Kanzelrede von Peter Küspert

Es gilt das gesprochene Wort!

Bitte Sperrfrist beachten: Sonntag, 10. März 2019, 11.30 Uhr.

Kanzelrede des Präsidenten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Peter Küspert

„Was uns zusammenhält – Die Rolle der Verfassung in der pluralen Gesellschaft“

Veranstalter:

Evangelische Akademie Tutzing, Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing

am 10. März 2019, 11.30 Uhr in der Erlöserkirche in München

 (I. Einleitung)

Sehr geehrter Herr Pfarrer Hahn, sehr geehrte Frau Vorsitzende Grande, liebe Kirchengemeinde, verehrte Zuhörer!

Vielen Dank für die Einladung, heute zu Ihnen zu sprechen. Eine Kanzelrede halte ich heute zum ersten Mal.

Dabei ist den Juristen die „Kanzel“ durchaus nicht fremd. Im Zusammenhang mit einer Entscheidung zum Asylrecht war vor einigen Monaten in einer Zeitung zu lesen, der Verfassungsgerichtshof habe die Staatsregierung „abgekanzelt“[1]. Davon abgesehen, dass es sich bei der im Bericht behandelten Entscheidung nicht um eine solche des Verfassungsgerichtshofs handelte, sondern um eine solche des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs[2], scheint mir die Formulierung nicht sehr glücklich. Der Duden umschreibt den Begriff „abkanzeln“ nämlich als „(besonders einen Untergebenen) betont unhöflich, scharf tadeln“[3]. Deshalb ist dieses Wort nicht gut geeignet, die Entscheidung eines Gerichts zu beschreiben und schon gar nicht in Bezug auf die Staatsregierung. Zwischen Exekutive und Judikative besteht nämlich gerade kein Über-/Unterordnungsverhältnis, das es rechtfertigen würde, dass eine Staatsgewalt die andere „abkanzelt“. Ich werde später noch näher darauf eingehen.

Wenn ich sage, dass den Juristen die Kanzel nicht fremd ist, meine ich vor allem, dass die Richtertische in Gerichtssälen früher in gewisser Hinsicht durchaus den Kanzeln in Kirchen ähnelten. Das lateinische „cancelli“ meint ja „Gitter“ oder „Schranken“. Früher war es üblich, dass Richter in Gerichtssälen erhöht saßen und die Beteiligten gezwungen waren, zu den Richtern aufzublicken. In modernen Sitzungssälen sind die Stühle der Richter und Beteiligten dagegen oft auf derselben Höhe angebracht. Wie in vielen Kirchen die Geistlichen, sind auch in der Justiz die Richterinnen und Richter – auch räumlich – näher an die Menschen herangerückt, befinden sich heute stärker „auf Augenhöhe“ mit ihnen als früher.

Das ist exemplarischer Ausdruck einer Wandlung der Verhältnisse. Wo früher die Bereitschaft weitgehend selbstverständlich war, tatsächliche oder vermeintliche Autoritäten anzuerkennen und sich ihnen unterzuordnen, sind die Menschen in den modernen Industriestaaten dazu immer weniger bereit. Die Menschen akzeptieren heute Vorgaben nicht mehr nur deshalb, weil sie „von oben“, „ex cathedra“, von der Kanzel herab verkündet werden.

Das merken auch die Juristen in ihrem Arbeitsalltag deutlich. Der Grundsatz aus dem französischen Rechtskreis „La Cour décide, elle ne discute pas.“ – also: „Das Gericht entscheidet, es diskutiert nicht.“ – wird von Rechtsuchenden oft nicht mehr hingenommen. Richterinnen und Richter müssen heute ihre Entscheidungen viel stärker erklären als früher; sowohl den Beteiligten als auch der Öffentlichkeit.

(II. Abnahme der Bindung an traditionsreiche Institutionen)

Das ist für sich genommen gewiss kein Schaden. Im Gegenteil: Der mündige Bürger soll nachfragen, auch kritisch, und nicht einfach hinnehmen, was ihm vom Staat und seinen Repräsentanten vorgesetzt wird. Als Richter sind wir ohnehin kritische Reaktionen gewohnt. Wir betreiben ja ein Geschäft der zwangsläufigen Enttäuschungen; was dem einen gegeben wird, wird dem anderen genommen.

Allerdings glauben wir feststellen zu können, dass heute im Gerichtssaal erbitterter gestritten wird, Entscheidungen seltener akzeptiert werden und das Vertrauen in die Institution Justiz, wenn auch auf immer noch hohem Niveau, zu bröckeln beginnt. Dieses Schicksal teilen wir mit vielen anderen Institutionen. Ich komme gleich darauf zurück. Stärkeres Selbstbewusstsein des Einzelnen, kritische Distanz zu Institutionen, aber auch eine wachsende Individualisierung von Standpunkten leiten mich zu dem Thema, das mich bewegt und über das ich heute sprechen möchte: Was eigentlich ist heute noch das Verbindende und Verbindliche in unserer Gesellschaft und Bürgergemeinschaft? Um es mit den Worten von Faust zu sagen: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“[4] Ich will die Frage in drei Stufen behandeln. Im ersten Schritt will ich darlegen, dass wir bei der Frage nach den Verbindlichkeiten in der Gesellschaft anders als früher auf die Bindungskraft klassischer Trägerinstitutionen nicht mehr vertrauen können. Zweitens will ich mich auf die Suche nach dem Grundstoff für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, nach dem „Kitt“ unserer Bürgergemeinschaft machen und begründen, warum es unsere Verfassung ist, die sich dafür am besten eignet. Drittens schließlich will ich ausführen, was wir als Bürger zur Stärkung des Zusammenhalts beitragen können und müssen.

Die Bindung der Menschen an traditionsreiche Institutionen und wohl auch das Vertrauen auf sie ist in jüngerer Zeit spürbar schwächer geworden.

  • Die meisten etablierten politischen Parteien verlieren seit vielen Jahren Mitglieder. Die früher so genannten „Volksparteien“ können zudem immer weniger auf eine feste Stammwählerschaft zählen. Das Beispiel des Strohfeuers der „Piratenpartei“, die beinahe aus dem Nichts erst enorme Wahlerfolge erzielt und dann bei den jüngsten Wahlen fast keine Rolle mehr gespielt hat, zeigt in meinen Augen, dass es zwar durchaus viele – gerade auch junge – Menschen gibt, die bereit sind, sich zu engagieren. Sie tun dies aber eher in einer Art temporärem, themenbezogenem Projekt und nicht durch langfristige Bindung an eine Partei mit all der mühsamen Konsensfindung und Alltagsarbeit.
  • Auch die Kirchen – seit vielen Jahrhunderten Institutionen mit einer breiten Bindungswirkung – verzeichnen einen enormen Mitgliederschwund. In meinem Geburtsjahr 1955 waren fast 97 % der Menschen in Deutschland katholisch oder evangelisch. Heute liegt dieser Anteil um die 54 % und angesichts der aktuell nochmals gestiegenen Zahlen der Kirchenaustritte ist absehbar, dass in drei oder vier Jahren nicht einmal mehr die Hälfte der Deutschen einer christlichen Kirche angehört. Für den Verlust an Bindungskraft wohl noch symptomatischer ist, dass von den Katholiken nur noch 10 %, von den evangelischen Christen nur noch 3 % regelmäßig in die Kirche gehen.
  • Als Angehörige der Justiz haben uns vor kurzem Berichte erschreckt, wonach nur noch 39 % der Ostdeutschen und 56 % der Westdeutschen überzeugt sind, dass die deutschen Gerichte unabhängig urteilen.[5]
  • Organisationen wie Freiwillige Feuerwehren, Rotes Kreuz und Johanniter werden von Nachwuchssorgen geplagt, weil junge Leute sich ungern binden und festlegen.
  • Europäisierung und internationale Verknüpfungen lassen die Bedeutung nationaler Bezugssysteme Häufige Berufs- und Wohnortwechsel gehören in einer globalisierten Welt schon fast zum Pflichtprogramm. An die Stelle der Verbundenheit mit einer bestimmten Gruppe, einem Ort oder einer Institution tritt freiwillige oder von den Umständen erzwungene Flexibilität. Die unter einem Dach zusammenlebende klassische Großfamilie ist heute eher die Ausnahme als die Regel.

