Die Sache mit der Sprezzatura

Im Tutzinger Salon ging es am Montagabend um „Die schöne Kunst der Höflichkeit“. Zu Gast an der Akademie waren Sandra Richter, Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Enrico Brissa, Protokollchef des Deutschen Bundestags.

Wenn es um den Umgang der Menschen miteinander geht, Höflichkeit und Anstand, fallen vielen als erstes Szenen ein, an denen eine Menge Leute aufeinandertreffen, auf möglichst engem Raum und in wenig entspannter Atmosphäre.  Zum Beispiel beim Bahnfahren. Der Kampf um die Armlehne, die Verteidigung des Fußraums, die „Ich-war-aber-als-erstes-hier“-Mentalität, die Verdrängung des Gepäcks der Mitreisenden durch das eigene, Diskussionen um Sitzplatzreservierungen, Nicht-Diskussionen um plötzlich verstellte Rückenlehnen während die Nachbarin hinten ihren heißen Kaffee auf der Ablage stehen hat (bzw. hatte). All das kennt jede und jeder.

Akademiedirektor Udo Hahn, der den Abend moderierte, wollte wissen: „Um was geht es eigentlich genau, wenn wir von Höflichkeit sprechen?“ Enrico Brissa, der seit 2016 das Protokoll des Bundestags leitet, hat dazu ein Buch geschrieben: „Auf dem Parkett. Kleines Handbuch des weltläufigen Benehmens“. Darin hat er 150 Begriffe erfasst und erläutert, von „Abendland“ bis „Zurückhaltung“. Für Brissa geht es im Grunde bei der Höflichkeit um eines: Rücksicht auf den anderen aus der Erkenntnis, dass der Mensch nicht allein ist auf der Welt. Jede Gesellschaft habe ihre soziale Norm, die das Miteinander unter den Menschen regele. Doch gebe es nicht nur ein Nebeneinander von vielerlei Normen, sondern auch erfahrungsgemäß keine rechtlichen Konsequenzen bei unhöflichem Verhalten. Konsequenzen in sozialer Hinsicht gebe es in Form von Ausschluss. Dennoch sei heute die Bereitschaft geringer, jemanden auf unhöfliches Verhalten hinzuweisen.

Für Sandra Richter, Germanistin und seit 2019 Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, bedeuten die sozialen Normen auch Sicherheit. Der Wandel in den Lebenswelten, die vielfache Diversität in Lebensentwürfen müsse von der Bevölkerung erst verarbeitet werden. Benehmen sei eine Form des Umgangs miteinander, zusätzlich aber auch die Basis für Kommunikation und Intimität. Denn wie soll klar sein, was intim ist, wenn nicht klar ist, was in der Öffentlichkeit tabu ist?

Der Zusammenhang von Identität und Solidarität

Für Brissa liegt ein Grund der „fehlenden Verhaltenssicherheit“ in den schmelzenden sozialen Feedbackräumen. Wo es keine Vereine gebe, wo Menschen nicht mehr in Zivil- oder Wehrdienst bunt gewürfelt aufeinanderträfen, gebe es auch keine „Ansagen“ mehr. Soziale Kontrolle bei schlechtem Benehmen sei durch digitale Kommunikation nicht ersetzbar, es fehle der analoge Kontakt „face-to-face“.

Ein weiterer Punkt sei die Identifikation mit der Gemeinschaft. Nur, wer sich zu einer Gemeinschaft zugehörig fühle, akzeptiere auch deren Regeln und verhalte sich solidarisch, so Brissa. Für Sandra Richter ist eine „Krise der Repräsentanz“ eine der Ursachen für fehlende Identifikation. Es fehle ein Raum, in denen sich alle Menschen gehört fühlen und die Sicherheit haben, „mitreden zu dürfen“.

Ein wichtiges Werkzeug im Umgang mit Menschen sei Optimismus, so Richter. In ihrem Buch „Lob des Optimismus: Geschichte einer Lebenskunst“ kommt sie auf den philosophischen Optimismus zurück, wie in Leibniz herleitete. Der Mensch lebe in der besten aller Welten („optimus mundus“) – eine stoische Auffassung, nach der der Mensch die Welt annehmen sollte, wie sie ist. Rechtfertigen ließe sich der Optimismus durch Humor, der auch durchaus eine politische Komponente habe. Wer die Welt mit Optimismus sehe, präge dadurch auch seine Umgebung.

Für Brissa ist es der Begriff der „Sprezzatura“, wie ihn der Schriftsteller Baldassare Castiglione zu Zeiten der Renaissance geprägt hat, von dem höflicher Umgang bestimmt sein sollte. In Castigliones Buch „Libro del Cortegiano“ (deutsch: „Das Buch vom Höfling“) beschreibt er Sprezzatura als wesentliche Eigenschaft eines perfekten Höflings und empfiehlt stets „eine gewisse Art von Lässigkeit anzuwenden, die die Kunst verbirgt und bezeigt, dass das was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande gekommen ist“.

Nicht aufgesetzt, mühelos und authentisch – das stünde auch für die Werte, die sich hinter der Höflichkeit verbergen: Respekt, Rücksicht, Anstand und Haltung.

Dorothea Grass

Bild: Prof. Dr. Sandra Richter (Mitte) und Dr. Enrico Brissa (rechts im Bild) mit Akademiedirektor Udo Hahn in den Salons von Schloss Tutzing. (Foto: eat archiv)

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