wenn im Film nicht sie als Person im Vordergrund steht, sondern die Geschichte von Trudi (Hannelore Elsner) und Rudi (Elmar Wepper).

Die eigene Biografie ernst zu nehmen, ihre Einzigartigkeit zu begreifen und die Geschichten zu erzählen, die jeder Mensch mitbringt, sei der „Reichtum in unseren Köpfen“. In jeder Erinnerung tue sich ein eigener Kosmos auf. Dörrie, die seit zwanzig Jahren kreatives Schreiben an der Münchner Filmhochschule unterrichtet, falle überall, wo sie unterrichtet immer eines auf: Männer erzählten oft schnell und ohne Scheu ihre Geschichten, während Frauen die eigenen Erzählungen meist als zu banal, zu klein und zu unwichtig empfänden, um sie zu erzählen. Diese Barriere illustrierte Dörrie während ihrer Kanzelrede eindrucksvoll, in dem sie sich ein „Ostrich-Pillow“ aufsetzte – ein Straußenkissen mit drei Öffnungen (jeweils eine für Ohren und einen kleinen Gesichtsausschnitt), das findige Designer als Schreibtischschlafsack zum „Power-Napping“ erfunden haben. Der Effekt: Man hört, sieht und schmeckt zwar – doch der Rest der Umwelteindrücke ist völlig abgedämpft.

Diese Kappe gelte es loszuwerden, sich ins Abenteuer zu stürzen. „Das Glück liegt darin, dieses Kissen abzusetzen!“, so Dörrie. Und um gleich damit anzufangen, hatte sie für das Publikum in der Erlöserkirche auch umgehend eine Übung parat: dem unmittelbaren Sitzbanknachbarn zu erzählen, wie der Fußboden aussah, den man als Kind unter seinen Füßen hatte. Eine Aufgabe, die jeder und jedem Murmelnden und Erzählenden in der Erlöserkirche sogleich verdeutlichte: Jeder Fußboden erzählt eine eigene Geschichte – und sie ist es wert, erzählt zu werden.

Dorothea Grass

Hinweis:
Die Kanzelrede von Doris Dörrie in unserer Mediathek als Audio-Podcast nachhören.

Zum Weiterlesen:
Die Begrüßung zur Kanzelrede vom 8. März 2020 von Akademiedirektor Udo Hahn können Sie hier nachlesen.

Bild: Doris Dörrie auf der Kanzel der Erlöserkirche in München-Schwabing (Foto: Haist/eat archiv)

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