Kulturschaffende als Zielscheibe

In einigen Ländern Mittel- und Osteuropas sind in den letzten zehn Jahren erstarkende autoritäre Tendenzen zu beobachten, die sich unverhohlen altbekannter Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen bedienen. Aus diesem Grund widmete sich die Evangelische Akademie Tutzing im September 2019 dem Thema „Zensiert & verfolgt: Kultur unter Druck“. Denn auch Kultur- und Kunstschaffende werden verstärkt zu Zielscheiben der Machteliten und sehen sich Zensur, Verdrängung und Verfolgung ausgesetzt.

Die Tagung fragte nach der Lage der kritischen Kulturschaffenden und Intellektuellen in Mittel- und Osteuropa: Wie agieren sie angesichts der sich verändernden politischen Bedingungen? Helfen Erfahrungen aus nonkonformistischen Bewegungen der Sowjetzeit? Welche Strategien und Instrumente stehen Kulturschaffenden in der digitalisierten und globalisierten Welt zur Verfügung, um trotz Zensur, Exil und Verfolgung künstlerisch, politisch und ästhetisch wirksam zu sein?

Neben Erfahrungen aus Ungarn, Polen, Belarus, Russland, Georgien, der Ukraine und Serbien wurden auch jüngste politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und Österreich diskutiert.

Im Folgenden lesen Sie den Tagungsbericht des ukrainischen Journalisten Juri Durkot.
Das Programm der Tagung finden Sie hier.

DAS VERSPRECHEN DER FREIHEIT. KULTUREN IN MITTEL- UND OSTEUROPA 30 JAHRE NACH DEM MAUERFALL / KEYNOTES VON DR. BORIS BUDEN UND ARPÁD SCHILLING

Der Überblick über die Kulturen in Mittel- und Osteuropa 30 Jahre nach dem Mauerfall am Beispiel von Kroatien und Ungarn fiel ziemlich pessimistisch aus. In seinem 2009 veröffentlichten Buch „Zone des Übergangs: vom Ende des Postkommunismus“ argumentiert der österreichische Philosoph und Autor kroatischer Abstammung Boris Buden, dass die Epoche des sogenannten Übergangs zur Demokratie zu Ende gegangen ist. Heute gibt es kein Gefühl des gemeinsamen Ziels mehr, kein Glaube daran, dass die liberale Demokratie westlicher Prägung, die der Kapitalismus produziert hat, etwas Gutes ist. Nach 1989 war klar, was die richtige Richtung ist. Heute wissen wir es nicht mehr.

In Kroatien, so Buden, hat der Übergang zur Demokratie nicht stattgefunden. Die ursprüngliche Idee war: Je mehr Europa, desto weniger Hass und Gewalt. Nur: Der Grund für den Zusammenbruch des früheren Staats Jugoslawien war die endgültige „Europäisierung“ des Balkans. Der Balkan wurde in den Zustand der Nationalstaaten zurückgeworfen. Das gegenwärtige Chaos wird zusätzlich von sozialen Konflikten verstärkt. Und es geht nicht darum, dass der Osten den Westen einzuholen versucht, eher umgekehrt – der Westen kopiert die Praktiken des Ostens.

Boris Buden äußerte sich besonders kritisch über den Zustand der kroatischen Gesellschaft. Die europäische politische Elite sei blind, wenn sie Kroatien als Beispiel für den „europäischen Erfolg“ nennt. Die kroatische Gesellschaft fällt auseinander, es gibt keine Industrie mehr, keinen Schiffsbau, nur noch Tourismus. Buden geht sogar so weit, dass er dieser Gesellschaft einige faschistische Züge attestiert. Die Kirche ist im Land zu einer rein politischen Institution geworden. Obwohl 99 Prozent der Kroaten katholisch sind, glaubt keiner an Gott.

Die Unterdrückung Schritt für Schritt aufgebaut

Das vom ungarischen Theaterregisseur Árpád Schilling gezeichnete Bild der ungarischen Gesellschaft ist noch düsterer. Das heutige Regime sei das Resultat der Politik nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Aber auch die ungarische Geschichte spiele dabei eine Rolle. „Ein Demokrat zu sein, bedeutet vor allem, keine Angst zu haben“, hat István Bibó, der große ungarische Denker des 20. Jahrhunderts, gesagt. Leider sei Ungarn über den  Angstzustand nie hinausgewachsen, so Schilling.