Verstärkt wird das Ganze durch antisolidarische Affekte, die sich nicht zuletzt in der Verrohung von Sprache und Kommunikation äußern. Der Lyriker und Essayist Durs Grünbein hat das kürzlich[6] am Beispiel des Begriffs „Gutmensch“ veranschaulicht, der zum beliebten Schmähwort der Neuen Rechten geworden sei und alles diskreditiere, was auch nur einen Millimeter vom durchschnittlichen Egoismus der Mehrheitsgesellschaft abweiche. Grünbein spricht von der politisch sanktionierten Gleichgültigkeit, der nationalistisch veredelten Herzenskälte, bei der jede Regung von Empathie und Nächstenliebe unter Verdacht gestellt wird.

Angesichts dieses Befundes ist es wenig erstaunlich, dass Menschen verunsichert sind. Wo die Bindungskraft von Institutionen fehlt, kann das Gefühl von Entwurzelung und von „innerer Obdachlosigkeit“ zunehmen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Jenseits aller aktuellen Krisen und Konflikte ist es diese Erosion von vermeintlich unauflöslichen Werten, der Verlust von Gemeinsamkeiten und scheinbar stabilen Milieus, die Auflösung von Bindungen, die mich beschäftigt und beunruhigt, weil damit der Fortbestand unserer Gesellschaft als einer sozialen Gemeinschaft im Kern betroffen ist.

Was aber hat dann überhaupt noch die Kraft, die Menschen in einem pluralistischen Staat und einer heterogenen Gesellschaft wie unserer zusammenzuhalten; was ist das oder zumindest ein Element, das die in Deutschland und speziell in Bayern lebenden Menschen verbindet?

Yuval Noah Harari vertritt in seinen Beststellern „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ die Auffassung, dass unsere Spezies sich im Lauf der Evolution vor allem deshalb erfolgreich durchgesetzt hat, weil Menschen in der Lage sind, mit Leidenschaft Geschichten zu entwickeln, welche nicht nur ein paar Dutzend Individuen verbinden, sondern Millionen von Menschen begeistern können. Jede großangelegte menschliche Unternehmung, sei es der Bau einer antiken Stadt, einer mittelalterlichen Kathedrale oder auch eines modernen Staates beruhe letztlich auf der Fähigkeit des Menschen, sich hinter einer gemeinsamen „Erzählung“ im Sinn einer großen Idee zu versammeln und auf dieser Grundlage zusammenzuwirken.

Wenn die Bedeutung von traditionellen Institutionen und bestimmten traditionellen „Erzählungen“ abnimmt, gewinnt für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und damit letztlich auch für ihren Erfolg die rechtliche Grundordnung dieser Gesellschaft, also die Verfassung eine immer größere Bedeutung. Eine Verfassung kann das Band sein, das eine gemeinschaftsgebundene Identität von Bürgern eines Staates begründet oder erhält und die Grundordnung für das Zusammenleben im Staatsverband bildet. Verfassungen haben eine ideelle und eine normative Dimension. Sie sind einerseits ein Stück ideeller Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, Ergebnis und Ausdruck der Erfahrungen, Einsichten, Überzeugungen und Erwartungen der Bürger eines Landes, ein Destillat aus Kulturerfahrungen ebenso wie Verständigung auf verantwortliche Zukunftsgestaltung. Wenn ich etwas zögere, diese Selbstvergewisserung als Leitkultur zu bezeichnen, dann hat das mit der Sorge zu tun, einen zu statischen Eindruck von Verfassungen zu vermitteln. Natürlich gibt es fundamentale Werte und Orientierungen, die eine Art Grundmatrix bilden: Freiheit gehört dazu, Gleichheit aller Menschen, Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen und Meinungen, Achtung der Menschenwürde oder Gewaltlosigkeit. Damit diese Werte ihre Kraft entfalten können, müssen sie jedoch in die tatsächliche Lebenswelt der Menschen eingepasst werden, und dann eben auch veränderten gesellschaftlichen Grundüberzeugungen und Leitbildern Rechnung tragen. In dem Maße, in dem sich gesellschaftliche Grundüberzeugungen weiter entwickeln, muss auch die verfasste Grundlage des Zusammenlebens in der Gesellschaft fortgeschrieben werden. Um es am Grundwert der Freiheit zu demonstrieren: In der amerikanischen Verfassung standen Freiheitsrechte des Einzelnen im Zentrum – allerdings anfangs eben nicht für alle, weil beispielsweise Sklaven ausgeschlossen waren; erst der 13. Zusatzartikel[7] der amerikanischen Verfassung schaffte 1865 die Sklaverei ab. Deutlich weniger spektakulär, aber zu ihrer Zeit durchaus große politische Themen waren beispielsweise 1968[8] die Ablösung der Konfessionsschulen durch die christliche Gemeinschaftsschule in der bayerischen Verfassung oder 1956[9] im Grundgesetz die Einführung der Wehrpflicht.

Zweitens haben Verfassungen auch eine normative Dimension, mit Hilfe derer sie nicht lediglich gesellschaftliche Orientierung geben und Leitbilder postulieren sondern Grundfreiheiten des Einzelnen notfalls auch gegen Anschauungen der Mehrheit sichern sowie ordnende Strukturen und verbindliche Regeln für Staat und Gesellschaft bestimmen. Damit meine ich hier nicht die Details einer Verfassung, also Regelungen darüber, wie viele Mitglieder die Regierung hat, ob die Legislaturperiode des Parlaments vier oder fünf Jahre dauert oder ob die Amtszeit des Ministerpräsidenten begrenzt ist. Ich meine damit die der Verfassung zugrunde liegenden großen Elemente der Verfassungs-„Erzählung“, hinter der sich die Menschen – jedenfalls mehrheitlich – versammeln und für die sie sich im Idealfall sogar begeistern können.

Was aber ist nun der Inhalt dieser „Erzählung“ der Bayerischen Verfassung? Welche grundlegenden Wertentscheidungen machen den Kern der Verfassungs-„Erzählung“ aus? Natürlich ist nicht jeder Artikel, nicht jedes Wort der Verfassung von gleicher Bedeutung. Es gibt jedoch einige Elemente, die man guten Gewissens als tragende Säulen, als Grundpfeiler unserer Verfassungsgemeinschaft bezeichnen könnte. Elemente, ohne die die Verfassungs-„Erzählung“ – und damit unsere Gesellschaft – anders aussehen würde, als es gegenwärtig der Fall ist.

Ich möchte im Folgenden gerne fünf solche Elemente näher beleuchten.

 

(III. Elemente der Bayerischen Verfassung)

(1. Geschichtlicher Kontext der Entstehung der Bayerischen Verfassung)

Erstes Element und sozusagen die Ouvertüre der „Erzählung“ ist nach meiner Überzeugung der Umstand, dass die heutige Bayerische Verfassung entstanden ist als Reaktion auf eine vorangehende menschenverachtende Barbarei und ein nach innen und außen aggressives totalitäres System.

