Ein Abend über alte Wut, offene Wunden und Mut zum Friedenschließen

Die Premiere von Caro Matzkos Buch “Alte Wut” in Tutzing war ein Abend voller Lachen, Ernsthaftigkeit und Auseinandersetzung mit Geschichte – der deutschen Geschichte, aber auch der persönlichen Geschichte der Journalistin und Moderatorin.

Am 6. Oktober stellte die Moderatorin, Autorin und Journalistin Caro Matzko ihr Buch “Alte Wut” in der Evangelischen Akademie Tutzing vor. Darin beschreibt sie eine Reise, die sie zusammen mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrem Hund unternahm – im Gepäck eine Kaffee-Siebträgermaschine sowie das feste Vorhaben, ihrer persönlichen Geschichte auf die Spur zu kommen und Frieden mit ihr zu schließen. Caro Matzko nahm die Fluchtroute, die ihr Vater als Junge aus Ostpreußen nehmen musste, in entgegengesetzter Richtung.

In Tutzing las sie Kapitel aus ihrem Buch und sprach mit Akademiedirektor Udo Hahn über ihre Erlebnisse und Gedanken. Sie erzählte von ihren Vorurteilen, die sie als „Westdeutsche“ gegenüber dem Osten Deutschlands gehabt habe, von ihrer Hybris, den offenen Wunden in ihrer Familiengeschichte, die sie befrieden konnte, während ihr Vater noch immer trauere. Zu viele traumatische Erlebnisse hatte er als Kind erfahren. Im Gespräch ging es auch um Therapie und seelische Gesundheit als Thema bei Geflüchteten. Akademiedirektor Udo Hahn bezeichnete das Buch von Caro Matzko auch als politisches Buch, da es unter anderem Themen der gesellschaftspolitischen Gegenwart aufgreife.

Im Gespräch mit dem Publikum wurde spürbar, wie sehr Geschichten von Flucht und Vertreibung aus dem Zweiten Weltkrieg noch heute unter den Menschen spürbar sind.

Lesen Sie hier die Rezension von Akademiedirektor Udo Hahn zum Buch “Alte Wut”:

“Die Zeit heilt alle Wunden”, so lautet eine Redensart, die dem französischen Historiker und Philosophen Voltaire zugeschrieben wird. Zur Lebensweisheit taugt der Spruch nur bedingt. Gewiss, Schürfwunden heilen üblicherweise schnell und mit Bepanthen kann man diesen Prozess noch beschleunigen. Im Blick auf seelische Wunden ist der Satz sogar gefährlich. Da trägt Warten – auf was eigentlich? – und Tatenlosigkeit dazu bei, dass Wunden immer wieder neu aufbrechen.

Warum die Zeit keine Wunden heilt, dazu hat die Journalistin und Moderatorin Caro Matzko ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel “Alte Wut”. Die Autorin ist 1979 in Ulm geboren, studierte Kommunikationswissenschaft, Politik und Soziologie und ist in ihrem Beruf erfolgreich. Ihr Leben ist auch geprägt von ihrem Kampf gegen Magersucht, Depression und Burnout. Woher dies alles kommt? Auf der Suche nach den Ursachen entdeckt Matzko, dass sie sich mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen muss. Genauer mit der Geschichte ihres Vaters, der als Zehnjähriger aus Ostpreußen fliehen musste. Und heute AfD-Mitglied ist – zur Verwunderung seiner Tochter.

Caro Matzko hat ein radikal-mutiges Buch geschrieben. Darin erzählt sie von ihrer Reise zu den Ursprüngen – dem Herkunftsort ihres Vaters: Ostróda im heutigen Polen, mit Stationen u.a. in Weißenfels an der Saale und Niechorze. Sie berichtet von den Begegnungen mit Menschen an den jeweiligen Orten und dem Versuch, diese zu verstehen und letztlich herauszufinden, warum ihr Vater so geworden ist.

Neben einer medizinischen Dimension vererbter Traumata hat das Thema auch eine politische Dimension, die über die Gegenwart weit in die Zukunft ragt. “Mein Vater gehört zu einer vernachlässigten, vaterlosen Generation, die durch das Grauen und die Grausamkeit ihrer Zeit, durch schwarze Pädagogik, wechselnde autoritäre Regime, emotionale Haltlosigkeit, durch soziale Demütigungen und Ausgrenzungen geformt wurde”, schreibt Matzko. “So viele Kinder mussten wie mein Vater mit großen Augen in tiefe Abgründe schauen und lernen, wozu Menschen imstande sind, Was hat das mit ihnen gemacht? Was macht das mit Kriegskindern und Kindern, die heute in autoritären Systemen aufwachsen? Und was mit der Generation nach ihnen, die mit traumatisierten Eltern umgehen muss – oder durch die wundersamen Hebel der Epigenetik das Trauma vererbt bekommt?”

Caro Matzkos Buch ist auch ein Beitrag zur aktuellen politischen Debatte um die Frage, wie wir zusammenleben wollen in einer Gesellschaft, in der rechtsextreme Narrative zunehmend in der Mitte der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen. “Freiheit ist anstrengend”, so die Autorin. “Aber sie ist alternativlos. Zumindest für mich. Ich kann nachempfinden, dass das nicht jedermanns und jederfraus Sache ist. Ich kann aber nicht verstehen, wie man angesichts komplexer Gemengelagen an einfache Lösungen glaubt.”

Caro Matzko schreibt in einer Sprache, in der sich eine jüngere Zielgruppe das genannte Themenspektrum erschließen und in den Fragen und Erfahrungen der Autorin wiederfinden kann. Und ermutigt wird, sich auf Spurensuche im eigenen Leben zu begeben und eine eigenständige Antwort und Haltung zu entwickeln.

Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing

Caro Matzko: “Alte Wut. Warum ich an den Ort reiste, von dem mein Vater einst fliehen musste”
(220 Seiten, 24 Euro, München 2025, Piper)

HINWEIS:

Mit dem Thema Epigenetik beschäftigt sich auch ein Gesprächsabend am 27. November in der Evangelischen Akademie Tutzing: “Vererbte Traumata”. Der Trauma- und Stressexperte Louis Lewitan liest darin aus seinem Buch und spricht über das Erbe der Schoah und des Zweiten Weltkriegs, das bis heute auch psychisch nachwirkt. Viele Nachkommen der Täter, Mitläufer:innen und Opportunist:innen tragen seelische Narben. Wie kann damit umgegangen werden?  Alle Informationen dazu finden Sie hier. 

Bild: Applaus für die Autorin und das Publikum: Caro Matzko bei der Premiere ihres Buches “Alte Wut” am 6. Oktober in der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Ludwig Noack)

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