„Was macht ein Dirigent? Absolut nichts.“ – Zum Tode Mariss Jansons‘

„Der aufrichtigste, integerste, empathischste Dirigent der Welt ist tot“, so würdigt die Süddeutsche Zeitung heute Mariss Janssons in ihrer Printausgabe. Der Chefdirigent des Symphonieorchesters und Chors des Bayerischen Rundfunks ist am 1. Dezember gestorben. 2009 formulierte er beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing seine Forderung nach einem eigenen Konzerthaus für seine Symphoniker.

Anfang 2009 erschien in der Akademie-Zeitschrift „Tutzinger Blätter“ ein Auszug des Interviews, das der frühere Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser (gest. 2017) zum Jahresempfang im Januar mit dem großen Maestro Mariss Jansons geführt hatte. In Erinnerung an diesen prägenden Moment und an einen der herausragendsten Künstler unserer Zeit publizieren wir den Text an dieser Stelle noch einmal.

Sine Musica Nulla Vita

Joachim Kaiser: Keine Stadt der Welt – Wien nicht, London nicht, New York nicht und auch Berlin nicht – hat es sich seit den 50er Jahren kontinuierlich geleistet, stets drei Dirigenten von Weltruf fest angestellt nebeneinander zu beschäftigen – nur München. Dergleichen nehmen wir verwöhnten Münchner kaum als Sensation wahr. Einer der berühmten Dirigenten ist Maestro Mariss Jansons. Heute Abend möchte ich versuchen, von ihm einige Erkenntnisse herauszulocken:

1. Wie, lieber Herr Jansons, gelang es Ihnen, trotz ungeheurer internationaler Konkurrenz, berühmt zu werden?

2. Was macht einen hervorragenden Dirigenten aus? Was muss er tun? Worauf kommt es an?

3. Was eigentlich ist Kunst? Welche Rolle spielt sie gerade auch in der Ausbildung junger Menschen?

4. Zum Schluss werden wir uns austauschen über Münchens Konzertsaal, über den Gasteig und Marstall.

Mariss Jansons: Zu Ihrer ersten Frage. Ich bin in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen. Mein Vater war Dirigent im Opernhaus von Riga, meine Mutter war Opernsängerin. Wir hatten keinen Babysitter, und so wurde ich schon als dreijähriges Kind immer mit ins Opernhaus genommen, jeden Tag. Ich kannte alle Ballette, mit den Opern war es etwas schwieriger. Zuhause habe ich dann immer nur gesungen und getanzt und gespielt, dass ich ein Dirigent wäre oder ein Geiger. In einer solchen Atmosphäre bin ich also aufgewachsen. Meine Eltern haben mir nie gesagt: Du musst ein Dirigent werden oder Musiker. Allerdings hat mein Vater mir mit 6 Jahren eine Geige gebracht und mir dann Geigenunterricht gegeben.

Mir fällt etwas auf: Fast alle Künstler, die es beruflich zu etwas bringen – Sänger, Schauspieler, Musiker – kommen fast immer aus künstlerischen Familien. Fast immer war dann schon der Vater Schauspieler. Anscheinend ist es sehr wichtig, dass man schon als Kind das Künstlerische mitbekommt?

Ich glaube, es ist sehr gut, wenn man in dieser Atmosphäre aufgewachsen ist. Allerdings meine ich, dass jeder Mensch es mit Bildung, mit Religion und mit Kultur zu tun haben muss. Das ist die Nahrung, die unsere Seele und unser Herz braucht. Wir denken zu sehr an Materielles. In unserer heutigen Welt gibt es eine Diskrepanz zwischen Materiellem und Geistigem. Wir haben eine fantastische Entwicklung durchlaufen in der Technik, der Medizin, wir können auf den Mond fliegen, aber ich bin mir nicht sicher, ob die heutige Generation hundertprozentig die Werte des Lebens begreift und wirklich versteht, was Kultur und Religion bedeuten.

Was tut eigentlich der Dirigent? Er muss meiner Ansicht nach auf eine unwiderstehliche Art und Weise im Stande sein, Energie zu übertragen.

Dirigent zu sein, das ist ein mystischer Beruf. Was macht ein Dirigent? Absolut nichts. Er streckt den Arm aus und hebt den Taktstock. Im Grunde macht er absolut nichts. Doch Dirigieren – das ist ein Beruf. Der Dirigent muss ein gebildeter Musiker sein und eine gute musikalische Ausbildung haben. Wunderbar wäre es, wenn er in einem Orchester gespielt hätte, weil er dann dieses Orchestergefühl sehr gut ausdrücken könnte. Wichtig ist für den Dirigenten auch Diplomatie. Sie haben es als Orchesterleiter mit hundert sehr verschiedenen Musikern zu tun, die alle sehr individuell und sehr sensibel sind, manchmal auch sehr schnell beleidigt. Sie benötigen also viel Diplomatie oder psychologisches Feingefühl. Doch das Wichtigste – es ist sehr schwer zu erklären – ist die Energie des Dirigenten, wenn er dirigiert mit den Augen, mit dem Körper oder mit den Händen und das Orchester spielt – das ist etwas, was man nicht erklären kann. Wenn ein Musiker diese Begabung von Gott bekommen hat, dann ist er ein wirklicher Dirigent.

