“Nichts ist gut in Afghanistan”

Die Geschehnisse in Afghanistan zeigen: Waffengewalt allein schafft noch kein demokratisches Staatswesen. Diese Erkenntnis, findet Akademiedirektor Udo Hahn, scheint in der Politik noch nicht ausreichend angekommen zu sein. In seinem Gastkommentar für die Bayern 2-Sendung “Zum Sonntag” fragt er: “Wieso wurden die vielen Signale übersehen und überhört, die schon früh das Scheitern befürchten ließen?”

Sendetermin: Samstag, 21. August 2021 um 17.55 Uhr auf Radio Bayern 2

“Wir haben die Lage falsch eingeschätzt.” Sätze wie diese gehen Politikerinnen und Politikern nicht leicht über die Lippen. Bundesaußenminister Heiko Maas kommentierte mit diesen Worten die Entwicklung in Afghanistan in dieser Woche. Wie es dazu kommen konnte, dass die radikal-islamischen Taliban in kürzester Zeit die Macht wieder übernehmen, dieser Debatte muss sich die Politik jetzt stellen.

Die Rückeroberung des Landes durch die Taliban lässt viele Menschen am Hindukusch um Leib und Leben fürchten. Fast auf den Tag genau zwanzig Jahre ist es her, dass die Anschläge islamistischer Terroristen auf das World Trade Center in den USA am 11. September 2001 einen “Krieg gegen den Terror” auslösten. Besiegt werden sollte dieser Terror – und Afghanistan, sein Rückzugsort, in eine Demokratie verwandelt werden. Dass zuvor schon die Intervention der sowjetischen Armee erfolglos war, hat damals niemanden interessiert. Dabei umfasst die Geschichte des Scheiterns in Afghanistan viele Kapitel. Von einem erzählt 1857 die Ballade des Schriftstellers Theodor Fontane. Sie trägt den Titel “Das Trauerspiel von Afghanistan” und schildert den gescheiterten Versuch des britischen Königreichs, in Kabul eine den Briten genehme Führung aufzubauen. “Zersprengt ist unser ganzes Heer”, lässt Fontane einen Kommandanten sagen: “Was lebt, irrt draußen in der Nacht umher, Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt, Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.” Und die Ballade endet mit der deprimierenden Bilanz: “Mit dreizehntausend der Zug begann, Einer kam heim aus Afghanistan.”

Geheimdienste, Militärs und Politik sind ratlos. Wie konnte es soweit kommen? Die eigentliche Frage scheint aber vielmehr: Wieso wurden die vielen Signale übersehen und überhört, die schon früh das Scheitern befürchten ließen? Als Margot Käßmann 2010 im Neujahrsgottesdienst der Dresdner Frauenkirche die geradezu prophetische Aussage machte “Nichts ist gut in Afghanistan”, da erhob sich ein Sturm der Entrüstung gegen die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. “Ich bin nicht naiv”, sagte sie damals in ihrer Predigt, “aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.”

Genau dieser Ansatz, andere Formen als üblich zu entwickeln, er findet in der Politik leider viel zu selten Gehör. Viele militärische Interventionen zeigen, dass Waffengewalt allein eben noch kein demokratisches Staatswesen schafft. Meinungs- und Pressefreiheit zu etablieren, dazu Frauenrechte, Bildung und Kultur, die von Vielfalt und Toleranz geprägt sind, eine funktionierende Zivilgesellschaft – das verlangt einen langen Atem. Und Investitionen, die noch weit über den Ausgaben für alles Militärische liegen. Aber genau dies geschah in Afghanistan nicht. Umso bitterer, dass alle bisherigen Kraftanstrengungen und alle Fortschritte, die zweifellos erzielt wurden, sich jetzt in Luft auflösen könnten. Die Befürchtungen sind groß, dass in dem Land die Uhren wieder zurückgedreht werden. Die aktuellen Äußerungen der Taliban klingen indes überraschend aufgeschlossen. Haben sie dazugelernt? Die weitere Entwicklung wird es zeigen.

Viele Afghanen wollen und können jedoch diese nicht mehr abwarten. Auf Biegen und Brechen versuchen zum Beispiel afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder Hilfsorganisationen im Einsatz waren, das Land zu verlassen. Deutschland und die Weltgemeinschaft müssen jetzt Verantwortung übernehmen. Sie haben ihr Wort gegeben. Die Flüchtenden müssen eine menschenwürdige Aufnahme finden.

Es wäre nur konsequent, wenn Regierung und Bundestag die entsprechenden Weichen stellten. Die Lage falsch einzuschätzen – das kann passieren. Dann muss aber auch die Verantwortung dafür übernommen werden, dass nicht am Ende einmal mehr die Schwächsten in ihrem Leid allein gelassen werden. Die Glaubwürdigkeit fundamentaler demokratischer Werte und Überzeugungen steht auf dem Spiel.

Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.

Hinweis:
Vorliegender Text ist als Gastkommentar für die Sendung “Zum Sonntag” von Radio Bayern 2 erschienen.
Sendetermin: 21. August 2021 / 17.55 Uhr. Unter diesem Link geht es zur Homepage der Sendung.

Bild: Pfr. Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Haist/eat archiv)

Tags: , , , , , , ,