“Akademien bleiben für den Dienst an der Gesellschaft besondere Räume”

Im Interview mit “Diskurse”, dem Newsletter der Evangelischen Akademien in Deutschland, spricht Akademiedirektor Udo Hahn über die Entwicklung, die die Evangelischen Akademien durchlaufen haben, ihren Auftrag und die Ziele der Bildungsarbeit.

 

Herr Hahn, Sie sind seit zehn Jahren Akademiedirektor der Evangelischen Akademie Tutzing und seit April 2021 Vorstandsvorsitzender des Dachverbandes der Evangelischen Akademien in Deutschland e.V. Was würden Sie sagen – welche Entwicklung haben die Akademien in den letzten zehn Jahren durchlaufen?

Udo Hahn: Nach meiner Wahrnehmung sind die Leitungen der Akademien sowie die Teams der Studienleiterinnen und -leiter jünger und weiblicher geworden. Die finanziellen Mittel durch die Träger sind weiter rückläufig. Zugleich ist die Akademiearbeit stabil geblieben und der Zuspruch zu den Angeboten ungebrochen. Die Akademien behaupten sich in einer wachsenden Landschaft von Bildungsanbietern als unverwechselbare Akteure. Ihre jeweiligen Träger – insbesondere die Landeskirchen – definieren durchaus unterschiedliche Ziele, was Nutzen und Ausstattung dieser Einrichtungen angehen. Im einen Fall wird sogar eine Akademie geschlossen, weil die Direktorin in den Ruhestand tritt – der Stellenplan umfasste zuletzt nur eineinhalb Stellen. Im anderen Fall wird der Rahmen stabil gehalten und weiterentwickelt. Das ist sehr ermutigend.
Was den Diskurs über die gesellschaftlichen und politischen Themen angeht, haben Evangelische Akademien die Hand am Puls des Zeitgeschehens. Und in der digitalen Welt sind auch die Akademien längst angekommen. Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass Konzepte, die längst vorlagen, mit Unterstützung der Träger umgesetzt werden konnten. Mit unseren digitalen Angeboten haben auch wir unsere Reichweite erheblich ausdehnen können.

Der Gründungsauftrag der Akademien lautete, gesellschaftliche Entwicklungen in ihren unterschiedlichsten Dimensionen zu reflektieren, protestantische Perspektiven zu eröffnen und zur Demokratisierung unserer Gesellschaft beizutragen. Wie schätzen Sie diesen Auftrag heute ein? Wie muss er für unsere Zeit konkretisiert werden?

Der Auftrag hat an Aktualität nichts eingebüßt: Menschen zum Diskurs zu gewinnen, um Lösungen für die Herausforderungen in Politik und Gesellschaft zu entwickeln. Kirchliche Akademien bleiben für diesen Dienst an der Gesellschaft besondere Räume, denn die Kirchen verstehen sich hier selbst als Teil der Suchbewegung und nehmen nicht für sich in Anspruch, bereits die Lösungen zu kennen. Diese Diskursräume sind deutlich offener als andere – sie lassen nicht nur Vielfalt, sondern auch Widerspruch zu. Dieser Gesichtspunkt gewinnt in einer Zeit an Bedeutung, in der sich viele Menschen in ihrer Filterblase oder Echokammer einrichten. Gerade kirchliche Akademien stellen Räume des Vertrauens für einen fairen Austausch unter Berücksichtigung einer größtmöglichen Breite von Positionen zur Verfügung.

Aktuelle gesellschaftspolitische Debatten sprechen von einer Spaltung der Gesellschaft. Sie sprechen außerdem vom dringenden Klimaschutz und stellen die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. In solch diffizilen Debattenlagen – was kann Akademie hier leisten?

In ihrem Positionspapier „Diskurskultur“ aus dem Jahr 2012 sehen sich Evangelische Akademien als Forum und Faktor. Das gilt nach wie vor. Als Forum laden wir viele ein – gerade auch jene, die im öffentlichen Diskurs von den Entscheidungsträgern oft übersehen werden. Dazu gehört zum Beispiel auch die Perspektive der Länder des Globalen Südens. Zum Faktor werden Akademien, weil im vorpolitischen Raum Themen sortiert und in einer Breite diskutiert werden, die größer ist als aus dem Blickwinkel einzelner Interessengruppen.

Zielt die Arbeit der Akademien vor allem darauf, die Zivilgesellschaft zu stärken? Ist das ihr Demokratieverständnis?

