Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Zum Stand der Aufarbeitungsforschung in Bayern

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Zum Stand der Aufarbeitungsforschung in Bayern

13. - 14. Dezember 2023

Inhalt

Forderung nach gesetzlicher Lösung

Seit den 2000er Jahren wird die Realität der unterschiedlichen Formen von Gewalt und Grenzverletzungen, die Kinder und Jugendliche in Erziehungseinrichtungen und in der Kinder- und Jugendarbeit in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten erfahren haben, vermehrt öffentlich wahrgenommen. Um das Unrecht dieser Gewalt herauszuarbeiten, die vielfältigen Verletzungen der Überlebenden zu benennen und anzuerkennen, die staatlichen Institutionen und freien Träger dafür in die Verantwortung zu nehmen und zumindest ansatzweise durch Aufarbeitung und Wiedergutmachung Gerechtigkeit herzustellen, wurden unterschiedliche gesellschaftliche Verfahren etabliert.

Die Tagung soll unter Einbeziehung aller beteiligten Akteur:innen eine für Bayern längst überfällige Bilanz über den Stand dieser Verfahren ziehen, aus der sich dann Strategien sowohl für die weitere Praxis der Aufarbeitung wie auch für den Umgang mit den Befunden der Aufarbeitung entwickeln lassen. Dabei geht es um Folgendes:

Bislang werden die Prozesse der Anerkennung, Aufarbeitung und Wiedergutmachung eher durch die Rahmenbedingungen bestimmt, welche die aufarbeitenden Einrichtungen dafür setzen. Die Betroffenen nehmen in diesen Verfahren die Rolle der Antragsstellenden ein, und sind meist nur marginal beteiligt. Zugleich war und ist es auf die Initiative der Überlebenden zurückzuführen, dass diese Aufarbeitungsprozesse überhaupt in Gang gesetzt wurden.

Bislang lässt sich für Bayern weder die Gesamtzahl, der von institutioneller Gewalt Betroffenen noch die Zahl dafür verantwortlichen Träger und Einrichtungen konkret bestimmen. Die Aufarbeitung orientiert sich an den Verfahren, die sich bislang bundesweit entwickelten, ausgehend von einer Petition der ehemaligen Heimkinder (2006) an den Deutschen Bundestag und den Empfehlungen des als Folge vom Parlament eingesetzten „Runden Tisch für Heimerziehung“ (2009-2010):
  • Der „Fonds Heimerziehung West/Ost“ (2012-2018), organisiert über die Sozialministerien der Bundesländer, zielte auf die Einrichtungen der Heimerziehung bzw. der stationären Kinder- und Jugendhilfe, in denen etwa 1,3 Mio. Kinder und Jugendliche untergebracht waren.
  • Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ (2017-2022), ebenso organisiert über die Sozialministerien, bezog sich auf die Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie (BRD und DDR), in denen nach bisherigem Stand etwa 250.000 Kinder und Jugendliche untergebracht waren.
  • Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (organisatorisch angesiedelt bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs UBSKM)(ab2015) erarbeitet Empfehlungen für Standards der institutionellen Aufarbeitung (bspw. 2019), u.a. für die Aufarbeitungsverfahren der Katholischen und Evangelischen Kirche. Zur quantitativen Dimension gibt es bislang keine belastbaren Angaben.
  • Daneben kam es sehr vereinzelt zu regionalen Verfahren, bezogen auf einzelne Träger und Einrichtungen. So begannen im Jahr 2021 die Stadt München wie auch der Paritätische Landesverband Bayern mit Aufarbeitungsverfahren. Auslöser waren Hinweise ehemaliger Heimkinder auf den Bestand eines trägerübergreifenden Missbrauchsnetzwerkes.
  • Im Schatten dieser Verfahren blieben bislang Einrichtungen wie Säuglings- oder Kindererholungsheime, Anstalts- und Förderschulen, wie auch Unrechtskomplexe (bspw. systematischer Medikamentenmissbrauch), die in anderen Bundesländern bereits staatlicherseits untersucht werden.
Aus dem Dilemma, dass die aufarbeitenden Institutionen „Herrin“ des Verfahrens und gleichzeitig Gegenstand der „kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte aus der Sicht der in sie verstrickten Generationen“ (Adorno) sind, ergeben sich chronische Probleme bei der Umsetzung der Standards von Partizipation und Unabhängigkeit, mit denen Betroffenen wie auch Forschende, die mit den fachwissenschaftlichen Studien betraut werden, konfrontiert sind.

So werden die Forderungen nach einer gesetzlichen Lösung verstärkt diskutiert, welche die Aufarbeitung von der Träger-Ebene auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene hebt. Vorbild dafür ist bspw. das Schweizer Bundesgesetz für die Aufarbeitung (2016). Nach dem Vorbild der Gedenkstätte in Torgau könnte zudem ein Ort der „Anerkennung und Erinnerung“ für die Betroffenen geschaffen werden, der eine unabhängige Anlaufstelle und einen gesellschaftlichen Dialog-Raum über Erfahrungen des Unrechts und dessen Aufarbeitung bereitstellt.

