“Meine Botschaft kann keine optimistische sein”

Am 10. Dezember wird die Germanistin, Kulturwissenschaftlerin, Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vor wenigen Wochen erst sprach sie in der Evangelischen Akademie Tutzing über Erinnerungskultur. Das Porträt einer couragierten Persönlichkeit zeichnen Udo Hahn und Dorothea Grass.

zum Videomitschnitt der Rede von Irina Scherbakowa in Tutzing

Ihr erster Aufenthalt in Deutschland im Jahre 1989 führte sie direkt in die Evangelische Akademie Tutzing. 33 Jahre später kehrte sie zurück, um anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Akademie am 23. September 2022 zum Thema “Erinnern für die Zukunft” zu sprechen: die Germanistin, Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Irina Scherbakowa (73).

Nach Tutzing kommt Scherbakowa mit einer gewichtigen Auszeichnung im Gepäck: Anfang Mai war sie als Gründungsmitglied des Vorstands von Memorial International, der größten und ältesten unabhängigen Menschenrechtsorganisation Russlands mit dem Theodor Heuss Preis ausgezeichnet worden. Wenige Tage nach ihrem Aufenthalt am Starnberger See gibt das Nobelpreiskomitee bekannt, dass Memorial International zusammen mit zwei anderen Organisationen am 10. Dezember mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird. Und gerade erst hat Irina Scherbakowa den Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung aus den Händen von Bundeskanzler Olaf Scholz entgegengenommen.

Kollektive Erinnerungen: fundamental für die Identität einer Nation

Kein Zweifel: Alle Preise würdigen verdientermaßen das Engagement der Bürgerrechtlerin und ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter. 1987 entstand eine erste Vorläufergruppe, 1992 wurde Memorial International offiziell gegründet. Einer der Organisatoren und erster Ehrenvorsitzender der Gesellschaft war der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Am 28. Dezember 2021 wurde die Organisation durch einen Gerichtsbeschluss liquidiert.

In Tutzing sprach Scherbakowa im September über ihr Lebensthema: die Bedeutung der Erinnerungskultur für die Entwicklung eines Landes – konkret für Russland. Was sie sagte, stand ganz unter dem Eindruck der zeitgeschichtlichen Aktualität, dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der Rolle, die die Geschichtsschreibung, Geschichtsaufarbeitung und -deutung von offizieller Seite dabei spielt. Die Erzählweisen von Geschichte, das, was man kollektive Erinnerungen nennt, seien fundamental für die Identität einer Nation und daraus folgende politische Entscheidungen.

Irina Scherbakowa ist zurzeit sehr gefragt, wenn es um eine Interpretation der Politik Wladimir Putins geht. Was sie in der Akademie ausführte, machte wenig Hoffnung. “Meine Botschaft kann keine optimistische sein.”, begann sie ihre Rede. Am Ende ließ sie einen kleinen Hoffnungsschimmer erkennen, der sich vor allem auf die jüngere Generation richtet. Die geschichtliche Aufarbeitung durch Memorial, die Abertausende von Dokumenten über die Geschichte des Terrors in der Sowjetunion – all das soll Kraft geben, die Verbrechen zu entlarven, die aktuell geschehen.

Die Kraft der Schwachen: Hartnäckigkeit

Dass Machthaber wie Putin vor Menschen wie Scherbakowa Angst haben, hängt mit ihrer Hartnäckigkeit zusammen. “Wir können den Machthabern nur die Kraft der Schwachen entgegensetzen. Aber wir müssen den Giftnebel, der die historische Wahrheit verdecken soll, auflösen.” In den großen geschichtlichen Zusammenhängen bedeutet dies: Autokraten und Diktatoren werden die Verlierer sein.

Scherbakowa berichtete von ihren Anfängen als Historikerin für “Memorial”, die in die Zeit der Perestroika von Michail Gorbatschow fällt. Ihn beschrieb sie in erster Linie “als Mensch – ein Mensch, der Veränderungen wollte”. Die Perestroika sei ein Glücksfall für Russland gewesen. Etwa drei bis vier Jahre lang habe sie die geschichtliche Aufarbeitung der Staatspartei KPdSU betrieben, dann sei der Umbruch der 1990er Jahre gekommen – und damit alles anders. In der Zeit der Reformen sei ihr die Aufklärungsarbeit entglitten. Der Grund: Niemand habe mehr über die Sowjetzeiten reden wollen, sie sei auf taube Ohren gestoßen, keiner wollte mehr aufarbeiten. Das Land sei von einem “sehr brutalen Kapitalismus” Anfang der 1990er Jahre überrollt worden. Viele Menschen landeten hart auf dem Boden der Realität. Es entstand nunmehr eine Nostalgie nach früheren Sowjetzeiten. In dieser Zeit war “die Gesellschaft reif für eine Figur wie Putin”. Ein Politiker, der aus dem Apparat der Staatssicherheit kam, mit dem Täuschen vertraut. Die Entwicklung der folgenden Jahre bis zum heutigen Tag, habe sie und ihre Gefährt:innen “nicht geschockt”. Vielmehr sei diese Entwicklung absehbar gewesen.