In der sozialistischen Diktatur konnten die Menschen keine Freiheiten genießen, aber der Staat sorgte für ihren Unterhalt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verloren viele Menschen den Grund unter den Füßen. Das neue kapitalistische System war nicht mehr verpflichtet, für Menschen in Not zu sorgen, sie waren plötzlich auf sich alleine gestellt und mussten ums Überleben kämpfen. Zu den instinktiven Strategien gehörte auch die Unterordnung –  nach dem Motto: Wenn du nicht protestiert, hast du bessere Chancen aus einer schwierigen Situation herauszukommen.

Orbán ist es gelungen, den „Feudalismus in uns“ mit dem globalen Kapitalismus zu verschmelzen. Wenn Menschen Arbeit haben und internationale Konzerne investieren und Gewinne machen können, ist es eine „win-win“-Situation. Auf diese Weise kann man lange an der Macht bleiben. Heute kontrolliert die regierende Partei in Ungarn viele Bereiche des öffentlichen Lebens und verbreitet eine unmissverständliche Nachricht: Wer gegen uns votiert, den lassen wir im Regen stehen. Für die Finanzierung aus öffentlicher Hand wird Loyalität erwartet.

Kulturelle Institutionen üben deshalb Selbstzensur. Wenn sie bestimmte Fragen nicht stellen und Konfrontation vermeiden, können sie einen bestimmten Grad ihrer Freiheit bewahren. Die Künstler und die Intellektuellen bekommen zu verstehen, dass ihre Ziele nicht in Opposition zum Regime stehen können.

Es herrscht Stille in Ungarn. Heute kontrolliert Viktor Orbán die Wirtschaft, die Medien, die Wahlkommission und das Verfassungsgericht, das wissenschaftliche und kulturelle Leben, die Staatsanwaltschaft und das Bildungssystem. Nur die Gerichte bleiben unabhängig, das wird sich aber wohl 2022 ändern. Aus der heutigen Sicht wird Orbán noch ein paar Wahlen sicher gewinnen, aber das von ihm geschaffenen System der nationalen Zusammenarbeit wird für längere Zeit bleiben, so das düstere Fazit von Schilling.

Die Rolle Europas und Deutschlands

Europa zögerte nicht, das repressive Regime in der Vergangenheit zu unterstützen, und es wird dies auch in der Zukunft tun. Im Tausch für die Unterstützung bei der Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin hat die EVP Orbán seine Politik verziehen. Die deutschen Unternehmen sind massiv präsent in Ungarn, sie investieren weiter, und die ungarische Wirtschaft ist dank dieser Präsenz stabil.

Aber die Wahlen in Deutschland haben gezeigt, dass man mit Geld keine Demokratie kaufen kann. Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer existiert Ostdeutschland weiter, Populisten gewinnen immer mehr Stimmen. Ostdeutschland wolle keine offene Gesellschaft, nur Sicherheit und Bequemlichkeit, prangert Schilling an.

Heute bietet der Osten ein Modell für den Westen, wie man das Momentum kontrollieren, die Wahlen gewinnen und die verunsicherten Menschen regieren kann. Und dieses Beispiel ist ansteckend. Eine Schlussfolgerung von Schilling, bei der man große Überschneidungen mit den Ausführungen von Boris Buden feststellen kann.

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Juliane Fürst

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Juliane Fürst während ihres Vortrags

NONKONFORMISTISCHE KULTUR(EN) IN DER SOWJETUNION / JULIANE FÜRST

Eine „Tour de Force“ über die Geschichte der nonkonformistischen Kulturen in der Sowjetunion bot Juliane Fürst. Der Nonkonformismus und seine Definitionen durchlebten unter dem Kommunismus als Staatsideologie mehrere Phasen. Galt zunächst alles, was von der imperialen Welt übrig geblieben ist, als nonkonformistisch, waren es Ende der 1920er Jahren die früheren revolutionären Ansichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannte der große Wettstreit: Welches System ist besser? Dabei verkörperten die USA den gesamten Westen.

