Eine Frage, die für die Demokratie überlebenswichtig ist

“Die Frage ‘Wie konnte es so weit kommen?’ muss in jeder Generation neu gestellt werden.”, sagte Akademiedirektor Udo Hahn in einer Gedenkfeier am 30. April 2025 in Tutzing. Dabei wurde an die Opfer des Häftlingstransportes am Starnberger See vor 80 Jahren erinnert. Die Rede von Udo Hahn können Sie hier vollständig nachlesen.

Es gilt das gesprochene Wort!

„Als Adolf Hitler Ende Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, dauerte es keine fünf Wochen, bis das erste Konzentrationslager eröffnet wurde – das KZ Nohra bei Weimar. Und am 15. März 1933 kam als zweites das KZ Dachau hinzu. In diesen Tagen erinnern wir an die Befreiung zahlreicher Konzentrationslager, darunter auch Dachau. Planvoll eingesetzt, funktionierte diese Vernichtungsmaschinerie auch dann noch, als das NS-Regime längst besiegt war. Mehr noch wurden mit den Todesmärschen die nationalsozialistischen Verbrechen an den KZ-Häftlingen mitten in die deutsche Gesellschaft getragen. Nicht nur in den befreiten Lagern, sondern auch auf Landstraßen und in Dörfern wurde deutlich, dass hier Vergehen ungeahnten Ausmaßes begangen worden waren.

Das Gedenken an die Gräuel der Diktatur des Nationalsozialismus ist seither davon geprägt, Unrecht aufzuarbeiten, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und unsere Verantwortung heute zu bestimmen. Eine Aufgabe, die nie endet.

Die über die Jahrzehnte auf- und ausgebaute Erinnerungskultur in Deutschland – einschließlich aller Bildungsaktivitäten und zivilgesellschaftlicher Initiativen – wirft jedoch angesichts des Erstarkens von rechtsextremen Denkweisen, von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus Fragen auf.

So lässt das gerade veröffentlichte Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zum kritischen Geschichtsbewusstsein und der Erinnerungskultur in Deutschland aufhorchen. Demnach weisen die Kenntnisse der Menschen in Deutschland über den Nationalsozialismus teilweise große Lücken auf. Zudem befürwortet zum ersten Mal eine knappe Mehrheit der Befragten (38,1 Prozent), einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit zu ziehen. Über die Hälfte der Befragten gibt an, wenig oder überhaupt nichts über die NS-Geschichte am eigenen Wohnort zu wissen. Nur etwa ein Drittel kann grob erklären, was im Kontext der NS-Zeit unter dem Begriff „Euthanasie“, also der gezielten Ermordung Kranker, zu verstehen ist. Etwa drei Viertel der Befragten können keine realistischen Einschätzungen zu Opferzahlen geben. Dies betrifft auch die Anzahl der ermordeten Sinti und Roma oder die Zahl der eingesetzten Zwangsarbeiter. Ermutigend finde ich, dass fast 40 Prozent der Befragten angeben, sie könnten etwas für die Erinnerungsarbeit tun. In dieser Bereitschaft steckt eine Chance.

Interesse zu wecken, sich ein eigenes Bild zu machen und Spuren vor Ort nachzugehen, das scheint mir der vielleicht wichtigste Baustein einer Bildungsarbeit, um zu verhindern, dass u.a. der Zivilisationsbruch der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden und zahllose weitere Verbrechen durch rechtsextreme Rattenfänger verharmlost werden.

Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der evangelische Theologe Martin Niemöller hat diese Frage 1946 im Lichte eigener, leidvoller Erfahrungen beantwortet. Er ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten des kirchlichen Widerstands gewesen, war verhaftet worden und als ‘persönlicher Gefangener’ Adolf Hitlers zunächst im KZ Sachsenhausen und dann bis zum Kriegsende im KZ Dachau interniert worden. Er sagte: ‘Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.’

Die Frage ‘Wie konnte es so weit kommen?’ muss in jeder Generation neu gestellt werden. Sie ist für die Demokratie überlebenswichtig. Kompromissbereitschaft, Gemeinsinn und Zusammenhalt müssen die bestimmenden Kräfte bleiben und nicht Ausgrenzung, Abwertung und Hass. Jede und jeder unter uns hat Verantwortung. Wir müssen bereit sein, sie zu übernehmen. Jetzt!“

Zum Hintergrund:
Zur Gedenkfeier hat die Gemeinde Tutzing am Mittwoch, 30. April um 12.15 Uhr, in den großen Saal des Roncalli-Hauses eingeladen. Weitere Teilnehmende waren: der katholische Pfarrer Peter Seidel, die evangelische Pfarrerin Beate Frankenberger, Bürgermeister Ludwig Horn, die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Prof. Dr. Ursula Münch sowie Tutzinger Schulkinder. Weitere Informationen hier.

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