„Familie ist heute der Ort, wo am allermeisten schief gehen kann“

Wir haben im Rotunde Talk mit Heiner Keupp gesprochen, Sozialpsychologe und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Gespräch hat noch vor der Aufdeckung der grauenhaften Ereignisse in Münster stattgefunden. Tatsächlich sind Familien der häufigste Ort sexueller Gewalttaten gegen Kinder.

Hier geht’s zum Video-Interview

Die Kommission ist indes besonders daran interessiert, dass auch Institutionen sich ihrer Verantwortung stellen, und hat hier gemeinsam mit Johannes-Wilhelm Rörig, dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, schon viel erreicht. Gleich ob Täter aus Familie oder Bekanntenkreis, aus Schulen, Heimen, Internaten, Kirchen und Vereinen – die Taten sind häufig verjährt. Dennoch ist es für Betroffene und deren Möglichkeiten, das Geschehene zu verarbeiten, essenziell, mit Fachleuten zu sprechen, alles erzählen zu können, an wissenschaftlicher Aufklärung teilzunehmen und gegebenenfalls auch Beratung hinsichtlich materieller und juristischer Unterstützung zu bekommen.

Lange zurück liegen auch die gerade wieder diskutierten Misshandlungen im katholischen Piusheim, unweit von München. Prof. Dr. Heiner Keupp erinnert daran, dass sich schon Ende der 1960er Jahre die Studentenbewegung, darunter auch Ulrike Meinhof, mit den Bewohnern des Piusheims solidarisierte und von dort Geflohene in ihren Wohngemeinschaften versteckte. Nach dem damaligen ersten Heimskandal habe sich – beginnend in den 1970er Jahren – die katholische Jugendfürsorge quasi „neu erfunden“, so dass auch das heutige Piusheim „ein anderes“ sei.

Bei den Opfern der Heimerziehung habe allerdings „die Zerstörung“ ihrer Biografien vielfach bis heute wirkende Schäden verursacht: psychische und körperliche Leiden, fehlende Ausbildung und damit zusammenhängend unbefriedigende berufliche Karrieren, Geldsorgen, mangelnde Beziehungsfähigkeit und vieles mehr. Keupp erinnerte auch daran, dass aufgrund ihrer Erfahrungen viele dieser Menschen „auf keinen Fall in ein Altersheim“ ziehen könnten.

Was generell die Aufarbeitung durch die katholische Kirche angeht, so habe die Deutsche Bischofskonferenz nach nicht vollständig geglückten Anläufen jetzt zugesagt, dezentral in jedem Bistum für schonungslose Aufklärung zu sorgen. Kommissionen, in denen die Kirche unterhälftig vertreten sein werde, sollten dafür sorgen, dass die Fakten „ohne Rücksicht auf Namen und Würdenträger“ auf den Tisch kämen.

Engagement zeige auch die evangelische Kirche: Die EKD finanziere den Aufbau eines ganzen „Konsortiums“ der Aufarbeitung mit erheblichen Mitteln. „Wir brauchen aber darüber hinaus unabhängige Kommissionen, die nicht allein aus Vertretern von Kirche und Diakonie bestehen, denn an die werden sich viele Betroffene nicht wenden.“

Während kirchliche und andere Institutionen heute allerdings ihre Präventions- und Aufklärungsarbeit gut vorangebracht haben, ist Heiner Keupp zufolge „Familie heute der Ort, wo am allermeisten schief gehen kann“. Die Coronakrise sei leider ein Katalysator, denn wenn Familien gezwungen sind, „Tag und Nacht unter einem Dach zu bleiben und keine Ausweichmöglichkeiten mehr vorhanden sind“, dann könnten Gewalt und sexuelle Übergriffe noch zunehmen. Genaueres werde man erst im Nachhinein wissen, aber schon jetzt häuften sich die Indizien etwa bei den Notfalltelefonen. In diesem Zusammenhang äußerte Keupp auch die Hoffnung, dass die „Systemrelevanz“ der Beratungsstellen für hilfesuchende Gewaltopfer erkannt werde.

Dr. Ulrike Haerendel

Das vollständige Interview auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing können Sie unter diesem Link ansehen.

Bild: Prof. Dr. Heiner Keupp in der Rotunde der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: dgr/eat archiv)

Dr. Ulrike Haerendel interviewte Heiner Keupp für das neue Video-Gesprächsformat der Evangelischen Akademie Tutzing: den RotundeTalk. (Foto: ma/eat archiv)

Tags: , , , , , , ,