Welche Kunst ist sozialistisch?

Auch wenn Jazz in der Sowjetunion lange Zeit verboten blieb (auch das Saxofon als Musikinstrument war verboten), fanden globale Strömungen aus der Jazzkultur Einzug in den sowjetischen Alltag. Nach dem Krieg gab es die ersten Stiljagi, die sowjetischen Teddyboys. Doch besonders hochgehalten wurde die Lyrik. Immer wieder kam es zu spontanen Lesungen, und in den 1960er Jahren tanzten die Beatniks bereits Twist.

Im Untergrund schufen Anfang 1960er Jahren die Konzeptualisten Bilder außerhalb des sozialistischen Kanons, es gab mehrere Ausstellungen in privaten Räumen. Eine der bekanntesten und wichtigsten öffentlichen Veranstaltungen der inoffiziellen Kunst in der UdSSR war die sogenannte „Bulldozer-Ausstellung“ von 1974, die unter Einsatz von Wasserwerfern, Baggern und Bulldozern von Behörden niedergerissen wurde.

Der Westen als Utopie

Hippies gab es in vielen sowjetischen Städten seit Ende der 1960er. Oft wurden sie vom KGB als psychisch krank eingestuft und in psychiatrische Anstalten eingewiesen. Man durfte nicht apolitisch sein, man musste sozialistisch leben. Doch der Kommunismus konnte nicht mehr die Utopie sein. Zu dieser Utopie wurde nun der imaginäre Westen. Zum wichtigen Symbol des Westens sind die Jeans geworden. Oft wurden sie selbst geschneidert und mit folkloristischen Elementen verziert.

Erst in den 1980er Jahren lockerte sich die Atmosphäre etwas auf. Es  durfte schon Rock’n’Roll gespielt werden (allerdings wurden die Konzerte vom KGB kontrolliert), Gruppen wie „Kino“ mit Viktor Zoi erreichten Kultstatus.

In der postsowjetischen Welt

Der Underground hat in der Sowjetunion harmonisch zusammengearbeitet. Danach haben sich die Wege verschiedener Gruppen getrennt. Einige alte Hippies sind heute extrem nationalistisch. Und in Russland herrschen wieder rigide Normen für gesellschaftliches Leben. Es gibt Zensur und Selbstzensur. Im Sozialismus war relativ klar, was geht und was nicht. In Russland sind die Grenzen verwischt. Man weiß nicht, wo sie liegen. Man kann Preise gewinnen, und dann wegen irgendwelchen finanziellen Sachen verhaftet werden.

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Katja Lange-Müller und Andrej Kurkow

Foto: eat archiv

Katja Lange-Müller und Andrej Kurkow

LEHREN AUS DEM UNDERGROUND? GESPRÄCH UND LESUNG MIT JULIANE FÜRST,  KATJA LANGE-MÜLLER UND ANDREJ KURKOW

Eine Teppichfabrik in der Mongolei

Zwei Schriftsteller haben ihre Wege in die Literatur und ihre Erfahrungen im und nach dem Kommunismus geschildert. Die Absolventen der Kunsthochschulen mussten in der DDR mindestens drei Monate lang in einem sozialistischen Betrieb im Ausland arbeiten. So landete Katja Lange-Müller in der Mongolei. Als sie zurück zu Hause war, wusste sie, dass man überall beobachtet wurde. Um „Samisdat“ (alternative, nicht-systemkonforme Literatur, die im Selbstverlag erschien, Anm. d. Red.) zu lesen, musste man zum inneren Kreis gehören.

Heute sind viele Vertreter des antikommunistischen Widerstands enttäuscht. Sie fordern mehr Gerechtigkeit für SED-Opfer und Dissidenten. Sie reagieren sehr empfindlich darauf, dass linke Positionen respektiert werden, die konservativen aber kaum. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat”. Einige sehen die heutige Bundesrepublik immer ähnlicher zur DDR, die andere Gruppe meint, dass der Rechtsstaat doch besser ist. Aber die Probleme im Osten müssen ernst genommen werden. Man braucht mehr Analysen in den Medien und weniger Polemik.