Putins Geschichtspolitik: ein “populistisches Mosaik ohne Ideologie” 

In Tutzing analysierte Scherbakowa die Phasen der Regierungszeit Putins. Seine Geschichtspolitik sei ein wichtiges Instrument seiner Politik, das sie als “populistisches Mosaik ohne Ideologie” skizziert. Dieses Mosaik sei “schillernd wie ein Kaleidoskop”: es glorifiziere der Zarenzeit, instrumentalisiere Denkmäler und verbinde darin nationalistische Elemente. In diesem Geschichtsbild werde alles “wie in einen Eimer geworfen”: Zar Peter der Große, Iwan der Schreckliche, Stalin, der zwar Verbrechen beging, aber so Putin “ja den großen vaterländischen Krieg gewann” – was, so Scherbakowa “natürlich ein Mythos ist”.

“In Wirklichkeit besteht diese Geschichtspolitik aus vielen giftigen Mythen”, sagte die Bürgerrechtlerin. Feindesbilder spielten dabei eine wichtige Rolle. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg und den Desinformationsstrategien russischer Propaganda um diesen herum erklärte sie: “Dieser Krieg wurde in den Köpfen der Menschen begonnen, mit dieser verdammten Geschichtspolitik.”

“Mein Land ist Russland”

Scherbakowa erzählt auch von der Zerschlagung ihrer Organisation. Einige ihrer Kollegen sind nun im Gefängnis, nicht alle wollten oder konnten das Land verlassen wie sie selbst es getan hat. Das Tragischste für sie sei die Ohnmacht. Sie ist davon überzeugt: “Putin wird auf alles setzen”, der russische Präsident werde seine Macht nicht “einfach so” abgeben. Russland werde eines Tages erwachen, “aber der Preis dieses Erwachens wird ein fürchterlicher sein.”

“Mein Land ist Russland”, sagte Scherbakowa und meint damit ihre eigene kulturelle Zugehörigkeit, nicht die Politik Wladimir Putins. Sie forderte vielmehr Solidarität mit der Ukraine. In der anschließenden Diskussion sagte sie, sie träume von einer Wende. Und davon, “dass Russland mit dieser Wende beginnt”. In einem Vortrag in Leipzig sagte die Regimekritikerin, sie hoffe sehr, dass Russland irgendwann “aus dieser moralischen, politischen Katastrophe” einen Weg finde in Demokratie und Freiheit. “Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich erlebe.” Mehr als 30 Jahre führte Memorial einen Kampf wie David gegen Goliath: “Wir haben sehr früh erkannt, wie gefährlich das ist, wenn man Patriotismus zur Staatsdoktrin erklärt und dazu Nationalismus, Fremdenhass, anti-westliche Stimmungen und Mythen hineinmischt.” Einerseits habe die repressive Politik in Russland sich immer weiter verschärft, andererseits habe die Zustimmung und Unterstützung in der russischen Bevölkerung für Memorial trotz allem zugenommen: “Die Sicht auf den Staat und das Regime ist deutlich realistischer geworden.”

Mit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine verließ Scherbakowa Russland und lebt nun im thüringischen Weimar. An der Universität Jena arbeitet sie als Gastprofessorin.

In Tutzing sagte Irina Scherbakowa: “Ich glaube, dass das, was wir gemacht haben, vielleicht mal nützlich sein wird. Übrigens für uns alle.” Nicht nur ihre Worte und ihre Arbeit für Memorial, auch sie selbst ist eine Ermutigung. Für uns alle.

Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Dorothea Grass, Studienleiterin, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Bild: Irina Scherbakowa am 23. September 2022 während der Jubiläumstagung der Evangelischen Akademie Tutzing mit dem Titel “Imagine – Impulse fuer eine bessere Welt” (Foto: Haist/ eat archiv)

Irina Scherbakowa mit Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Haist/eat archiv)

Tags: , , , , , , , ,