Die Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft. Die Idee Evangelischer Akademien ist in der Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus entstanden, als es einer Partei gelungen war, das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben gleichzuschalten. Was wir heute mit großer Selbstverständlichkeit und im Lichte der Erfahrung der Bundesrepublik Deutschland mit Selbstbewusstsein Bürger- oder Zivilgesellschaft nennen, das gab es in der Diktatur nicht. Genau solche Orte und die damit verbundenen Freiräume gehören aber zur DNA einer liberalen Demokratie. Sie sind Teil der Erfolgsgeschichte unseres Landes, das im Kompromiss eine herausragende Leistung sieht, der zum sozialen Frieden beiträgt und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht. Die Gründung Evangelischer Akademien ist die vielleicht bedeutendste Innovation der Evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Evangelische Kirche ist auch immer eine gestalterische Kirche. Gleiches gilt für Akademien, die Orte des Diskurses sind und Raum für Gespräche eröffnen. Was bedeutet “evangelisch”, was leiten Akademien daraus für ihre Arbeit ab?

“Evangelisch” ist ein Proprium, das uns von anderen, säkularen Bildungsträgern unterscheidet und in einer pluralen Gesellschaft nicht fehlen darf. Bundespräsident Joachim Gauck hat beim Jahresempfang anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Evangelischen Akademie Tutzing 2017 dazu ermutigt, “dass eine solche Akademie all den Diskursen, die unsere Gesellschaft jeweils prägen, etwas hinzufügt – nämlich das, was der christliche Glaube dem Leben hinzufügen kann”. Mich bewegt dieser Satz, denn er beschreibt unsere Herkunft und unser Profil – und unseren bleibenden Auftrag. Die “Sache mit Gott” treibt viele Menschen um – auch und gerade jene, die von sich behaupten, nicht religiös zu sein. Evangelische Akademien können das Geheimnis “Gott” nicht aufdecken. Sie können aber einen Raum bieten, in dem sich Menschen diesem nähern und eigene Antworten finden.
Die biblische Botschaft ist für mich eine Ressource, die Menschen in dieser von Sorgen und Ängsten geprägten Zeit Kraft zum Engagement, Zuversicht und Hoffnung geben kann. Ein glaubensgestärktes Ja zur Zukunft – das ist eine Ermutigung, die Menschen in unseren Veranstaltungen erfahren können.

Die sogenannte Freiburger Studie hat der Evangelischen Kirche einen Rückgang der Mitgliederzahl um etwa die Hälfte vorausgesagt. Wie betrifft eine solche Vorhersage Evangelische Akademien?

Die Studie prognostiziert einen gesellschaftlichen Wandel, in dem wir uns längst befinden. Und Evangelische Akademien waren und sind immer schon Pioniere, neues Terrain zu erkunden und zu erschließen. Das Ergebnis einer Sozialraumanalyse der Evangelischen Akademie Tutzing zeigt, dass sich das Publikum aus dreißig Prozent Protestanten und dreißig Prozent Katholiken zusammensetzt sowie vierzig Prozent, die einen anderen Hintergrund haben. Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung, dass die Arbeit Evangelischer Akademien in diesem Wandel noch wichtiger werden wird: für gesellschaftliche Kräfte, die durch Akademien mit Kirche in Berührung kommen; und für Kirche, die mit gesellschaftlichen Kräften in Kontakt kommt. Ich hoffe, dass die Träger der Akademien dieses Potenzial und die sich daraus ergebenden Chancen erkennen. Es dient einer zukunftsfähigen Kirche.

Die Evangelischen Akademien in zehn Jahren – welche Vision haben Sie?

Meine Vision ist, dass wir mit unseren Veranstaltungen – in Präsenz, digital und hybrid – wahrnehmbare Akteure in diesem spezifischen Sektor der Bildung bleiben, in dem es um Orientierung geht. Dass sich die Landeskirchen Akademien als Stätten leisten, an denen aus evangelischem Glauben politische Debatten gestaltet werden, an Orten kultureller Inspiration, in Räumen, in denen Menschen aufatmen und etwas von der Freundlichkeit Gottes spüren können.

 

Hinweis: Das Interview ist am 25. Oktober 2021 im “Diskurse”-Newsletter der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD) erschienen. Der Newsletter des Dachverbands erscheint dreimal jährlich und ist unter www.evangelische-akademien.de bestellbar.  

Bild: Udo Hahn (Foto: Haist/eat archiv)

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