Jimi Hendrix live in Lemberg

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow musste seinen Armeedienst als Gefängniswärter in Odessa absolvieren. Dort fing er an, Kinderbücher zu schreiben. Später kamen andere Themen hinzu. In seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ schildert er die Hippie-Szene im westukrainischen Lemberg. In den 1980er Jahren gab es laut Kurkow etwa 50 Hippies in Lemberg, heute sind es sechs oder sieben. Die Hippies aus Lemberg und aus dem Baltikum waren politisch viel aktiver als ihre Moskauer Kollegen.

Zur damaligen Zeit war die Sozialisierung besonders wichtig. Es gab kein Internet, die Menschen benutzten Cafés, Künstlersalons, es wurde diskutiert. Heute wird im Internet diskutiert. Aber die Internet-Demokratie ist vom Strom abhängig. Wenn es keinen Strom gibt, gibt es keine Demokratie, so Kurkow ironisch.

RE-NATIONALISIERUNG DER KULTUREN? EIN BLICK NACH ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND / GESPRÄCH MIT KATHRIN RÖGGLA UND CARENA SCHLEWITT

Die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla lebt in Berlin und fühlt sich persönlich frei. In Cottbus oder in Nordhessen wäre es wohl anders. Doch auch in Berlin, genauso wie in Deutschland oder Österreich, geraten die Kulturinstitutionen unter Druck. Besonders eindringlich war die Geschichte im Friedrichstadtpalast, als der Intendant Berndt Schmidt Morddrohungen bekommen hat, nachdem er sich vom Weltbild der AfD in den Medien distanziert hatte.

In Österreich herrscht in manchen Ländern ein neoliberales Denken, was zu einer destruktiven Haltung gegenüber Kunst führt. So wurde zum Beispiel in Oberösterreich die Literatur-Förderung um ein Drittel gekürzt. Und es findet eine weitgreifende Politisierung der Kultur statt. In den Gremien säßen Leute, die keine Ahnung von Kultur haben, berichtete Röggla.

Auch Carena Schlewitt, Intendantin im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden, kann viel über politischen Druck auf Künstler erzählen. Die AfD forderte im Wahlprogramm, Hellerau nicht mehr in dieser Form weiterzuführen. Inzwischen gibt es eine andere Konstellation in Dresden, nachdem die Grünen die Kommunalwahlen im Mai 2019 gewonnen haben.

Als künstlerische Leiterin der Kaserne Basel wurde Carena Schlewitt auch in der Schweiz mit versuchter Einflussnahme konfrontiert. Es gehe aber immer darum, wie das Verhältnis von Staat und Kunst definiert werde, so Schlewitt. Jede Form der Förderung sei schließlich Politik.

VERSCHIEBUNGEN: KULTUR IN UNSICHEREN ZEITEN / KATARZYNA WIELGA-SKOLIMOWSKA UND ARTJOM LOSKUTOW

Polen: Entlassungswelle bei Institutionen

Katarzyna Wielga-Skolimowska wurde der Vertrag als Leiterin des Polen-Instituts in Berlin nicht verlängert. Die neue polnische Regierung verfolgt die Taktik, alle Institutionen mit eigenen Leuten zu besetzen. Die Vision der Regierung ist ein ethnisch definierter Nationalstaat ohne Kommunismus als Ideologie. Kaczynski konstruiert eine Gemeinschaft, in der alle Minderheiten ausgeschlossen werden – Ukrainer, Litauer, Weißrussen, Nicht-Katholiken, Juden. Dafür wird Kultur als „ethnische polnische Kultur“ instrumentalisiert, es soll ein „echter Pole“ geformt werden. Eine polnische Anthropologin spricht in diesem Zusammenhang über einen unvollendeten Faschismus.

Die Regierung setzt auf ökonomische Zensur, die finanziellen Mittel für kulturelle Institutionen werden eingeschränkt. Das kann man umgehen, indem man mit einer städtischen Einrichtung zusammenarbeitet. In vielen Städten ist die Opposition an der Macht, aber auch die Städte bekommen jetzt weniger Geld vom Staat.

