Bonhoeffers berühmtester Text

„Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – heute vor 75 Jahren entstand Dietrich Bonhoeffers berühmtester Text. Er schrieb ihn am 19. Dezember 1944 in Gestapo-Haft in einem Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer, ganz am Schluss, als Gebet. Die Worte sollten zu seinem Vermächtnis werden.

Es ist das letzte erhaltene Dokument von Dietrich Bonhoeffer, dem wohl bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Und es ist zugleich sein bekanntestes und populärstes: Das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – sein geistliches Vermächtnis, von mehr als siebzig Komponisten vertont. Der Schluss des Briefes an seine Verlobte Maria von Wedemeyer vom 19. Dezember 1944 ist ein Gebet, das schon vielen Menschen Trost spendete inmitten der Ungewissheiten des Lebens.

Bonhoeffer wurde nur 39 Jahre alt. Siebzehn Bände umfasst sein Gesamtwerk. Wer sich mit ihm befasst, begegnet einem vielseitigen Wissenschaftler, Prediger, Seelsorger, Dichter. Er wird am 4. Februar 1906 in Breslau als sechstes von acht Kindern geboren. Sein Vater ist der Arzt und Neurologe Prof. Dr. Karl Bonhoeffer, seine Mutter Paula von Hase. Mit 17 Jahren macht er das Abitur und studiert in Tübingen, Rom und Berlin Theologie. Vier Jahre später wird er promoviert. 1928 absolviert er das Erste Theologische Examen und wird Vikar in der deutschen Gemeinde in Barcelona. 1930 legt er das Zweite Theologische Examen ab und habilitiert sich in Berlin im Fach Systematische Theologie. Da er zur Ordination noch zu jung ist, geht er für ein Studienjahr nach New York. 1931 kehrt er nach Berlin zurück und wird vom Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen zum Jugendsekretär für Europa gewählt.

Ab 1940: Rede- und Schreibverbot

Zwei Jahre später übernimmt er ein Auslandspfarramt in London. 1935 wird er Studiendirektor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche erst auf dem Zingsthof, dann in Finkenwalde, das nach der Schließung durch die Polizei 1937 jedoch bis 1940 illegal weiter besteht. 1939 reist Bonhoeffer nach London und in die USA – und kehrt im Juli wieder nach Deutschland zurück.

Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis für Hochschulen im Jahre 1936 erhält er 1940 Rede- und Schreibverbot. Über seinen Schwager Hans von Dohnanyi schließt er sich dem politisch-militärischen Widerstand um Admiral Wilhelm Canaris an, der ihn im Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht beschäftigt. Als Vertrauensmann knüpft Bonhoeffer mit Hilfe seiner ökumenischen Kontakte Verbindungen zwischen den westlichen Regierungen und dem deutschen Widerstand.

Am 7. Januar 1943 verlobt er sich mit Maria von Wedemeyer, am 5. April wird er unter der Beschuldigung der Wehrkraftzersetzung verhaftet. Erst nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 gelingt es der Gestapo, Bonhoeffer eine Widerstandstätigkeit nachzuweisen. Am Abend des 3. April 1945 wird er zusammen mit anderen Häftlingen verlegt. Kurz darauf gibt Hitler den Vernichtungsbeschluss für die Beteiligten des 20. Juli. Am 8. April wird Bonhoeffer ins KZ Flossenbürg verlegt und noch in der Nacht werden die Gefangenen von einem Standgericht verurteilt. Gemeinsam mit Canaris, Hans Oster und Karl Sack wird Dietrich Bonhoeffer in den frühen Morgenstunden des 9. April 1945 durch den Strang hingerichtet.

Wäre er nicht ermordet worden, was hätte er für eine Karriere machen können: Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)? Bundespräsident? Generalsekretär der Vereinten Nationen? Das alles bleibt Spekulation. Bonhoeffer wird von Konservativen und Progressiven gleichermaßen geschätzt. Das Lied von den guten Mächten findet sich nicht nur im Evangelischen Gesangbuch, sondern auch im katholischen Gotteslob. Am 6. August 1996 hebt das Landgericht Berlin das Todesurteil auf und rehabilitiert den Theologen, der als ökumenischer Märtyrer verehrt wird. Weltweit sind nicht nur Kirchen, sondern auch Schulen, Krankenhäuser, Straßen und Plätze nach ihm benannt.

Fromm und politisch zugleich

Seine Gedanken und theologischen Fragen sind ungebrochen aktuell. Mehr noch: Es scheint, als habe er – wie kaum ein anderer – eine Geistesgegenwart entwickelt, die den Puls des Zeitgeschehens spürte. Und Antworten zu formulieren vermocht, die Menschen auch heute ansprechen. Und in alledem ist er fromm und politisch zugleich. Einige Kostproben: „Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.“ „Nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen erfüllt Gott.“ Oder: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ Ein Satz, den Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorsitzender des Rates der EKD, wiederholt zitiert. Und damit auch zu erkennen gibt, in welcher Tradition er seine Kirche sieht. O-Ton Bonhoeffer: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Oder: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Und wenn es sein muss, auch zum Äußersten bereit, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“.

