“Durch Sprache und respektvollen Umgang ließe sich vieles verändern”

Können junge Menschen mit dem Begriff Werte heute noch etwas anfangen und wenn ja, was? Darüber haben wir mit Annabel Baumgardt, zweite Vorsitzende der Evangelischen Jugend in Bayern gesprochen. Sie wird bei der Werte-Tagung Ende November in der Evangelischen Akademie Tutzing mit auf dem Podium sitzen und debattieren.

 

Evangelische Akademie Tutzing: Werte – ist das ein Begriff, der Jugendliche heute noch erreicht?

Annabel Baumgardt: Ich glaube, der Begriff Werte wirkt auf viele Jugendliche zunächst etwas abstrakt oder altmodisch. Er klingt schnell nach etwas, das Erwachsene festlegen und Jugendliche dann “übernehmen” sollen. Aber wenn wir genauer hinschauen, leben junge Menschen sehr wohl nach bestimmten Werten – sie nennen sie vielleicht nur anders. Themen wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Diversität oder Solidarität sind für viele selbstverständlich wichtig. Das sind im Kern Werte, auch wenn sie nicht immer so benannt werden.

Beim 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg haben wir in der “Glaubenstankstelle” der Evangelischen Jugend in Bayern im Zentrum Jugend junge Menschen gefragt, welche unserer zehn Werte ihnen besonders wichtig sind. Jede Person durfte drei Flummibälle in Gläser werfen, die jeweils einem Wert zugeordnet waren. Insgesamt haben 864 Teilnehmende für Gemeinschaft, 829 für Respekt und 780 für Gerechtigkeit gestimmt.

Das zeigt sehr deutlich: Werte sind auch heute noch ein Begriff, der junge Menschen erreicht. Wenn sie mit konkreten Erfahrungen, Begegnungen und Emotionen verbunden sind, werden sie lebendig und relevant – nicht als moralischer Zeigefinger, sondern als Ausdruck dessen, was uns im Zusammenleben  wichtig ist.

Um welche Werte machen Sie sich Sorgen?

Wenn ich in den letzten Monaten in die Nachrichten schaue, bin ich oft schockiert über den Umgangston, den ich dort wahrnehme – sowohl in der Politik als auch in gesellschaftlichen Debatten allgemein. Es scheint manchmal, als würde sich jede und jeder nur noch um sich selbst drehen. Hauptsache: “mir geht es gut”.

Können Sie das näher erläutern?

Der Diskurs wird immer häufiger auf einer persönlichen Ebene geführt – es geht weniger um die Sache als darum, sich selbst zu profilieren oder anderen “eins reinzuwürgen”. Für ein gelingendes Zusammenleben, Diskussionen, für echtes Ringen um Positionen, braucht es meiner Meinung nach grundlegende Werte wie Nächstenliebe, Respekt und die Bereitschaft, einander zuzuhören. Diese Werte geraten meiner Beobachtung nach zunehmend in den Hintergrund, und das macht mir Sorgen. Vielleicht ist das eine idealistische oder sogar etwas naive Sicht, aber ich bin davon überzeugt, dass sich durch Sprache und den respektvollen Umgang miteinander vieles verändern ließe. Gerade Politiker:innen haben hier eine große Vorbildfunktion – wie sie sprechen, prägt den Ton, den wir als Gesellschaft untereinander pflegen.

Welche Werte sind der Evangelischen Jugend besonders wichtig?

Als Evangelische Jugend in Bayern orientiert sich unser Handeln, unsere Haltung und unsere Positionierungen ganz grundlegend an christlichen Werten. Unser Landesjugendkonvent – die Vollversammlung aller Ehrenamtlichen in Bayern – hat diese Werte konkretisiert und zehn Leitwerte formuliert, die uns im Miteinander, aber auch in unserem Auftreten nach außen, einen Rahmen geben: Nächstenliebe, Gemeinschaft, Engagement, Nachhaltigkeit, Spiritualität, Verantwortung, Gerechtigkeit, Offenheit, Solidarität, Respekt. Diese Werte prägen nicht nur den Umgang miteinander, sondern sind auch Grundlage, wenn wir uns gesellschaftlich oder politisch positionieren.

Was würden Sie sich von Kirche und Politik wünschen?

Von Kirche wünsche ich mir, dass sie ein Ort der Verständigung bleibt – ein Raum, in dem Menschen fair und gerecht miteinander diskutieren können. Sie sollte die Vielfalt unserer Gesellschaft sichtbar machen und leben: ein Ort, an dem miteinander gerungen, aber auch wieder Versöhnung möglich wird. Kirche kann genau dort stark sein, wo sie offen für alle ist und Räume für Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht.

Von der Politik wünsche ich mir mehr Selbstreflexion und Fairness – insbesondere im Umgang miteinander. Worte haben Gewicht, und der Ton, in dem politische Debatten geführt werden, prägt unser gesellschaftliches Miteinander. Ich wünsche mir Politiker:innen, die mit gutem Beispiel vorangehen, respektvoll streiten und zeigen, dass man auch bei unterschiedlichen Meinungen gemeinsam Verantwortung übernehmen kann. Dabei gehört für mich auch dazu, klar Grenzen zu setzen, wo es nötig ist – und dabei fair zu bleiben.

Sie nehmen im November bei der Tagung “Werte – Klebstoff der Gesellschaft” am Panel “Demokratische Werte in der Gesellschaft verankern!” teil. Worauf sind Sie neugierig?

Ich freue mich sehr auf den Austausch mit den anderen Podiumsgästen und bin gespannt, welche unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema “Werte” zusammenkommen – politisch, gesellschaftlich und vielleicht auch persönlich. Besonders interessiert mich, wie wir es schaffen können, demokratische Werte nicht nur zu benennen, sondern sie wirklich im Alltag zu leben – in Sprache, Haltung und konkretem Handeln. Und wie wir Vorbild für andere sein können.

Ich bin neugierig darauf zu hören, wie Politik und Gesellschaft gemeinsam Verantwortung übernehmen können, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Und natürlich möchte ich auch die Stimme junger Menschen einbringen – ihre Sicht auf Demokratie, Teilhabe und den respektvollen Umgang miteinander. Denn gerade sie gestalten die Gesellschaft nicht nur morgen, sondern auch heute schon mit.

Das Interview führten Dr. Nadja Bürgle und Dorothea Grass

Über unseren Interviewgast:
Annabel Baumgardt ist seit Juni 2023 zweite Vorsitzende der Evangelischen Jugend in Bayern. Sie ist Sozialpädagogin, studiert Erziehungswissenschaft im Master und absolviert momentan ein Praktikum im Team der Studienleitung der Evangelischen Akademie Tutzing.

HINWEIS:

Die Tagung “Werte – Klebstoff der Gesellschaft?” findet vom 28. – 30. November 2025 statt. Das Publikum erwarten Vorträge, Workshops und Diskussionsrunden. Alle Informationen finden Sie hier.

Besonderheit: Auf einem “Markt der Möglichkeiten” werden sich am Sonntag, 30. November, mehrere zivilgesellschaftliche Bündnisse vorstellen. Dazu kann jeder und jede ohne Voranmeldung vorbeikommen und sich darüber informieren, wie man sich engagieren kann.

Bild: Annabel Baumgardt (Foto: privat)

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