Die Regierung wird von der katholischen Kirche stark unterstützt, das ist kein Novum. Die Kirche war in der kommunistischen Zeit in der Opposition, aber es gab immer die Nähe zu nationalistischen Gruppen und Antisemitismus.

Humor der Nowosibirsker „Monstrationen“

In Sibirien kann man ohne Humor nicht leben, so der russische Künstler Artjom Loskutow. 2004 nahm er am 1. Mai zusammen mit den Mitgliedern der Gruppe Contemporary Art Terrorism in Nowosibirsk an der Demonstration teil. Sie trugen Plakate mit absichtlich absurden Parolen, um eine langweilige politische Prozession aufzurütteln und Spaß zu haben. Diese Aktion nannten sie „Monstration“ (das De- ist weggefallen, um zu unterstreichen, dass Demonstrationen in Russland meistens verboten sind). Seitdem erfindet man jedes Jahr neue Slogans, mittlerweile auch mit subtilem politischen Subtext. Sind es politische Mitteilungen, sind die Monstrationen politisch? Laut Loskutow, der bereits mehrmals unter verschiedenen Vorwänden festgenommen wurde, bewegen sie sich an der Grenze. „Wir wollen keine politischen Aktionen machen. Aber wir wollen auch nicht nur Kunst machen. Wir wollen neue Wege finden, wie man politische Aktionen macht oder über Politik spricht.“

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Foto: eat archiv

KARTIERUNG: KULTUR UNTER DRUCK / GESPRÄCHSSTATIONEN MIT NANA EKWTIMISCHWILI, DR. VASYL CHEREPANYN, ARTJOM LOSKUTOW, FELIX LEFFRANK, DR. VOLHA HAPEYEVA

Die georgische Schriftstellerin und Filmregisseurin Nana Ekwtimischwili, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist, erinnert sich an die vielen Tabus – Homosexualität, Religion, behinderte Menschen. Die Spuren der kommunistischen Zeit kann man heute in vielen postsowjetischen Ländern sehen. Man müsse lernen, keine Angst zu haben.

Heute ist Georgien unabhängig, muss sich aber gegen russische Propaganda wehren, und Teile des Landes sind von Russland besetzt. In einer patriarchalischen Gesellschaft hat die Kirche einen großen Einfluss, aber die georgische und die russische Kirche haben viele Gemeinsamkeiten, unter anderem ihre Homophobie.

Ob die heutige prorussische Regierung in Georgien die Wahlen im nächsten Jahr überstehen wird? Nana Ekwtimischwilis Prognose ist, dass sie untergehen muss, weil sie jegliches Gespür dafür verloren hat, was die Menschen wollen.

Die weißrussische Autorin Volha Hapeyeva gibt ein bizarres Beispiel für Selbstzensur in Minsk. Eine Druckerei weigerte sich, ein Plakat zur Feminismus-Ausstellung zu drucken, weil den Mitarbeitern das Wort „Feminismus“ suspekt erschien. Viele Künstler und Autoren flüchten sich in die innere Emigration, in eine parallele Welt, so auch Volha Hapeyeva. Ein Problem hat man dann, wenn man das Land nach außen vertreten muss. Andere versuchen das zu machen, was erlaubt ist.

Eine der Strategien ist Ironie. Ohne Ironie würde man in Depression verfallen, sagt Hapeyeva. Das Land befindet sich eigentlich schon in einer Depression, und die junge Generation ist apathisch, apolitisch und interessiert sich für nichts außer für soziale Netzwerke.

OLEG SENZOW VS. RUSSLÄNDISCHER STAAT: KULTURSCHAFFENDE ALS POLITISCHE GEFANGENE / PRÄSENTATION VON BUCH UND REPORTAGE MIT ANGELINA KARIAKINA UND CHRISTIANE KÖRNER

Oleg Senzow war der prominenteste politische Kreml-Häftling, der während des Gefangenenaustauschs am 7. September freigelassen wurde. Am selben Tag wurde in der Evangelischen Akademie die deutsche Übersetzung seiner Novellen vorgestellt. Ursprünglich wurde die Buchvorstellung als Solidaritätsaktion gedacht, nun berichtet die Journalistin Angelina Kariakina live aus Kiew von der Freilassung.

