9. November – Schicksalstag der Deutschen

Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer gibt es in Europa keine kommunistischen Diktaturen mehr, die politische Vereinigung ist vollzogen. Jedoch: „Die innere Vereinigung ist nach wie vor nicht in Sicht. Im Gegenteil!“, meint Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, im BR-Kommentar „Zum Sonntag“. Der 9. November sollte die Deutschen daran erinnern, an jedem Tag für die Grundwerte der Demokratie einzustehen.

In der Geschichte der Deutschen ist der 9. November ein ganz spezielles Datum. Mehrere Ereignisse im 20. Jahrhundert haben ihn buchstäblich zum Schicksalstag der Nation gemacht. Er löst Emotionen aus, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Heute vor dreißig Jahren um 18.53 Uhr läutete SED-Politbüro-Sprecher Günther Schabowski unfreiwillig das Ende der deutschen Teilung ein. „Nach meiner Kenntnis ist das … sofort, unverzüglich“ – mit diesen Worten kommentierte er die neue DDR-Reiseregelung. Danach öffnete sich die Grenze, die Berliner Mauer fiel, die friedliche Revolution hatte gesiegt.

Dreißig Jahre später ist zwar die Freude noch immer da über das Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa. Aber bei uns ist die Freude der Nüchternheit gewichen. Gewiss, die politische Vereinigung ist vollzogen, aber die innere Vereinigung ist nach wie vor nicht in Sicht. Im Gegenteil! Immer offensichtlicher treten die Fehleinschätzungen und Fehlentwicklungen der vergangenen drei Jahrzehnte zu Tage. Hinzu kommt: Angesichts der Wahlerfolge der AfD in den neuen wie den alten Bundesländern macht sich Verunsicherung breit. Wie lassen sich Überzeugungen wirksam bekämpfen, die die Grundwerte der Demokratie offen in Frage stellen? Und wie kann man einem ungenierten Rassismus und Antisemitismus couragiert begegnen?

Blicken wir nicht dreißig, sondern 81 Jahre zurück, dann symbolisiert der 9. November nicht die Hoffnungen der Deutschen, sondern den Weg in die Verbrechen der Diktatur des Nationalsozialismus. Für den 9. November 1938 stehen die Bilder der brennenden Synagogen und eines aufgepeitschten Mobs, der Juden demütigt und misshandelt, Schaufenster jüdischer Geschäfte zerstört und Häuser mit Hetzparolen beschmiert. Zehntausende jüdische Bürgerinnen und Bürger wurden in Konzentrationslager verschleppt, Hunderte wurden umgebracht oder starben an den Folgen der Haft. Nur ein Jahr später begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg als ein beispielloser Vernichtungskrieg, in dessen Verlauf Millionen europäischer Juden systematisch ermordet wurden. Wen wundert es, dass der Terroranschlag auf die Jüdische Synagoge in Halle schlimmste Befürchtungen weckt?

Und noch zwei Ereignisse an einem 9. November, die das Wechselbad der Gefühle nur verstärken. Am 9. November 1923 scheiterte der „Hitlerputsch“ in München. Dieser hatte die „nationale Revolution“, also die Absetzung der Bayerischen Regierung und der Reichsregierung zum Ziel. Fünf Jahre zuvor rief Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste Deutsche Republik aus. Die „Novemberrevolution“ 1918 führte das Deutsche Reich von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch-demokratische Republik.

Novemberrevolution, Hitlerputsch, Reichspogromnacht, Fall der Berliner Mauer: Freude und Scham, Trauer und Stolz – das ist die Gefühlswelt, in die der 9. November führt. Jenseits aller Gefühle rückt heute jedoch eine Frage in den Mittelpunkt, die alle Ereignisse verbindet: Wie stabil ist eigentlich unsere Demokratie? Nimmt man das Ergebnis der Open Society Foundations, einer Gruppe von Stiftungen des US-amerikanischen Milliardärs George Soros, zum Maßstab, dann sorgen sich die Menschen in Mittel- und Osteuropa um die Errungenschaften der friedlichen Revolution vor dreißig Jahren. Laut dieser Umfrage sehen in Deutschland aktuell 52 Prozent der Menschen die Demokratie in Gefahr.

Wie lässt sich dieser Gefahr begegnen? Durch eine starke Zivilgesellschaft zum Beispiel. Eine breite und aktive Bürgergesellschaft ist geradezu die Bedingung für eine funktionierende Demokratie. Sie macht immun gegen Extremismus jeglicher Art, denn sie kümmert sich um das, was allen dient.

Und durch Erinnern und Gedenken. Dabei geht es nicht um eine Fixierung auf die Vergangenheit. Sondern darum, die Gefährdungen von Demokratie und Humanität, die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen und ihnen entschieden zu widerstehen. Die dafür notwendige Wachsamkeit braucht es übrigens nicht nur am 9. November, sondern an jedem Tag.

Udo Hahn ist Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.

Vorliegender Text von Udo Hahn ist zugleich Hörbeitrag für die Sendung „Zum Sonntag“ von Bayern2. Sendetermin: 9. November 2019 / 17.55 Uhr. Unter diesem Link erfahren Sie mehr und können die Sendung nachhören.

Bild: Udo Hahn  (Foto: Haist/eat archiv)

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