Sebastian Haffner hat sich in den 1980-er Jahren über den erstaunlichen Erfolg des Grundgesetzes Gedanken gemacht. Er konstatierte damals, dass das Grundgesetz unter anderem „Glück gehabt“ habe, „in den Voraussetzungen seiner Entstehung“[10]. Natürlich könne niemand behaupten, dass die Deutschen 1948/1949 glücklich gewesen seien. Sie seien „so unglücklich [gewesen], wie man nur sein“ könne. Aber gerade das tiefste Unglück könne für einen Neubeginn die glücklichste Voraussetzung sein.

Ich meine, dass das in gleicher Weise im Hinblick auf die Bayerische Verfassung gilt, deren Entstehung zeitlich ja sogar noch etwas näher an den Gründen des Unglücks liegt, als dies beim Grundgesetz der Fall ist. Für die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung war, als sie diese entwarfen, das gewaltige Unrecht, welches in Deutschland bis 1945 begangen wurde, im Bewusstsein noch sehr präsent. Wilhelm Hoegner, der Vielen als „der Vater der Verfassung“ gilt, hatte selbst vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen müssen und seinen Vorentwurf der Bayerischen Verfassung im Exil erarbeitet – für mich bis heute nicht nur eine große juristische Leistung, sondern auch ein bemerkenswerter Beweis für Optimismus und Hoffnung darauf, dass in Bayern in näherer Zukunft wieder Verhältnisse herrschen könnten, in denen eine solche Verfassung gefragt sein würde.

Mit kraftvoller Sprache wird zu Beginn der Bayerischen Verfassung hingewiesen auf das „Trümmerfeld[…], zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen […] geführt hat“ und der Entschluss bekundet, künftig „die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts“ zu sichern.

Zu erkennen und nicht zu vergessen, was in Deutschland und Bayern während der Herrschaft der Nationalsozialisten geschehen ist, ist ein wesentliches Element, das der gemeinsamen „Erzählung“ der in Bayern lebenden Menschen zugrunde liegt. Jemand, der diese Vergangenheit leugnet oder relativiert und sich dabei „Patriot“ nennt, ist jedenfalls kein „Verfassungspatriot“.

Wenn ein Mitglied des Bundestages anmerkt, Hitler und die Nazis seien nur ein „Vogelschiss“ in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte[11], dann ist das in vielerlei Hinsicht problematisch. Unter anderem verkennt es, dass unsere heutigen Verfassungen – insbesondere das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung – sowohl in ihrem Grundansatz als auch in ihrer konkreten Ausformung gerade Antworten auf Hitler und den Nationalsozialismus sind. Natürlich gab es auch vor 1933 bayerische Verfassungen und Vieles in der Bayerischen Verfassung von heute war in Ansätzen auch dort schon angelegt. Aber erst das „Trümmerfeld“ am Ende der Naziherrschaft hat zu der konkreten Verfassung geführt, die Bayern 1946 bekommen und bis heute hat. Das in der Verfassung erwähnte „Trümmerfeld“ ist daher keine Marginalie, sondern wesentlicher Bestandteil der gemeinsamen „Erzählung“ der Gesellschaft in Bayern.

Die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung haben – trotz der noch sehr frischen Eindrücke der Naziherrschaft – in ihren Überlegungen die Geschichte übrigens keineswegs auf diese Phase reduziert. In der Präambel wird ausdrücklich davon gesprochen, dass sich „das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte“ die nachfolgende demokratische Verfassung gebe. Doch dass die Zeit des Nationalsozialismus, die Zeit eines Unrechtsregimes, die Zeit der Missachtung wesentlicher Rechte unzähliger Menschen bis hin zu ihrer systematischen Tötung nicht lediglich als eine von mehreren historischen Episoden betrachtet worden ist, liegt auf der Hand. Es war – als plakatives Negativbeispiel – vielmehr das Leitmotiv derjenigen, die die Verfassung geschrieben haben, auf deren Grundlage die Menschen in Bayern seit über 70 Jahren leben.

 (2. Rechtsstaatsprinzip)

Ein zweites tragendes Element der Verfassungs-„Erzählung“ ist in meinen Augen das Rechtsstaatsprinzip.

Ich kann und will an dieser Stelle nicht auf alle Aspekte dieses Prinzips eingehen. Nicht zuletzt Vorkommnisse aus den letzten Jahren veranlassen mich aber, zumindest zwei Ausprägungen kurz anzusprechen, nämlich die Gewaltenteilung und das Gewaltmonopol des Staates.

(a. Gewaltenteilung)

Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist ganz ohne Frage ein unverzichtbares Element der gemeinsamen Verfassungs-„Erzählung“.

Dass die Staatsgewalt grundsätzlich auf drei Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – aufgeteilt ist, ist als abstraktes Grundprinzip für Viele inzwischen so selbstverständlich, dass man sich fast scheut, es zu erwähnen. Dass ich es dennoch tue, liegt daran, dass die Gewaltenteilung – jedenfalls in einer wirksamen Ausprägung – selbst in modernen Industriestaaten alles andere als ungefährdet ist.

Im Ausland lassen sich leicht Belege hierfür finden.

Sie kennen den Tweet des amerikanischen Präsidenten im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesrichters James Robart zum vorläufigen Stopp des Einreiseverbots für Bürger aus bestimmten Ländern: er sprach von der „opinion of this so-called judge”, also der Meinung eines „sogenannten Richters“. Im November 2017 bezeichnete der Präsident das Justizsystem in den USA im Zusammenhang mit dem Umgang mit Terrorverdächtigen zudem als „Witz“ und „Lachnummer“.

Über die Türkei wurde berichtet[12], dass nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 nahezu ein Viertel aller Richter und Staatsanwälte, mehr als 4.000 Menschen, ihres Amtes enthoben oder verhaftet worden seien. Ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren ist in vielen Fällen jedenfalls von außen nicht erkennbar gewesen.

In Polen und Ungarn gab es in den letzten Jahren „Reformen“, die eine zunehmende und substanzielle Schwächung der dritten Gewalt zum Gegenstand hatten. Allein der Umstand, dass sich die Europäische Union erstmals in ihrer Geschichte gezwungen sah, sogenannte Rechtsstaatsverfahren[13] einzuleiten – und dann innerhalb kurzer Zeit gleich gegen zwei Mitgliedsstaaten – zeigt die Dramatik der Situation.

Auch gegenüber Rumänien kritisierte die Europäische Kommission zuletzt immer wieder den wachsenden Druck auf die unabhängige Justiz[14].

Die Verfechter dieser sogenannten Reformen sprechen von einer antiliberalen Demokratie[15] und suggerieren damit, dass sie lediglich bestimmte liberale Politikentscheidungen anderer Staaten wie die zur gleichgeschlechtlichen Ehe oder zum Thema Zuwanderung ablehnen; dies entspreche auch dem Willen der Mehrheit im Volk. Schließlich regiere die Mehrheit über die Minderheit; die Minderheit habe sich in das zu fügen, was die Mehrheit wolle. Notwendig sei daher eine starke Regierung, die den Mehrheits- oder vermeintlichen Volkswillen gegen eine liberale Elite durchsetzt.

Gegen solche politischen Grundentscheidungen der genannten Staaten wäre für sich genommen verfassungsrechtlich nichts einzuwenden, jedenfalls solange Grundrechte Betroffener nicht verletzt werden. In Wahrheit ist Teil ihrer Politik jedoch zugleich ein Abbau unverzichtbarer demokratischer Grundprinzipien wie eben der Gewaltenteilung. Denn um dem Mehrheitswillen ausreichend Geltung zu verschaffen, ist es aus Sicht der jeweiligen Regierungen notwendig, Befugnisse der Justiz zu beschneiden und die Kontrolle über die Gerichte zu verstärken, unter anderem durch politischen Einfluss auf die Richterernennung, die Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen und Maßnahmen der Exekutive und die nachträgliche Aufhebung von Gerichtsentscheidungen[16]. Eine Demokratie, die Gewaltenteilung ernst nimmt, misstraut aber gerade nicht ihren eigenen Bürger und der Opposition, sondern erleichtert es ihnen vielmehr, ihre Rechte vor unabhängigen Gerichten durchzusetzen.

