“Die Menschen haben hochintensive Fragen und Gedanken”

Pfarrer Dietrich Tiggemann hat nach seinem Eintritt in den Ruhestand eine Ausbildung zum Pilgerbegleiter absolviert. Heute arbeitet er als Herbergsvater und bietet regelmäßig Pilgertouren an – im März auch für die “Spiritualität:en”-Tagung unserer Akademie. Im Interview sagt er, beim Pilgern begegne er “unfassbar vielen Menschen, die mitnichten ihren Glauben abgegeben haben”.

Evangelische Akademie Tutzing: Was bedeutet für Sie Spiritualität?

Dietrich Tiggemann: In unserer Welt, Gesellschaft, Familie, auch Kirche sind die meisten Menschen getrieben durch äußere Faktoren, die uns antreiben. So geraten wir in Leistungs- und Konsum-Strukturen, die rasch die “Herrschaft” über unser Denken und Empfinden übernehmen.

Spiritualität ist meines Erachtens zunächst schlicht die Einsicht, dass das Leben eines Menschen mehr ist als äußeres Dasein. Ein Mensch sucht einen Weg, seinen Empfindungen, Hoffnungen und Ideen einen freien Raum zu schenken. Hier nimmt ein spiritueller Mensch sich selbst wahr und ernst. Die Seele darf atmen, sich entwickeln und so die äußeren Lebensbedingungen des Menschen infrage stellen, nach Änderungen und Heilung des eigenen Lebenswandels suchen. Spiritualität ist deshalb eine Suchbewegung nach ganzheitlicher Gesundung von Leib und Seele.

Wie lässt sich Spiritualität entdecken? Wie haben Sie Ihre gefunden und wo begegnet sie Ihnen?

In meinem gesamten Leben hat es immer eines anderen Menschen bedurft, der mir zu einem Weg spiritueller Erfahrung verholfen hat. So empfinde ich die Aufgabe unserer Kirche: Hilfestellung zu geben, den eigenen Weg zu sich selbst, der eigenen Seelenlandschaft, dem Geborgensein in Gott zu entdecken.

In meinem neuen Lebensabschnitt mit Eintritt in den Ruhestand ist mir das Pilgern eine Entdeckungsreise zu meiner eigenen Spiritualität geworden. Beim Pilgern schenke ich mir Zeit, fordere ich meinen Leib heraus und bringe meine Seele mit klaren Gedanken zum Schwingen. Auf diese Weise bringt das Pilgern durch Wandern und durch gleichzeitige Gedankenimpulse Leib und Seele in eine gesunde gemeinsame Beweglichkeit.

Was unterscheidet eigentlich Pilgern vom Wandern?

Wandern macht sportlich Spaß, weil ich meinem Körper etwas abverlange und das Erreichen eines Zieles als Glück erlebe. Wallfahren (in katholischer Tradition) nimmt diese Glückssuche auf, verbindet sie aber mit der Vorgabe kirchlicher Liturgie, um die gedankliche Sinnhaftigkeit zu lenken.

Pilgern schenkt freie Zeit, um Leib und Körper in eine gesunde schwingende Bewegung zu bringen. Pilgersegen, eigene Fragestellungen, geistliche Impulse, Lieder und Gebet begleiten Pilgernde bei der Suche nach innerer Ruhe, nach Antworten und Kraft für den erhofften Lebensschritt.

Wie fit muss man sein, wenn man pilgern möchte?

Pilgern ist keine (!) Leistung. Die Fitness ist lediglich gefragt, wenn ich auch dem sportlichen Aspekt ein Gewicht zuerkenne. Ansonsten richtet sich die Strecke, Dauer und Ausrichtung der Pilgertour ganz und gar nach meinen körperlichen Möglichkeiten.

So biete ich zum Beispiel auch Pilgern für und mit behinderten Menschen an. Hier ist es vollkommen dumm, wenn ich nach Fitness frage, das Erlebnis spirituellen Geborgenseins ist das entscheidende Maß.

Wie beschreiben Sie Neulingen Ihre Tätigkeit als Pilgerbegleiter?

Als Pilgerbegleiter biete ich meine Hilfe an, Touren zu entwickeln, Themen zu entdecken, eigenen Lebensfragen Worte zu verleihen, geistliche Impulse zu finden. Unterwegs stehe ich zur Verfügung als Gesprächs- und Wanderpartner. Pilgernde sollen wissen, dass sie in mir einen Seelsorger mit Zeit und Ruhe an ihrer Seite haben.

Ihre bislang schönste Erfahrung beim Pilgern …?

Als evangelischer Pfarrer habe ich sehr darunter gelitten, dass trotz engagierter Arbeit die Menschen nicht mehr so zahlreich “in die Kirche” kamen. Die Austrittswellen haben mich zeit meines Berufes ordentlich zermürbt.

Jetzt begegne ich unterwegs beim Pilgern oder als Herbergsvater in der Pilgerherberge unfassbar vielen Menschen, die mitnichten ihren Glauben abgegeben haben: Die Menschen haben hochintensive Fragen und Gedanken, sie sind nicht (!) “weg”, sondern schlicht “woanders”! Das ist ein unbeschreiblich beglückendes Erlebnis.

Und: Als Herbergsvater der Pilgerherberge in Scheidegg hatte ich eine alte Dame als Pilgerin zu Gast: Sie ging Tag für Tag etwa fünf Kilometer, ganz in sich ruhend und strahlte Glück aus … sie war 94 Jahre alt!

Das Interview führte Dorothea Grass

 

Dietrich Tiggemann ist evangelischer Pfarrer im Ruhestand und dabei viel in Bewegung: Seit 2021 ist er qualifizierter Pilgerbegleiter. Seine unterschiedlichen Pilger-Angebote sind in Augsburg an der Kirchengemeinde St. Paul in Pfersee und am Evangelischen Forum Annahof angesiedelt. Hier bietet er mit seinem Team regelmäßig Pilgertouren zu verschiedenen Themen und für unterschiedliche Zielgruppen an.
Mehr darüber erfahren Sie hier.

Hinweis:
Sie können sich mit Dietrich Tiggemann pilgernd auf den Weg zu unserer Tagung “Spiritualität:en” (8.-10. März an der Evangelischen Akademie Tutzing) machen. Startpunkt dazu ist am 8. März um 10:00 Uhr der S-Bahnhof Possenhofen (nördlich von Tutzing). Wir unternehmen eine etwa 15 Kilometer lange Pilgertour, die uns über Pöcking, Aschering und Traubing zur Akademie in Tutzing führt.
Weitere Informationen zur Tagung und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.

Bild: Dietrich Tiggemann (Foto: Silvio Wyszengrad / Augsburger Allgemeine)

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