Zurückkehren zur früheren Normalität?

Der Politologe, Philosoph und Autor Johano Strasser stellt im Interview mit Studienleiter Jochen Wagner die Sinnhaftigkeit einer Rückkehr zur Normalität in Frage – wenn das bedeuten sollte, die Zustände vor der Coronakrise wieder herzustellen.

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Im RotundeTalk der Evangelischen Akademie Tutzing spricht Prof. Dr. Johano Strasser über die zwiespältige Situation, in der sich die Menschen befinden, seitdem die Corona-Pandemie die Welt im Griff hat. Die Menschen hätten gemerkt, dass sie sich auf dünnem Eis bewegen und dass Gewohnheiten des Alltags von einem auf den anderen Tag verschwinden oder in Frage gestellt werden. „Das stolze europäische Individuum ist jetzt reduziert in seiner Geltung“, so Strasser. Von der „bodenlosen Vorstellung“, alles selbst gestalten zu können, müsse es sich verabschieden. Von einer Rückkehr zu Normalität vor Coronazeiten, rät er sehr ab. Diese Zeiten hätten eine „Schlagseite ins Katastrophische“ gehabt. Auf keinen Fall solle man nun versuchen, die „Betriebstemperatur der Wirtschaft“ wieder herzustellen, wie sie war.

Strasser (* 1. Mai 1939 in Leeuwarden, Niederlande) ist ein Urgestein der deutschen Politiklandschaft. Philosophisch promoviert und in Politologie habilitiert, war er zunächst als Professor für Politikwissenschaft tätig. Der Liebe wegen in den Süden gezogen, lebt er mit seiner Familie seit vielen Jahren als Publizist und Schriftsteller am Starnberger See.

Diese naturschöne Komfortzone hat ihn jedoch nicht „affirmativ“, also blind für das Auseinanderdriften der Klassen und Schichten sowie die Selbstwidersprüche des modernen Hightech-Kapitalismus werden lassen. Vielmehr ist nach Jahrzehnten intensivster diskursiver politischer Existenz noch immer seine Leidenschaft an den meist mühsamen demokratischen Prozessen ungebrochen – und das nun im 81. Lebensjahr.

Wie soll man die Bandbreite seines theoretischen Schaffens, seiner Sach-, romanesken und Lyrik-Bücher zusammenfassen? Der einen, literarischen Hälfte seiner zeitgenössischen Existenz korrespondiert die andere Hälfte der diskursiven Praxis in komplexen Ämtern und Funk-tionen. Seit schier ewigen Zeiten Mitglied der SPD-Grundwerte-Kommission, war er ab 1995 Generalsekretär und dann von 2002 bis 2013 Präsident des deutschen PEN-Clubs.

Wiewohl als Alt-68er tituliert, war er für das Abdriften in eine auch gewaltbereite Extreme so wenig zu gewinnen wie er den Marsch durch die Institutionen als unabdingbar für deren humane, nicht-repressive Reform hielt. “Als wir noch Götter waren im Mai. Ein deutsches Leben Berlin, 2018“  atmet bis heute die Begeisterung, wach, kritisch, zäh für eine gerechte, freie, offene Gesellschaft zu arbeiten.

Was also wäre politisches Engagement ohne um der Bilder von glücklichen Menschen willen, das Prinzip Hoffnung – Johano Strasser war wie mit Gretchen und Rudi Dutschke auch mit Ernst Bloch befreundet – mit dem Prinzip Verantwortung (Hans Jonas) kurz zu schließen?

So mischen sich radikale  Diesseitsliebe ohne calvinistische Vorsehung mit einer aus der Solidarität vieler Menschen sich speisenden Gelassenheit. Es ist oft der Zufall, eine kaum geahnte neue, aber in der Dialektik von Mensch, Natur, Gesellschaft sich anbietende  Konstellation, vom Scheitern ins Gelingen zu kommen – Strasser konkret: „Jetzt bloß nicht in oder nach Corona durch einen dummen Reset zerstörerischen Konsums die Spielräume für ein anderes Leben emanzipatorischer Sinnlichkeit verspielen“ – und lächelt.

Jochen Wagner

Hinweis: Hier können Sie das vollständige Interview mit Johano Strasser ansehen.

Bild: Johano Strasser in der Rotunde der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: eat archiv)

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