Aber ich möchte nicht allein auf das Ausland verweisen. Ich erinnere nur an die zumindest missverständliche Äußerung eines Politikers in Deutschland, die nach meiner Einschätzung an den Grundfesten des Rechtsstaatsprinzips rüttelte. Im sogenannten „Fall Sami A.“ hatte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eine Abschiebung untersagt. Trotzdem fand sie statt. Unabhängig davon, wie das Vorgehen der Behörden als solches in dem konkreten Fall im Einzelnen zu beurteilen ist; völlig inakzeptabel war jedenfalls die anschließende Äußerung eines Politikers, Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprächen.

Davon abgesehen, dass auch unerwünschte Gerichtsentscheidungen selbstverständlich umgesetzt werden müssen, verkennt dieser Satz vollkommen, woran Richter in unserem Rechtsstaat gebunden sind, nämlich an Recht und Gesetz und nicht an ein – wie auch immer festzustellendes – Rechtsempfinden der Bevölkerung. Auch wenn es heutzutage „in“ ist, Entscheidungen in Fernsehshows mittels Publikumsabstimmung treffen zu lassen; auch wenn es zu allen möglichen Themen Umfragen von Demoskopen gibt; auch wenn die Medien bei streitigen Fragen häufig soziale Netzwerke wie Facebook nach Usermeinungen durchforschen und diese dann als „Stimme des Volkes“ wiedergeben: bei gerichtlichen Entscheidungen geht es nicht um Stimmungen, nicht um tatsächliche oder vermeintliche Mehrheitsmeinungen und schon gar nicht um ein diffuses allgemeines „Rechtsempfinden“. Es geht um Recht und Gesetz, woran jeder Richter gebunden ist. Ob die gerichtliche Entscheidung im Einzelfall richtig ist, kann allein in dem dafür vorgesehenen Instanzenweg von dem dafür zuständigen Rechtsmittelgericht – oder in begrenztem Maß auch von einem Verfassungsgericht – überprüft werden.

Immerhin hat der Politiker seine Äußerung nachträglich bedauert. Lediglich am Rande will ich darauf hinweisen, dass das Missachten eines Gesetzes durch ein Gericht wegen eines angeblichen entgegenstehenden Rechtsempfindens der Bevölkerung nicht nur rechtsstaatswidrig wäre. Es wäre auch eine enorme Respektlosigkeit gegenüber dem von der Bevölkerung gewählten Parlament, das die Gesetze erlassen hat, an die die Gerichte gebunden sind, und damit letztlich auch eine Respektlosigkeit gegenüber der Bevölkerung.

Dass Entscheidungen der Legislative im Rahmen der Gewaltenteilung für die anderen Staatsgewalten manchmal unangenehm und „lästig“ sind, liegt in der Natur der Sache. Als Napoleon Bonaparte für seine geplante Ernennung zum Konsul auf Lebenszeit die Verfassung ändern ließ, bemerkte er: „Eine Verfassung muss so gemacht sein, dass sie die Handlung der Regierung nicht stört und sie nicht zwingt, sie zu verletzen“[17] – Zitat Ende. Nun muss man auch einem Napoleon (und seinen Nachfolgern im Geiste) entgegenhalten: Zweck der Gewaltenteilung in der Verfassung ist es gerade, die Handlung der Regierung zu „stören“, wenn diese z. B. unzulässig in Rechte der Bürger eingreift. Die „Störung“ ist also gewollt und notwendig.

 (b. Gewaltmonopol des Staates)

Ein anderer ganz wesentlicher Aspekt des Rechtsstaats und damit der Verfassungs-„Erzählung“ ist das Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates, also zu der Festlegung, dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt von den in der Verfassung bestimmten Staatsorganen ausgeübt wird. Das gewählte Parlament verabschiedet Gesetze, an die sich Behörden und Bürger zu halten haben. Niemand steht über dem Gesetz. Unabhängige Gerichte treffen Entscheidungen, an die die Betroffenen gebunden sind und die gegebenenfalls durchgesetzt werden.

Natürlich gibt es Fälle, in denen – auch von Staatsorganen – gegen Gesetze oder die Verfassung verstoßen wird, und immer wieder werden im konkreten Einzelfall unterschiedliche Auffassungen bestehen, ob eine Handlung rechtmäßig ist oder nicht. Wenn aber Staatsverweigerer oder Staatsleugner wie die sogenannten Reichsbürger die grundsätzliche Legitimation des Staates und seiner Organe nicht anerkennen, dann stellen sie sich damit nicht nur gegen den Staat und die für ihn handelnden Personen wie unsere Polizeibeamten und Gerichtsvollzieher. Sie stellen sich damit vielmehr auch außerhalb der durch die Verfassung verbundenen Gesellschaft, weshalb nicht nur der Staat kraftvoll und souverän darauf reagieren muss, sondern auch die Zivilgesellschaft aufgerufen ist, dem entgegenzutreten.

In eine andere Kategorie fällt der Fall, über den im Juni 2018 in den Medien berichtet worden war[18]. Der Fernsehsender RTL hatte einen Beitrag gezeigt, in welchem sich anscheinend ein erwachsener Mann mit einem 13-jährigen Mädchen verabreden wollte. Der Mann war lediglich verpixelt zu sehen. Im Anschluss an die Sendung wurde ein 50-jähriger Mann, der dem verpixelt Gezeigten ähnelte, von bis zu zehn Männern zusammengeschlagen. Zeitweise schwebte er in Lebensgefahr. Ein klassischer Fall von unerträglicher Selbstjustiz, in dem Menschen nicht nur buchstäblich einen anderen Menschen, sondern im übertragenen Sinn auch das Gewaltmonopol des Staates mit Füßen treten; ohne rechtsstaatliche Ermittlungen, ohne Anklage, ohne faires Verfahren, ohne unabhängige gesetzliche Richter. Selbst wenn der Mann eines Vergehens schuldig gewesen wäre, wäre ein solches Vorgehen vollkommen inakzeptabel und widerspräche den Grundfesten unserer Verfassungs-„Erzählung“. Die Pointe der Geschichte sei deshalb nur am Rande erwähnt: dass nämlich weder der angegriffene Mann noch der von RTL verpixelt gezeigte Mann irgendetwas mit der Verabredung mit dem Mädchen zu tun hatte.

Auch wenn Organisationen explizit oder unterschwellig Gewalt gegen Schwächere initiieren oder auch nur befürworten, ist das Gewaltmonopol des Staates betroffen. In seiner Entscheidung zum sogenannten NPD-Verbotsverfahren hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass die Anwendung von Gewalt durch Anhänger einer Partei zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele dafür sprechen könne, dass die Partei das im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Gewaltmonopol des Staates nicht anerkenne und insoweit auf eine Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtete Ziele verfolge.

Wenn Parteien oder Einzelpersonen den Eindruck erwecken, dass Gewalt – zum Beispiel gegen Flüchtlinge – akzeptabel sei, dann ist das – und zwar völlig unabhängig von der Frage, ob die betroffenen Flüchtlinge letztlich einen Anspruch auf Asyl haben oder nicht – daher nicht nur ein Angriff auf die Flüchtlinge. Es ist vielmehr ein Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates und damit auf das Rechtsstaatsprinzip und unsere Verfassung. Wer solcher Gewalt – natürlich gewaltlos – entgegentritt, erfüllt nicht nur ein Gebot der Humanität. Er verteidigt auch den Rechtsstaat und die Verfassungsgemeinschaft.

Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn Ausländer einer Straftat verdächtigt werden. Insofern ist es sehr zu begrüßen, wenn beispielsweise der Bundespräsident bei einem Gespräch mit Bürgern aus Chemnitz einerseits darauf hinweist, dass die dort zuvor verübte Messerattacke zwar erschütternd sei und diese schwere Straftat geahndet werden müsse; er jedoch dann unmissverständlich anfügt – ich zitiere: „Aber eins ist klar: Der Staat, und nur der Staat, ist für Sicherheit und Strafverfolgung zuständig![19]

Es schadet nicht, sich immer wieder einmal klar zu machen, welch unschätzbarer Gewinn an Freiheit und Sicherheit es ist, wenn im Konfliktfall nicht einfach das Recht des körperlich oder wirtschaftlich oder politisch Stärkeren zählt sondern unabhängige Gerichte nach Recht und Gesetz entscheiden.

(3. Menschenwürde/Grundrechte)

(a. Allgemeines zur Menschenwürde)

Zu der gemeinsamen „Grundidee“ der Bayerischen Verfassung – und damit komme ich zum dritten wesentlichen Element – gehört die Verständigung auf bestimmte elementare Grundwerte, die Grundrechte. Insbesondere ist unsere moderne Verfassungsgemeinschaft in Bayern und in Deutschland nicht denkbar ohne die gemeinsame Verpflichtung auf die Menschenwürde.

Jede „Erzählung“ braucht eine Hauptperson, braucht jemanden, der im Mittelpunkt steht. Für die Bayerische Verfassung ist diese Hauptperson – der Mensch. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Andere „Erzählungen“ haben andere Protagonisten, z. B. die gesellschaftlichen Klassen oder die „unsichtbare Hand“ des freien Marktes. Verfassungen beschäftigen sich häufig mit Institutionen, insbesondere dem Staatsoberhaupt, dem Parlament, der Gerichtsbarkeit und ähnlichem; außerdem mit Zuständigkeiten und Verfahrensregeln, also organisatorischen Fragen. Doch die Bayerische Verfassung lässt keinen Zweifel daran, um wen sich all diese Regelungen letztlich drehen, nämlich um den Menschen, um das Individuum.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wie das in diesem Punkt wortgleiche Grundgesetz ist die Bayerische Verfassung mit ihrer Betonung der Würde jedes einzelnen Menschen eine deutliche Absage an die „Du bist nichts, dein Volk ist alles“-Ideologie des Dritten Reiches.

Sie ist Ausdruck des Selbstwerts des Einzelnen, des Individuums. Daran sollten wir uns auch erinnern, wenn wir, wie in den letzten Jahren verstärkt, über sogenannte „Flüchtlingsströme“ oder über die sogenannte „Flüchtlingskrise“ sprechen. – Wenn wir über Zahlen wie „200.000“ oder „1 Million“ sprechen. – Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, wie die diesbezüglichen Herausforderungen politisch, juristisch und gesellschaftlich zu lösen sind. Doch sollten wir bei allen Problemen und Diskussionen nicht leichtfertig darüber hinweggehen, dass hinter den abstrakten Flüchtlingszahlen Menschen stehen, Individuen mit einer Geschichte und einer Menschenwürde, die auch dann Achtung und Respekt verdient, wenn Wünsche und Hoffnungen auf ein Leben in Deutschland im Einzelfall nicht erfüllt werden können. Man konnte in Deutschland in den letzten Jahren gut beobachten, wie sich die öffentliche Stimmung zum Umgang mit der Flüchtlingsfrage immer dann veränderte, wenn in den Medien nicht über abstrakte Zahlen, sondern über konkrete Menschen berichtet wurde. Ich erinnere an die Begegnung von Bundeskanzlerin Merkel bei einem Bürgerdialog mit der weinenden 14-jährigen Reem Sahwil oder an die Bilder des drei Jahre alten Aylan Kurdi, der tot an den Strand gespült wurde. Für kurze Zeit war der Begriff „Flüchtling“ kein abstrakter Begriff mehr, kein politisches Schlagwort, keine Zahl. Vielmehr war ein „Flüchtling“ ein Mensch mit einem Gesicht, mit Hoffnungen und Gefühlen; in erster Linie ein Mensch, zu dessen Geschichte es gehört, dass er aus seiner Heimat geflohen ist, aber der eben viel mehr ist, als ausschließlich ein Geflüchteter. Die Würde des Menschen gehört zum Individuum und nicht zu abstrakten Gruppen.

Der Psychologe Richard Nisbett[20] hat das an einem Beispiel illustriert, nämlich an der Frage, wie viel Prozent der US-Amerikaner für die Todesstrafe seien. Seine Antwort – Zitat: „Rein theoretisch die Mehrheit. In Bezug auf jeden Einzelfall eine Minderheit. Je mehr Details wir zu dem Verbrechen, dem Täter und den Umständen präsentieren, desto seltener befürworten die Befragten die Hinrichtung des Täters“ und zwar „selbst [dann], wenn diese Informationen überwiegend negativer Art sind“.

Die Betonung der Menschenwürde in der Verfassung ist im Übrigen auch eine Absage an einen ungezügelten „Raubtierkapitalismus“, der Menschen nur noch als Verfügungsmasse oder als Kostenfaktor beurteilt. In seiner “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” unterscheidet Immanuel Kant zwischen dem, was einen Preis, und dem, was eine Würde hat. Ich zitiere: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“[21]

Natürlich lässt sich im Einzelfall häufig darüber streiten, ob eine bestimmte Handlung gegen die Garantie der Menschenwürde verstößt oder nicht.

Eher fragwürdig erschien im letzten Jahr der Hinweis von Karl-Heinz Rummenigge, dass die kritische Berichterstattung über Spieler des FC Bayern gegen die Menschenwürde verstoße. Es ist zwar erfreulich, wenn der Grundsatz der Würde des Menschen immer wieder ins öffentliche Bewusstsein gerufen wird. Doch sollte man die Menschenwürde auch nicht vorschnell ins Feld führen. Das entwertet sie eher, als dass es ihr zur Geltung verhilft.

Wie gesagt: es lässt sich oft darüber streiten, ob eine bestimmte Handlung gegen die Garantie der Menschenwürde verstößt oder nicht. Doch wer die Menschenwürde an sich nicht als einen der prägenden Grundwerte des Zusammenlebens anerkennt, stellt sich nicht nur außerhalb der Rechtsordnung, sondern auch außerhalb der durch die Verfassung verbundenen Gemeinschaft. Religiös oder politisch motivierter extremistischer Terror unterscheidet sich von sonstiger Kriminalität oft nicht zuletzt dadurch, dass der Terror gerade die Menschenwürde, den Eigenwert der individuellen Existenz, in Frage stellt. Es geht ihm nicht in erster Linie um einen Angriff auf eine bestimmte Person, sondern um einen Angriff auf die Grundwerte der Gemeinschaft. Menschliche Opfer sind nur Mittel zum Zweck.

(b. Menschenwürde steht jedem Menschen zu)

Dass dem Menschen, und zwar jedem Menschen, ein Anspruch auf Achtung seiner Würde zukommt, wird als grundsätzliche Regel von der breiten Mehrheit akzeptiert. Gleichwohl gibt es immer wieder konkrete Einzelfälle, in denen dies plötzlich in Frage gestellt wird. Das sind dann gerade die Situationen, in denen sich unsere Achtung vor der Menschenwürde bewähren muss. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die zu ihrer Zeit jeweils kontrovers diskutiert wurden:

Im Jahr 1992 hatte ein Berliner Gericht es abgelehnt, den damals bestehenden Haftbefehl gegen Erich Honecker aufzuheben. Daraufhin entschied der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, dass diese Entscheidung gegen den Grundsatz der Menschenwürde verstoße. Das Ausgangsgericht war zwar davon ausgegangen, dass Honecker aufgrund seiner weit fortgeschrittenen Krebserkrankung den Abschluss des Verfahrens vor der Strafkammer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werde, sah sich aber dennoch gehindert, den Haftbefehl gegen ihn aufzuheben. Der Berliner Verfassungsgerichtshof teilte die Auffassung nicht und wies in der Entscheidung insbesondere darauf hin, dass der Grundsatz der Menschenwürde auch für jemanden gelte, der sich selbst – ich zitiere: „in schwerer und unerträglicher Weise gegen alles vergangen hat, was die Wertordnung der Verfassung unter ihren Schutz stellt“[22].