Die Texte des Buches sind vor 2013 entstanden, das Buch enthält sieben Erzählungen. Es ist eine literarische Autobiographie, betonte die Übersetzerin Christiane Körner.  Es sind sehr leise Texte über Kindheit und Jugend auf der Krim, auf dem Lande. Es passieren keine dramatischen Dinge. Es geht um Mobbing, um den Hund, um die Oma, die keiner in der Familie mag, um Krankenhauserlebnisse.

Dieses Buch war ein besonderes Projekt, es musste innerhalb von drei Monaten nach dem Vertragsabschluss (der ukrainische P.E.N. hat die Publikation gefördert) herausgeben werden. Es war eine kollektive Aktion von zehn Übersetzern, und es gelang, in kürzester Zeit einen Verlag zu finden.

AUSSENPERSPEKTIVE(N): DR. VIKTOR MARTINOVICH UND EKATERINA SERGATSKOWA

Jekaterina Sergatskowa, ukrainische Journalistin russischer Abstammung, wurde in Wolgograd geboren und arbeitete dort als Journalistin, zuletzt als Chefredakteurin der oppositionellen Zeitung „Chronometer”. Sie erinnert sich, wie ein Geheimdienstagent vom FSB sie auf Schritt und Tritt verfolgte und forderte, ihren Job aufzugeben. Die Zeitung wurde 2008 geschlossen, Jekaterina Sergatskowa zog auf die Krim und später nach Kiew. Nach dem Euromajdan konnte sie sich mit ihrem russischen Pass im Donbass relativ frei bewegen und machte zahlreiche Reportagen, für die sie mehrere Auszeichnungen erhielt. 2015 erhielt sie die ukrainische Staatsbürgerschaft.

Jekaterina Sergatskowa bezeichnet sich selbst als politische Migrantin. Sie ist die Mitbegründerin der Website Zaborona.com, die unter anderem über Rechtsradikalismus, Migration, LGBT-Rechte und andere sensible Themen recherchiert. Heute nennt sie zwei Länder ihr Vaterland, Russland und die Ukraine. „Aber auch wenn du ein Vaterland liebst (Russland), kann es dein Leben zerstören”. Viele russische Flüchtlinge in der Ukraine fühlen sich heute in beiden Ländern nicht wirklich zu Hause.

Viktor Martinovich, der als Kunsthistoriker über die Witebsker Avantgarde promoviert hat und seit 2005 an der Europäischen Humanistischen Exiluniversität in Vilnius Geschichte und Politikwissenschaft unterrichtet, sieht sein Leben als Schriftsteller in einem „nicht existierenden Land“ tragisch. Sein Roman „Paranoia“ wurde kurz nach Erscheinen im Dezember 2009 in Weißrussland verboten. Seit 2008 lebt er in Vilnius, aber seine Welt passt gerade in einen Rucksack. Es gäbe verschiedene Programme für Schriftsteller in Europa, aber man sei von Mauern umgeben, man schotte sich von Osteuropa ab. Etwas sei schief gelaufen in der Welt in den letzten zwanzig Jahren, sagt Martinovich und das mache ihn sehr traurig.

Das Zuhause von Martinovich ist Belarus, nur hat er dort keinen Job. Wenn man aus Belarus komme, könne man in Vilnius kein Leben eines echten Intellektuellen führen. Sein trauriges Fazit: Man ist Außenseiter in beiden Ländern.