„Von guten Mächten“ gehört zu einem Zyklus von zehn Gedichten bzw. gedichtähnlichen Meditationen, die allesamt im Gefängnis entstanden sind. Und zwar zwischen Juni und Dezember 1944. Freund und Kollege Eberhard Bethge, Herausgeber der Werke Bonhoeffers, ist sicher, dass dieser früher keine Gedichte geschrieben hat. Er ist Seelsorger und Prediger – Wissenschaftler, der sein theologisches Denken im universitären und gesellschaftlichen Diskurs behaupten muss. Die Dichtkunst zielt ja nicht auf den Diskurs, auf den Austausch von Argumenten, gar auf den Streit um der Sache willen. Die Poesie verdichtet Worte zu Gedanken in einer neuen Sprache. Die Konzentration des Textvolumens führt bei Bonhoeffer auch zu einem sparsamen Gebrauch von (theologischen) Begriffen – oder sogar zum Verzicht. „Gott“ kommt in den sieben Strophen einmal vor, „Glaube“ als Begriff sucht man vergeblich in seinem bekanntesten Gedicht.

Bonhoeffers Lied leiht Menschen Worte für das, was sie in ihrem Innersten erhoffen

Wieso es zu dieser Entwicklung bei ihm kam, darüber gibt es keine Hinweise. Weder von Bonhoeffer selbst noch aus der Erforschung seines Werkes. In jedem Fall ist es ein neuer Versuch, von Gott zu sprechen. Es trifft – für seine Zeit – eine ungewöhnliche Wortwahl. Seine Übersetzungsbemühungen, verständlich vom Glauben zu reden, geben ihm nachträglich recht. Und sind der Maßstab, an dem sich Theologinnen und Theologen heute messen lassen müssen. Ob jemand an Gott glaubt oder nicht, Bonhoeffers Lied leiht Menschen Worte für das, was sie in ihrem Innersten erhoffen: Kraft und Trost und Zuversicht zu finden inmitten der Irrungen und Wirrungen des eigenen Lebens, aber auch in den gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Bonhoeffer schreibt diese Verse im Kerker. Am 8. Oktober 1944 wurde er in das Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in die Berliner Prinz-Albrecht-Straße verlegt. Das heute als „Topographie des Terrors” bekannte Gelände war der zentrale Ort, an dem die meisten Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes geplant und gesteuert wurden.

Die „guten Mächte“ sind die Klammer, die das Lied zusammenhalten und den Bogen von der ersten bis zur siebten Strophe spannen: „treu und still umgeben“ sie ihn – so, als wären sie ganz selbstverständlich da. Ein Wort kommt – wie die guten Mächte – zweimal in dem Lied vor, in der ersten und in der letzten Strophe: „wunderbar“. Nichts könnte seine Gefühlswelt treffender beschreiben, als dass er sich behütet, getröstet, geborgen fühlt. Kein Jammern, kein Hadern, kein Klagen. Obwohl er bösen Mächten wehrlos ausgesetzt ist. Und diese haben Namen: Adolf Hitler, Nationalsozialismus, Diktatur.

Und dann der grandiose Schluss: „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Das ist wörtlich zu nehmen – auf den heutigen Tag und Abend bezogen und auf alle Tage und Nächte, die kommen. Gott ist da – das ist die Quintessenz der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Auf einen Nenner gebracht, lässt sich mehr und anderes nicht sagen.

Der Autor: Udo Hahn, Pfarrer und Publizist, seit 2011 Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, Autor und Herausgeber religiöser Sachbücher und spiritueller Texte. Im Verlag Butzon & Bercker (Kevelaer) ist von ihm im Frühjahr der Band „Dietrich Bonhoeffer – Von guten Mächten wunderbar geborgen“ (124 Seiten, 9,95 Euro) erschienen, der aktuell in 2. Auflage vorliegt.

Hinweis: Der Beitrag wurde am 18. Dezember 2019 unter dem Titel „Das Vermächtnis der Unbeugsamen“ im Münchner Merkur veröffentlicht.

Bild: Dietrich Bonhoeffer im August 1935 (Foto: Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft (ibg), Deutschsprachige Sektion, e.V.)

Zum Weiterlesen:
Udo Hahn hat unter dem Titel „Dietrich Bonhoeffer – Von guten Mächten wunderbar geborgen“ den gleichnamigen Text in einer überarbeiteten und deutlich erweiterten Neuausgabe von 2019 interpretiert. Weitere Informationen

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