Die Entscheidung stieß damals auf viel Kritik. Auf die Einzelheiten will ich heute nicht eingehen. Aber soweit sich die Empörung daran entzündete, dass sich auch jemand auf die Menschenwürde berufen könne, der diese selbst nicht geachtet habe, war die Kritik jedenfalls unbegründet. Wenn man das Prinzip der Menschenwürde, das dem Grundgesetz und der Bayerischen Verfassung zugrunde liegt, akzeptiert, dann gilt sie für jeden Menschen, auch für einen – mutmaßlichen oder tatsächlichen – Straftäter.

Emotional vielleicht noch schwerer zu akzeptieren war das für Viele im sogenannten Fall „Gäfgen“. Zur Erinnerung: Der Student Gäfgen hatte den elfjährigen Bankierssohn Jakob entführt, um ein Lösegeld zu erpressen. Die Polizei verhaftete ihn bei der Lösegeldübergabe und bemühte sich intensiv darum, herauszufinden, wo der entführte Junge gefangen gehalten wurde. Dass das Kind bereits tot war, wussten die Beamten nicht. In dieser Situation verfügte der Polizeivizepräsident folgendes – Zitat: „Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, dass [der Verdächtige] nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen ist.“[23] Aus Angst vor den angedrohten Maßnahmen machte der Verdächtige daraufhin Angaben, die zum Auffinden der Leiche führten. Später wurde er unter anderem wegen Mordes verurteilt.

Allerdings mussten sich auch die Polizeibeamten wegen ihres nötigenden Verhaltens gegenüber dem Verdächtigen vor Gericht verantworten. Ausgehend davon, dass die Androhung von Schmerzen, also letztlich Folter, gegen die Menschenwürde verstößt, musste das Landgericht Frankfurt a. M. insbesondere entscheiden, ob eine solche Verletzung der Menschenwürde aufgrund der besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt oder entschuldigt sein könnte. Das Gericht würdigte zwar die außergewöhnlich schwierige Lage der Beamten, stellte aber fest, dass die Menschenwürde des Verdächtigen selbst in dieser Extremsituation nicht angetastet werden dürfe. Im Ergebnis sprach das Gericht eine Verwarnung mit Strafvorbehalt gegen die Polizisten aus, sodass sie letztlich zwar keine Geldstrafe bezahlen oder ins Gefängnis mussten, aber gleichwohl festgestellt war, dass sie sich strafbar gemacht hatten.

Das Urteil hat viele Diskussionen ausgelöst und emotional sträubt man sich – gerade als Vater, der natürlich mit dem Opfer und den Angehörigen fühlt –, das Verhalten der Beamten zu verurteilen. Und doch ist das Urteil in meinen Augen richtig. Der Staat und seine Vertreter haben, auch wenn es schwerfällt, die Menschenwürde auch derjenigen zu achten, die selbst die Menschenwürde anderer angreifen und verletzen. Dem Rechtsstaat darf eben nicht jedes Mittel recht sein.

(c. Andere Grundrechte)

Die Festlegung der Bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes auf eine unantastbare Menschenwürde ist eine ganz wesentliche Weichenstellung unserer Gesellschaftsordnung. So, wie Jesus im Markusevangelium feststellt: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat, gilt: Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen.

Dabei will ich darauf hinweisen, dass das den einzelnen Menschen nicht aus seiner Verantwortung für die Gemeinschaft entlässt. Gerade die Bayerische Verfassung gewährt dem Einzelnen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Der zweite Hauptteil der Verfassung ist ausdrücklich überschrieben mit „Grundrechte und Grundpflichten“. Art. 117 macht deutlich: „Der ungestörte Genuss der Freiheit für jedermann hängt davon ab, dass alle ihre Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen. Alle haben die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu befolgen, an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil zu nehmen und ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ Der bemerkenswerte Art. 166 sieht nicht nur das Recht vor, „sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen“, sondern bestimmt auch: Jedermann „hat das Recht und die Pflicht, eine seinen Anlagen und seiner Ausbildung entsprechende Arbeit im Dienste der Allgemeinheit nach näherer Bestimmung der Gesetze zu wählen.“

Doch solche Pflichten ändern nichts daran, dass das Recht der Menschen auf Achtung ihrer Würde das Zentrum der Verfassungs-„Erzählung“ ist. Auch andere Grundrechte, wie die jedermann zukommende Freiheit, innerhalb der Schranken der Gesetze und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet, oder die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sind Grundentscheidungen, die unverzichtbare Bindeglieder unserer Verfassungsgemeinschaft sind. Sie sind ebenfalls konstitutiver Teil der gemeinsamen „Erzählung“.

 (4. Rückbindung der Politik an das Volk durch plebiszitäre Elemente)

Die bisher genannten Grundelemente, auf denen unsere Verfassungsgemeinschaft ruht – die Lehren aus der Geschichte, das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde – gelten für das Grundgesetz wie für die Bayerische Verfassung gleichermaßen. Als viertes Grundelement will ich etwas nennen, das nur die Bayerische Verfassung kennt und sie auch gegenüber anderen Verfassungsordnungen heraushebt: Ich meine die plebiszitären Elemente der Bayerischen Verfassung. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes ist strikt repräsentativ ausgestaltet, sieht also – abgesehen von Abstimmungen bei einer Neugliederung des Bundesgebiets – keine unmittelbare Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung im Bund vor. Die Bayerische Verfassung begegnet – auf Landesebene – der unmittelbaren Demokratie dagegen mit weniger Misstrauen, sondern bringt ihr vielmehr eine hohe Wertschätzung entgegen. So stellt sie die Parlamentsgesetzgebung und die Volksgesetzgebung gleichwertig nebeneinander: „Die Gesetze werden“, so heißt es in Art. 72 Abs. 1, „vom Landtag oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen“. Der Eingang plebiszitärer Elemente in die Landesverfassung beruht übrigens nicht zuletzt darauf, dass der bereits erwähnte Wilhelm Hoegner seinen Verfassungsentwurf zum Teil im Exil in der Schweiz erarbeitete, einem Land also, das traditionell für unmittelbare Demokratie steht. In den Verfassungsberatungen nahm Hoegner ausdrücklich auf seine Schweizer Erfahrungen Bezug[24].

Warum zähle ich die Volksgesetzgebung zu den Elementen mit großer integrativer Kraft für die Gesellschaft? Ganz einfach: Weil sie das Potential hat, viele Bürger hinter einer Idee (man könnte auch sagen: einer Erzählung) zu versammeln und ihnen damit zugleich das Gefühl zu vermitteln, selbst unmittelbar gestaltend auf die Politik einzuwirken. Das ist nicht wenig in einer Zeit, die von Staatsverdrossenheit und Politikferne geprägt ist und bei vielen der Eindruck herrscht, „die da oben“ seien an dem, was die Bürger bewegt, ohnehin nicht interessiert. Welches Mobilisierungspotential in solchen plebiszitären Elementen stecken kann, haben wir gerade beim Volksbegehren zur Artenvielfalt erlebt, Mobilisierungspotential übrigens auch in Richtung der politischen Mandatsträger, die sich nach dem erfolgreichen Volksbegehren des Themas verstärkt annehmen.

