Griechische Entwicklungen – Informationen aus erster Hand
Aktueller können Abendveranstaltungen aus aktuellem Anlass kaum sein wie die gestrige Veranstaltung „Hellas unter neuer Führung – Aufbruch am Abgrund?“.
Die Journalistin Kaki Bali, die für die Tageszeitung Avgi in Thessaloniki schreibt, kam direkt aus Berlin geflogen, wo sie den Besuch von Ministerpräsident Alexis Tsipras am Tag zuvor vor Ort miterlebt hatte und darüber berichtet hatte. Dr. Jens Bastian, unabhängiger Wirtschaftsberater und zuvor u.a. drei Jahre lang in der europäischen Task Force for Greece tätig, kam aus Athen nach Tutzing.
Die Rotunde der Akademie war nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt, um über die Entwicklungen vor Ort Informationen aus erster Hand zu bekommen. Dr. Hansjörg Brey, Geschäftsführer der mitveranstaltenden Südosteuropa-Gesellschaft und langjähriger Kooperationspartner der Akademie, moderierte die Veranstaltung gewohnt fachkundig.
„Deutsche und Griechen reden nicht genügend miteinander!“– so brachte Kaki Bali einen Teil des Problems auf den Punkt. Klischees würden Platz greifen, hier wie dort, obgleich doch zwischen Deutschland und Griechenland sehr enge Beziehungen bestünden. Von daher sei das Gespräch von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Tsipras an diesem Montag atmosphärisch wichtig gewesen, ein erster Schritt „Rückkehr zu den Sachthemen nach den medialen Scharmützeln“, so Jens Bastian.
Nach sechs Jahren Krisen- und Rettungsmaßnahmen sei noch immer kein Ende der Krise abzusehen, so die übereinstimmende Auffassung. Vieles was in der aktuellen Debatte der neuen Regierung angelastet würde, sei tatsächlich die Erbschaft der vorangegangenen Regierungen. Unter hohem Zeitdruck müssten jetzt strukturelle Reformen angegangen werden. Für Jens Bastian ist dafür eine grundlegende Voraussetzung: Es ist unbedingt der sehr unterschiedliche Blickwinkel in Griechenland und in den anderen europäischen Staaten zu beachten. Beispielsweise ist der Begriff „Reformen“ in Griechenland äußerst negativ besetzt, wird er mit Troika und Eingriffen von außen gleichgesetzt.
Deshalb sei es äußerst wichtig, dass die neue griechische Regierung die nächsten Maßnahmen selbst definiert und gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern verabredet, und dass damit die weitere Entwicklung nicht länger als ein Diktat von außen angesehen wird. Es sei nicht einfach ein Etiketten-Tausch, wenn das anstehende Programm nicht „Reformprogramm“ sondern „Programm zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen“ benannt würde. Die Lage sei einerseits extrem angespannt bezüglich der Zahlungsfähigkeit der Regierung. Andererseits hätte die neue Regierung durchaus gewisse Potenziale, die die vorangegangenen Regierungen nicht realisieren konnten: Sei es etwa der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens mit der Schweiz, und damit raschen Einnahmen, sei es die Möglichkeit, steuerehrlichen Bürgern positive Anreize zu geben. Auch bei Privatisierungen gäbe es Spielraum, etwa statt Privatisierungen langjährige Konzessionen zu vergeben oder Leasing-Verträge abzuschließen.
Kaki Bali pointierte in ihrer Analyse, wie es am 25. Januar 2015 zum Wahlsieg des Linksbündnisses Syriza gekommen war: Nachdem die langjährigen früheren Großparteien abgewirtschaftet hätten, seien die Erwartungen an sie in der Bevölkerung auf den Nullpunkt gesunken. Es sei ein glücklicher Umstand, dass nicht wie in anderen europäischen Ländern die Bevölkerung in ihrer Verzweiflung die Rechtsextremen massenhaft gewählt haben, in Griechenland die „Partei der Morgenröte“, sondern Syriza.
In der lebhaften Debatte wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unterschiedlichste Stichworte angesprochen und Fragen gestellt: u.a. nach der Rolle der orthodoxen Kirche, nach den Möglichkeiten der Korruptionsbekämpfung, nach dem Reformwillen der neuen Regierung, nach den Rückwirkungen des Erfolgs des Linksbündnisses auf die Wahlen in anderen europäischen Staaten, nach den Folgen eines möglichen Austritts Griechenlands aus dem Euroraum. Hingewiesen wurde darauf, dass die griechische Verschuldung entgegen vielen Berichten in den deutschen Medien nicht dramatisch gestiegen sei, vielmehr sei der allergrößte Teils des Anstiegs der Verschuldung die Folge des starken Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts, durch das Austeritätsprogramm verstärkt. Damit sei der prozentuale Anteil automatisch gestiegen. Eine ganze Reihe der Diskutanten haben enge persönliche Bezüge nach Griechenland bzw. wirtschaftliche Erfahrungen.
Nicht über „die Griechen“ von außen reden, Stereotype bedienen, sondern sich auf die Situation vor Ort einlassen und Informationen aus Griechenland aufnehmen, so kann die Ausrichtung des Tutzinger Akademieabends pointiert werden. Dabei kommen dann auch neue Aspekte in den Blick, die in der hiesigen Debattenlandschaft bisher noch kaum beachtet würden. So verwies Jens Bastian darauf, dass in den letzten Wochen in Europa die Entwicklung in der Ukraine und Russland zunehmend auch unter dem Blickwinkel gesehen würde: Was würde mit Griechenland nach einem Euro-Austritt passieren? Könnte eine gefährliche Destabilisierung dieses EU- und Nato-Mitgliedsstaats eintreten?
Keine einfachen, und schon gar keine schnellen Lösungen sind in Sicht. Sondern ein ernsthafter Austausch mit wechselseitigem Respekt seien gefragt, und ein langer Atem, damit aus einem griechischen Drama keine griechische Tragödie wird.
Ein Bericht von Martin Held.
oben: Kaki Bali, Dr. Hansjörg Brey, Dr. Jens Bastian, Mitte: Publikum (Fotos: Oryk Haist).