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Matthias Lilienthal_Kata Kraznahorkai_Nikita Kadan und Moderatorin Jenny Friedrich-Freksa

Foto: eat archiv

Abschlusspodium mit Matthias Lilienthal, Kata Kraznahorkai,
Nikita Kadan und Moderatorin Jenny Friedrich-Freksa

DIE KUNST DES WIDERSTANDS/ GESPRÄCH MIT MATTHIAS LILIENTHAL, NIKITAH KADAN UND KATA KRASZNAHORKAI

Die Kunsthistorikerin Kata Krasznahorkai hat Akten der Geheimdienstarchive aus Ungarn, Rumänien und der DDR studiert. Sie hat unter anderem festgestellt, dass die Stasi an der Theorie der Performance-Kunst interessiert war, weil sie diese Kunst nicht einordnen konnte. Was ist, wenn jemand auf der Straße steht? Ist es ein Happening oder steht der Kerl einfach so herum? Man hat Agenten eingeschleust, die sogenannten „Kunsthistoriker in Zivil“.

Für die gegenwärtige Situation in Ungarn zeichnet Kata Krasznahorkai ein düsteres Bild. Lange Zeit habe sich Viktor Orbán nicht für Kultur interessiert. Das Collegium Hungaricum, das ungarische Kulturinstitut, wurde zwar vom Kultusministerium finanziert, genoss aber lange Zeit programmatische Autonomie. Die Struktur hat sich schleichend geändert. Und als Orbán seine Leidenschaft für Kultur entdeckt hat, ging es erst richtig los. In der Presse wurden schwarze Listen publiziert, es gab öffentliche Diffamierung. Die Desinformationskampagnen von Orbán sollen Angst erzeugen. Solange die Archive nicht geöffnet sind, gibt es keine Demokratie.

Geschichten über Zensur und Aggression

Der ukrainische Kunstmaler und Bildhauer Nikita Kadan aus Kiew gab einige Beispiele für Attacken gegen Galeristen und Künstler in der Ukraine. 2009 wurde die Ya-Gallerie in Kiew, nachdem dort eine öffentliche Diskussion über Homosexualität und Toleranz mitsamt einer Buchbesprechung stattgefunden hatte, niedergebrannt. Obwohl viele Kommentatoren die Täter in der rechtsextremen Szene vermutet hatten, wurden diese bis heute nicht überführt. 2012 wurde am Vortag der Eröffnung einer Kunstausstellung im Kiewer Kunstarsenal das Wandbild „Das letzte Gericht“ von Wolodymyr Kusnetzow schwarz übermalt – ein Fall der Selbstzensur der Organisatoren. Und 2017 wurde das „Zentrum für visuelle Kultur“ in Kiew von Rechtsradikalen angegriffen und demoliert.

Laut Kadan, sind die Fälle der (versuchten) Zensur in der Ukraine nicht vergleichbar mit der Situation in anderen postsowjetischen Ländern wie Belarus oder Russland. Die Angriffe sind dezentralisiert, die rechtsradikalen Gruppen sind autonom. Die Selbstorganisation der Künstler ist stark, aber die Institutionen in der Ukraine sind schwach.

Der Widerstand der Künstler

Der Intendant der Münchner Kammerspiele Matthias Lilienthal hat immer wieder zu Demonstrationen aufgerufen, um gegen die CSU-Politik gegenüber Flüchtlinge in Bayern zu protestieren. Dabei ist München eine ziemlich liberale Stadt mit einer starken SPD und den Grünen. Im Osten der Bundesrepublik, wo die AfD stark ist, nimmt der Druck auf Theater zu. Die Intendantenposten werden konservativer besetzt. Es gibt eine Veränderung in der Gesellschaft, die wir noch nicht abschätzen können, aber die Bruchlinien werden größer, die Veränderungen sind rasant. Die Troll-Fabriken und die von ihnen produzierten Fake-News verfolgen das Ziel, den Gegner mit der Abwehr der Angriffe voll zu beschäftigen. Man muss lernen, asymmetrisch und nicht vorhersehbar zu handeln.  Die Künste spielen dabei eine wichtige Rolle.

DER POESIE DAS LETZTE WORT…

Mit thematisch passenden Texten der beiden Slam-Poeten Philipp Potthast und Mate Tabula endete  die Tagung mit einer Bestärkung für die verbindende Kraft, die den Künsten innewohnt.

Aufmacherbild: Der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow am Tag seiner Freilassung am 7. September 2019. Am selben Tag wurde in der Evangelischen Akademie Tutzing die deutsche Übersetzung seiner Novellen vorgestellt. (Foto: eat archiv)

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