Ein weiteres plakatives Beispiel für eine erfolgreiche Volksgesetzgebung ist das Volksbegehren mit anschließendem Volksentscheid zum Nichtraucherschutz. Es ist in meinen Augen im Übrigen auch ein gutes Beispiel dafür, dass durch ein plebiszitäres Element ein höchst strittiges und emotionalisiertes Thema einer letztlich weitgehend befriedenden Lösung zugeführt werden konnte.

Nur am Rande möchte ich erwähnen, dass die Koalition auf Bundesebene im Koalitionsvertrag angekündigt hat, eine Expertenkommission einzusetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie ergänzt werden kann. Und auch auf europäischer Ebene hat die Europäische Bürgerinitiative „Stop Glyphosat“ mit 1,3 Mio. Unterschriften erreicht, dass die Europäische Kommission mehr Transparenz für das Zulassungsverfahren von Pestiziden beschlossen hat[25]. Auch dies ist ein gutes Signal für die Chance von Bürgern, selbst auf der oft als besonders bürgerfern verrufenen europäischen Ebene ein größeres politisches Mitspracherecht zu erreichen.

(5. Umfassende Integration und Partizipation):

Als fünften und letzten Grund für die verbindende Kraft unserer Verfassung will ich nennen, dass sie in ihrer freiheitlichen Ausrichtung schon strukturell auf die Integration aller Bevölkerungsteile angelegt ist und auch Andersdenkende nicht aus der Gemeinschaft ausgrenzt, sondern ihnen jede Form der Partizipation ermöglicht.

(1. Verfassung richtet sich an viele)

Unsere Verfassung kann in meinen Augen gerade deshalb ein verbindendes Band darstellen, weil sie sich von vornherein an eine große Zahl von Menschen richtet. Sie grenzt in ihren wesentlichen Aussagen weder Frauen aus noch Männer, weder jung noch alt, weder religiöse Christen, Muslime oder Juden noch Angehörige anderer Glaubensrichtungen oder Atheisten, weder Inländer noch Ausländer.

Zwar gibt es in bestimmten Punkten Unterschiede. Beispielsweise ist natürlich nicht jede Person in Bayern wahlberechtigt. Doch kann jeder Mensch in Bayern die Achtung seiner Menschenwürde für sich beanspruchen und die rechtsstaatlichen Gewährleistungen gelten ebenso für jedermann. Deshalb ist die Verfassungs-„Erzählung“ meines Erachtens besonders gut geeignet, auch Menschen zusammenzubringen, die ansonsten unterschiedlichen Gruppierungen angehören, auch solchen, die sich untereinander kritisch gegenüberstehen.

(2. Verfassung ermöglicht auch Kritik)

Zum anderen bietet die Verfassung auch und gerade denjenigen Freiräume, die mit den gegenwärtigen Umständen unzufrieden sind. Denjenigen, die an der aktuellen Politik, den Parteien, den Parlamenten, den Regierenden, der Justiz, der Wirtschaft, dem gesellschaftlichen Wandel et cetera etwas auszusetzen haben, bietet die Verfassung einen weiten Spielraum, um dies zu artikulieren und auf Veränderungen hinzuwirken. Bürger sind nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Zwar bauen Grundgesetz und Bayerische Verfassung auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen; sie erzwingen die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind daher auch frei, den Staat und seine Institutionen in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.[26] Die plurale Demokratie vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik am System und der Verfassung auseinanderzusetzen und sie dadurch abzuwehren.

Deshalb schützen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und die Möglichkeiten der Volksbeteiligung gerade auch diejenigen, die unzufrieden sind und Kritik üben wollen. Es wäre daher in vielen Fällen geradezu widersinnig, wenn sich z. B. von der Tagespolitik Enttäuschte auch gleich von der Verfassung insgesamt abwenden würden, denn die Verfassung schließt die Kritischen und Enttäuschten nicht aus der Gemeinschaft aus, sondern gewährleistet Rechte, mit deren Hilfe auf Veränderung hingewirkt werden kann. Gerade auch diese Bürgerinnen und Bürger sind Teil der Verfassungs-„Erzählung“ und profitieren von der freiheitlichen Konzeption unserer Grundordnung. Vor allem auch sie sind also eingebunden und werden nicht ausgegrenzt.

Ich habe Ihnen nun beispielhaft einige Elemente genannt, die ich für unverzichtbar und tragend für die gemeinsame Verfassungs-„Erzählung“ und damit für unsere moderne Gesellschaft in Bayern halte. Elemente, auf denen unsere Verfassungsgemeinschaft ruht und die als gemeinsame Grundlage zum „Kitt“ unserer Gesellschaft gehören.

Natürlich ist diese Aufzählung nicht vollständig. Auch das Demokratieprinzip, das Sozialstaatsprinzip, oder auch die Eigenstaatlichkeit Bayerns, eingebunden in den größeren Rahmen der Bundesrepublik und der Europäischen Union sind ebenfalls wesentliche Elemente mit großer integrierender Kraft für unsere Gesellschaft. Betrachten Sie meine Auswahl daher bitte keinesfalls als abschließend.

(IV. Eigenes Handeln)

Was können wir nun selbst tun, um der Verfassung als verbindendes Element Geltung zu verschaffen? Zwei Dinge scheinen mir besonders wichtig.

Vor allem müssen wir denjenigen, die unsere Verfassungs- und Rechtsordnung und die dort verankerten Institutionen ablehnen, selbstbewusst entgegentreten und keinen Zweifel an unserem unbedingten Willen lassen, die Demokratie zu verteidigen. Dazu gehört, immer wieder auch öffentlich zu sagen, welchen konkreten Nutzen für den Einzelnen und die Gesellschaft Demokratie und Rechtsstaat bieten. Anders gesagt: Was auf dem Spiel steht, wenn autoritäre Elemente Staat und Politik dominieren.

Eine massenhafte Abwendung von der Verfassung und ihren Grundsätzen ist glücklicherweise weder in Deutschland noch in Bayern zu erkennen. Es wäre in meinen Augen auch ein großes Unglück. Manch einer hat in den letzten Jahren auf Parallelen zwischen der Weimarer Republik und aktuellen Tendenzen bei uns hingewiesen. Die zunehmende Zahl von Parteien in den Parlamenten, die dadurch bedingte Zunahme der Schwierigkeiten bei der Bildung stabiler Regierungen, extremistische Ausfälle auf Demonstrationen und Ähnliches rufen solche Vergleiche auf den Plan. Es gibt aber nach meiner Einschätzung einen gewaltigen Unterschied zu Weimar. Damals lehnte ein großer Teil der Bevölkerung und auch der Funktionsträger in Politik, Justiz und Gesellschaft nicht nur die konkreten Verhältnisse innerhalb der Republik ab, sondern die Republik, also die Staatsform und die Verfassung als solche. Das ist heute nicht der Fall. Darauf sollten wir auch immer wieder hinweisen. Wir sollten nicht den – nach meiner Einschätzung falschen – Eindruck erwecken, dass die Verfassungsfeinde in der Mehrheit seien, nur weil sie besonders lautstark oder rücksichtslos sind. Die Gefahr für unsere heutige Verfassung besteht nicht darin, dass sie zu viele Feinde hat. Eine Gefahr würde daraus erst, wenn es an „Verfassungsfreunden“ fehlen würde oder diese „Freunde“ zu passiv wären.

