Drei Fragen an … Markus Ertl

“Am Ende bleibt Inklusion eine Haltungsfrage”, sagt der Inklusionsbotschafter Markus Ertl. Junges Forum-Studienleiterin Julia Wunderlich hat ihn im Vorfeld der Landtagswahlen im Herbst zum Thema Barrierefreiheit und Wahlen befragt.

Julia Wunderlich: Im Herbst steht die Landtagswahl in Bayern an. Dabei geht es auch um die Teilhabe aller Wahlberechtigten. Der Arbeitskreis Menschen mit Behinderungen im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen hat heuer “barrierefreies Wählen” als Jahresthema gewählt. Wie schätzen Sie das als Sprecher dieser Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung ein?

Markus Ertl: Die Wahl nach den demokratischen Grundsätzen ist der Grundpfeiler unserer Demokratie. Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sollte deshalb für jeden Wahlberechtigten gelten. Diese Grundsätze werden auf sehr vielen Ebenen verletzt und müssen deshalb diskutiert werden. Wenn wir über “gleich” sprechen, dann bedeutet dies, dass jede:r am Wahltag von 8 bis 18 Uhr im Wahllokal seine Stimme abgeben darf.

Aber es kommt eben vor, dass Menschen im Rollstuhl in das als barrierefrei beschriebene Wahllokal möchten und eine zu steile Rampe vorfinden, die mit Kopfsteinen gepflastert ist, die Türe ist zu schwer zu öffnen und die Türklingel ist für sie zu hoch angebracht. Kurz gesagt, das Wahllokal ist für sie eben nicht zugänglich. Wie können sie jetzt wählen?

Es gibt unzählige, heute noch erlebbare ähnliche Szenarien. Und so nehmen wir uns vieler Themen an und bearbeiten sie in unserem Landkreis, um die Teilhabe gemäß den Grundsätzen an der Wahl zu ermöglichen: Wahlveranstaltung in leichter Sprache, Barrierefreiheit von Wahlinformationen durch die Wahlleitungen und durch die Parteien und deren Abgeordnete. Es gibt hier auf vielen Ebenen noch sehr viel zu tun und nach der Wahl ist vor der nächsten Wahl.

Zuletzt haben Sie im Jungen Forum der Akademie über digitale Barrierefreiheit bei der Tagung “Digitalethik & junge politische Philosophie” referiert. Was sind die zukünftigen Herausforderungen im Bereich der barrierefreien Informationstechnologie? Was braucht es politisch und sozial?

Politisch sind bereits die Weichen durch die UN-Behindertenrechtskonvention gestellt, die durch die Ratifizierung 2009 in Deutschland, aber auch in der Europäischen Union (EU) verbindlich wurde. Neben weiteren europäischen Richtlinien und nationalen Gesetzen gibt es Standards, die ein Mindestmaß an Zugänglichkeit garantieren. Dennoch werden wir noch zu oft bei der digitalen Teilhabe ausgegrenzt. Nach zu vielen Jahren, in der auf Freiwilligkeit und viel Bewusstsein gesetzt wurde, sollte jetzt die Zeit mit Sanktionen bei Ausgrenzung kommen. Und hier freue ich mich über den European Accessibility Act (EAA), der dies ab 2025 in Deutschland mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz gegenüber der Privatwirtschaft ermöglichen wird. Hier kann ich dann über meine Verbraucherrechte beispielsweise Online-Shops wegen ihrer Ausgrenzung belangen.

Eine Forderung an die Politik ist deshalb, Sanktionen auch gegenüber staatlichen Stellen zu ermöglichen und die Möglichkeiten des EAA noch weiter in nationale Gesetze umzusetzen.

Gesellschaftlich braucht es mehr Teilhabe von Beginn an. Wir müssen wieder lernen, durch Begegnungen andere Lebenswirklichkeiten kennenzulernen und den Rahmen für ein gutes Miteinander zu schaffen. Barrieren werden erst durch diese Teilhabe sichtbar und können gemeinsam beseitigt werden. Das muss in der Kita beginnen und darf erst im hohen Alter enden.

Die einen bringen das Wissen ein, die anderen die Bereitschaft, alle dabei haben zu wollen. Am Ende bleibt Inklusion jedoch immer eine Haltungsfrage.

Im Oktober 2023 dürfen wir uns wieder auf Sie freuen. Hier referieren Sie bei der Politikwerkstatt des Jungen Forums auch über kommunalpolitische Themen der Inklusion. Was fordern Sie mit Blick auf Kinder und Jugendliche?

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) gibt uns die Steilvorlage zur Verankerung der Inklusion als Leitgedanken der Kinder- und Jugendhilfe. Was bisher über den überörtlichen Träger der Eingliederungshilfe, bei uns ist das der Bezirk Oberbayern, exklusiv für Kinder und Jugendliche mit Behinderung gemacht wurde, muss künftig über die Jugendhilfe in den Landkreisen verbindlich werden. Es wird dann nicht mehr zwischen Kindern mit und ohne Behinderung unterschieden.

Die Verantwortung wird gerade zwischen den Ebenen der Politik noch hin- und hergeschoben, da sich die Landkreise nicht in der Lage sehen, dies finanziell und auch durch das nötige Fachpersonal zu stemmen.

Auch regelt das Gesetz eine grundsätzlich gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderungen in Kindertageseinrichtungen. Das heißt, dass die bestehenden Einrichtungen, von der Kinderkrippe bis zum Jugendtreff, von der Nachmittagsbetreuung bis hin zum Ferienpass, für alle Kinder offen und zugänglich sein müssen, ob mit oder ohne Behinderung. Diese Mammutaufgabe ist noch wenig bekannt. Um am Ende einen gesellschaftlichen Konsens dafür zu bekommen, brauchen wir hier dringend Raum für notwendige Diskussionen.

Interview: Julia Wunderlich, Studienleiterin für Jugendpolitik & Jugendbildung (Junges Forum), Evangelische Akademie Tutzing

Zur Person:
Markus Ertl, Inklusionsbotschafter, Berater in der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB), Sprecher für Barrierefreiheit für die Interessenvertretung Selbstbestimmt leben e.V., Mitglied im Landesausschuss des VdK Bayern, Referent für Inklusion und Gemeinderatsmitglied in der Gemeinde Lenggries, Sprecher des Arbeitskreises (AK) Menschen mit Behinderung im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen.

Hinweis:
Die Politikwerkstatt zum Thema
“Iran & China. EU-Digitalpolitik. Bildung neu denken” findet vom 20. bis 22. Oktober 2023 im Jungen Forum der Evangelischen Akademie Tutzing statt – in Kooperation mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Alle Informationen zum Programm und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.

 

Bild: Markus Ertl (Foto: Bettina Krinner)

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