Welche Rolle spielt die Kunst und Kultur überhaupt?

Die deutsche Kultur, insbesondere die Musik, hat der Welt ungeheuer viel gegeben. Die besten Komponisten, die besten Dirigenten, es waren und sind die Deutschen. Jetzt beschäftige ich mich ganz besonders mit Beethoven. Und ich muss Ihnen sagen, das ist der stärkste Geist, der überhaupt in der Musik existiert.

Ich habe im Dezember Beethovensonaten dirigiert, und ich habe vorher gelesen, dass er nicht mehr hören konnte und dass er Selbstmord begehen wollte. Dann hören Sie seine Musik und fragen sich, wie kann ein Mensch mit Selbstmordgedanken so etwas schreiben? Das ist für mich das Stärkste in der Musik. Dass der taube Beethoven eine solche Musik geschrieben hat, das kann man sich nicht vorstellen.

Beethoven schrieb 32 Klaviersonaten, und sie können keine mit der anderen vergleichen – das ist wirklich unglaublich. Wie Beethoven unter seiner Taubheit gelitten haben muss, das kann man sich Gott sei Dank nicht vorstellen.

Bei der Musik merkt man im Lauf des Lebens erst ganz allmählich, wie unendlich viele Nuancen und Dimensionen sie enthält. Ganz verschiedene Stimmungen, Melancholie, Verzagtheit, Trauer, Verzweiflung, Unglück. Man behauptet ja immer, die Sprache ist präzise und die Musik ist ein bisschen vage. Da sagt Mendelsohn: „Genau umgekehrt. Die Musik beschreibt ganz deutlich die Stimmungen, für die es leider keine Worte gibt. Damit ist sie keineswegs vage, sondern für das Seelische viel ausdrucksvoller, bloß das merkt man nicht beim ersten Mal.“

Wir hatten gesagt, dass München immer mehrere hervorragende, bedeutende Dirigenten zugleich beschäftigt und dass das dann auch dazu verpflichtet, den Dirigenten die Möglichkeiten zu geben, die sie brauchen. Sie – und auch ich – sind doch mit dem Gasteig sehr unglücklich und finden, dass Ihr Orchester, um sich selbst darstellen zu können und zu einer wirklichen Einheit zu werden, einen eigenen Raum braucht. Und wenn ich in die Augen unserer Politiker schaue, dann sind die alle damit wohl sehr einverstanden, doch sie sagen: „Wo soll das Geld herkommen?“

Das bayerische Symphonieorchester liegt bei den internationalen Rankings an sechster Stelle. Wir sind von 20 Spitzenorchestern das sechstbeste Orchester in der Welt. Und wir sind das einzige Orchester, das keinen eigenen Konzertsaal hat. Das ist wirklich eine Blamage.

Was ist Deutschland in der Musikwelt? Ein führendes Land! Da gibt es doch sehr wenige Städte in der Welt – New York, Wien, Amsterdam, Berlin, Tokio – das sind die führenden Musikstädte und natürlich München. Wenn Sie hier in München keinen perfekten, erstklassigen Musiksaal haben, dann ist das sehr schade. Ich hoffe, dass dieser Saal hier gebaut wird. Denn München ist wie eine Lokomotive, nicht nur für Bayern, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Musikwelt.

In Japan bauen sie immer wunderbare Musiksäle. Ich habe einen Musiksaal in Kawasaki eröffnet, in einem kleinen Dorf, nicht weit von Tokio, mit einer ganz hervorragenden Akustik der Topklasse. Ich habe mich gefragt, wie das in einem Dorf möglich ist? Da hat der Direktor zu mir gesagt: „Wissen Sie, Herr Jansons, wie stolz wir sind? Denn wer kommt in den nächsten fünf Jahren zu uns? Die Metropolitan Opera, die Staatsoper Berlin, die Wiener Philharmoniker, die Berliner Philharmoniker und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.“ Das bedeutet: Die ganze Welt weiß sofort, dass es in diesem Dorf einen wunderbaren Konzertsaal gibt. Das Dorf wird zu einem Zentrum in Japan, weil es dort diesen Konzertsaal gibt. Und die besten Musiker der Welt kommen dorthin und spielen. Erklären Sie mir bitte: Warum geht das in Kawasaki und nicht in München?

Hinweis:
Seit 2010 veranstaltet die Evangelische Akademie Tutzing gemeinsam mit Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sechs Kammerkonzerte pro Saison. Die Saison 2019/20 beginnt am 8. Dezember 2019. Informationen zur Reihe, Abonnements und Karten finden Sie hier.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat im Gedenken an seinen Chefdirigenten ein Abschiedsvideo auf YouTube gepostet. Unter diesem Link können Sie es ansehen.

Bild: Mariss Jansons beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar 2019. (Foto: Haist/eat archiv)

Der Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser führte beim Jahresempfang 2009 das Gespräch mit Mariss Jansons, dem Chefdirigenten des Bayerischen Rundfunks. (Foto: Haist/eat archiv)

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