In der Sozialpsychologie wird darauf hingewiesen, dass unser Verhalten auch dadurch stark beeinflusst wird, was wir für „normal“ halten. Der Wirtschaftsnobelpreisträger für das Jahr 2017 Richard Thaler hat ausgeführt, wenn man wolle, „dass Menschen eine Norm oder Regel einhalten, [sei] es ratsam, sie darüber zu informieren (wenn es wahr [sei]), dass die meisten anderen Menschen die Regel ebenfalls befolgen“[27]. So gibt es Untersuchungen, wonach man die Zahlungsmoral von Steuerpflichtigen messbar erhöhen kann, indem man säumigen Zahlern mitteilt, dass 90 Prozent der Bürger ihre Steuern bereits ordnungsgemäß und vollständig bezahlt hätten[28].

Ich bin kein Sozialpsychologe und kann solche Untersuchungen nicht beurteilen. Es scheint mir aber plausibel, dass es für Menschen einen großen Unterschied darstellt, ob sie sich mit ihrem Verhalten und ihren Einstellungen im Bereich des „Normalen“ befinden oder nicht. Deshalb ist es in meinen Augen Aufgabe aller Akteure in Politik, Justiz und den Medien, aber auch aller Bürgerinnen und Bürger, immer wieder deutlich zu machen, dass eine aggressive Abkehr von der Verfassung und den in ihr verkörperten Grundsätzen nicht – und ich sage natürlich: „glücklicherweise“ nicht – der Normalfall ist und die große – wenn auch oft stille – Mehrheit dies anders sieht.

Verfassungsfeinde hat es immer gegeben und wird es immer geben. Sie dürfen aber nicht die Deutungshoheit über die Verfassung gewinnen.

Wie gesagt: Die Verfassung bietet gerade auch denen einen Raum der Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten, die mit bestimmten Umständen unzufrieden sind. Sie kann und soll der „Kitt“ sein, der auch vermeintliche Außenseiter an die Gemeinschaft bindet. Sie verlangt aber, und das ist mein zweiter Appell, dass beim Zusammenleben und auch beim Streit ein bestimmter Grundkonsens gewahrt bleibt. Dazu gehören unter anderem die Achtung der Menschenwürde und das Einhalten rechtsstaatlicher Regeln.

Die Hasskultur in den sozialen Netzwerken, die abnehmende Bereitschaft zum Kompromiss und der Hang zum Rigorismus, die Verklärung der eigenen Meinung zur politischen Mission im Glaubenskrieg, die Abneigung gegen alles Unübersichtliche und Schwierige, das sich nicht mit einem Faustschlag auf den Tisch lösen lässt: All dem liegt am Ende die Frage zugrunde, wie Menschen miteinander umgehen. Lösungsansätze dafür sind ja in unseren Verfassungen durchaus angelegt: Vertritt keine Auffassungen, die die Menschenwürde antasten können. Lass jedem seine Freiheit, wenn sie anderen nicht schadet. Aber vielleicht muss man gar nicht so hoch greifen. Vielleicht reicht schon einfach eine bessere Umgangskultur im Zwischenmenschlichen. Eigentlich müssten wir uns nur auf die Tugenden und Ideale besinnen, die seit der Antike Geltung beanspruchen und sich bewährt haben: Offenheit und Aufrichtigkeit zum Beispiel, Milde, Höflichkeit und Demut. Manchmal kann es sogar eine Tugend sein, zu schweigen.

(V. Schluss)

Deshalb komme ich jetzt zügig zum Schluss.

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof wird immer wieder – und wie ich meine zu Recht – als „Hüter der Verfassung“ bezeichnet. Doch ist die Verfassung viel mehr, als eine Ansammlung von Rechtsvorschriften, über deren Einhaltung ein Gericht wachen kann und muss.

Sie ist, jedenfalls im günstigen Fall, ein Band, das die Bürgerinnen und Bürger zusammenhält, der „Kitt“, der ein übermäßiges Auseinanderdriften unterschiedlicher Menschen und Bevölkerungsgruppen verhindern kann. Eine Verfassungs-„Erzählung“ kann große integrative Bedeutung haben, weshalb es unverzichtbar ist, sich die Grundlagen und Kernpunkte dieser Erzählung immer wieder bewusst zu machen.

Ich hoffe, dass sich immer genug Menschen und Institutionen finden, die bereit sind, dieses Bewusstsein wach zu halten. Der Evangelischen Akademie Tutzing und ihrem Freundeskreis danke ich sehr, dass sie heute die Gelegenheit dazu gegeben hat.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

[1] Münchener Merkur vom 18.5.2018; das Wort taucht dort auf in einem Zitat des Pfarrers Jost Herrmann

[2] BayVGH vom 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris

[3] https://www.duden.de/rechtschreibung/abkanzeln

[4] Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Szene: Nacht, Faust allein in seinem gotischen Zimmer

[5] Boehme-Nessler, Rechtsstaat ohne Vertrauen, Die WELT v. 25.01.2019

[6] Durs Grünbein, Wie aus Sprache Gewalt wird, Die ZEIT v. 10.01.2019

[7] 13th Amendment section 1 to the U.S. Constitution: Neither slavery nor involuntary servitude, except as a punishment for crime whereof the party shall have been duly convicted, shall exist within the United States, or any place subject to their jurisdiction.

[8] Volksentscheid vom 7. Juli 1968 über den gemeinsam erarbeiteten Gesetzentwurf von 3 Landtagsfraktionen

[9] Wehrpflichtgesetz vom 7. Juli 1956, BGBl. I, S. 651

[10] Sebastian Haffner, Im Schatten der Geschichte, 2. Aufl. 1988, S. 161

[11] https://www.welt.de/politik/deutschland/article176912600/AfD-Chef-Gauland-bezeichnet-NS-Zeit-als-Vogelschiss-in-der-Geschichte.html

[12] http://www.zeit.de/2018/01/justiz-rechtsstaatlichkeit-europa-polen-tuerkei-ungarn/seite-2

[13] Eine Suspendierung der EU-Mitgliedschaft eines Staats ist nach Art. 7 EU-Vertrag möglich, wenn  ein Mitgliedstaat in schwerwiegender Weise die Grundwerte der Europäischen Union nach Art. 2 EU-Vertrag verletzt

[14] vgl. z. B. https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-11/rechtsstaatlichkeit-eu-kommission-vorsitz-rumaenien-lagebericht-korruptionsbekaempfung

[15] zum Begriff vgl. z.B. Timothy Garton Ash im Interview mit Michael Wiederstein, https://www.insm-oekonomenblog.de

[16] vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Voßkuhle, Rechtsstaat und Demokratie, NJW 2018, 3154

[17] Zitiert nach Zamoyski, Napoleon Ein Leben, C.H. Beck, 2018, S. 393

[18] https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/bremen-lynchjustiz-beide-maenner-sind-unschuldig/22697648.html;

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/bremen-mutmassliche-selbstjustiz-verdaechtiger-stellt-sich-a-1213117.html

[19] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/11/181101-Kaffeetafel-Chemnitz.html

[20] Einfach denken!, S. FISCHER; 1. Aufl. 2016, S. 250

[21] zitiert nach http://www.bpb.de/apuz/28290/menschenwuerde-als-massstab?p=all

[22] VerfGH des Landes Berlin vom 12.1.1993 – 55/92 – juris

[23] zu dem Fall: LG Frankfurt a.M. vom 20.12.2004 NJW 2005, 692

[24] vgl. z. B. Stenographische Berichte des Verfassungsausschuss der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, Band I, S. 166

[25] EU will mehr Transparenz bei Glyphosat-Zulassung, https://www.derstandard.de/story/2000097889225/eu-will-transparenz-bei-glyphosat-zulassung-erhoehen

[26] BVerfG vom 24.3.2011 NJW 2001, 2069/2070

[27] Richard Thaler, Misbehaving, 2018, 2. 386

[28] https://www.zeit.de/wirtschaft/2010-05/wirtschaftswissenschaften/seite-2

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