Zu dieser Tagung laden wir Betroffene, Expert:innen und am Thema Interessierte herzlich in die Evangelische Akademie Tutzing ein!

Pfr. Udo Hahn, Direktor, Evangelische Akademie Tutzing
Prof. Dr. Annette Eberle & Prof. Dr. Susanne Nothhafft, Katholische Stiftungshochschule (KSH)

Tagungs-Programm

Mittwoch, 13. Dezember 2023
Anreise ab 11.30 Uhr
12.30 UhrMittagessen
13.45 UhrPANEL I: Zum Stand der Aufarbeitung in Bayern - zentrale FragestellungenProf. Dr. Annette Eberle, Prof. Dr. Heiner Keupp, Prof. Dr. Susanne Nothhafft
14.45 UhrKaffeepause
15.15 UhrPANEL II: Aufarbeitung durch staatliche Verfahren
Aufarbeitung im Kontext des Fonds Heimerziehung - Historische Befunde und ihre Relevanz für die Betroffenen Dr. Uwe Kaminsky
Aufarbeitung im Kontext der Stiftung "Anerkennung und Hilfe"; Begleitstudien mit dem Fokus auf BayernDr. Nils Löffelbein
Die Situation in den Säuglingsheimen und die Situation der Betroffenen Dr. Felix Berth
Bayerische Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung in der Kindheit und JugendResümee und Perspektiven
Amelie Gläßer
und
Jagoda Hoppel
16.45 UhrPause
17.00 UhrPANEL III: Aufarbeitung durch Kirchen und Orden
Aufarbeitung in den Ordensgemeinschaften: Erfahrungen und PerspektivenDr. Robert Köhler
Studien zu Neuendettelsau und Rummelsberg (Diakonie): Resümee und Perspektiven Dr. Ulrike Winkler
Gutachten Erzdiözese München Freising. Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen Dr. Martin Pusch
18.30 UhrAbendessen
19.30 UhrZwischen beteiligt werden und teilhaben: Betroffenenpartizipation in wissenschaftlichen AufarbeitungsprozessenDr. Helga Dill
und
Dr. Peter Caspari
und
Horst Eschment
und
Christiane Lange
21.00 UhrBegegnungen und Gespräche in den Salons
Anreise ab 11.30 Uhr
12.30 Uhr
Mittagessen
13.45 Uhr
PANEL I: Zum Stand der Aufarbeitung in Bayern - zentrale FragestellungenProf. Dr. Annette Eberle, Prof. Dr. Heiner Keupp, Prof. Dr. Susanne Nothhafft
14.45 Uhr
Kaffeepause
15.15 Uhr
PANEL II: Aufarbeitung durch staatliche Verfahren
Aufarbeitung im Kontext des Fonds Heimerziehung - Historische Befunde und ihre Relevanz für die Betroffenen Dr. Uwe Kaminsky
Aufarbeitung im Kontext der Stiftung "Anerkennung und Hilfe"; Begleitstudien mit dem Fokus auf BayernDr. Nils Löffelbein
Die Situation in den Säuglingsheimen und die Situation der Betroffenen Dr. Felix Berth
Bayerische Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung in der Kindheit und JugendResümee und Perspektiven
Amelie Gläßer
und
Jagoda Hoppel
16.45 Uhr
Pause
17.00 Uhr
PANEL III: Aufarbeitung durch Kirchen und Orden
Aufarbeitung in den Ordensgemeinschaften: Erfahrungen und PerspektivenDr. Robert Köhler
Studien zu Neuendettelsau und Rummelsberg (Diakonie): Resümee und Perspektiven Dr. Ulrike Winkler
Gutachten Erzdiözese München Freising. Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen Dr. Martin Pusch
18.30 Uhr
Abendessen
19.30 Uhr
Zwischen beteiligt werden und teilhaben: Betroffenenpartizipation in wissenschaftlichen AufarbeitungsprozessenDr. Helga Dill
und
Dr. Peter Caspari
und
Horst Eschment
und
Christiane Lange
21.00 Uhr
Begegnungen und Gespräche in den Salons
Donnerstag, 14. Dezember 2023
07.45 UhrMorgenandacht in der Schlosskapelle
08.00 UhrFrühstück
09.00 UhrPANEL IV: Perspektiven - Gesetzesinitiativen im Bayerischen Landtag Gabriele Triebel MdL, Richard Kick, Prof. Dr. Heiner Keupp
10.00 UhrKaffeepause
10.30 UhrPANEL V: Perspektiven - Erinnerungskultur und Archive
Projekte der Gedenkstätte "Geschlossener Jugendwerkhof Torgau"Dr. Angelika Censebrunn-Benz
Lübeck: Orte der Erinnerung Rudolf Kastelik
München: Aufarbeitung und Archive Dr. Laura Pachtner
12.00 UhrAbschlussdiskussion: Bündnisse Betroffener & Forschender
13.00 UhrMittagessen und Abschluss der Tagung
07.45 Uhr
Morgenandacht in der Schlosskapelle
08.00 Uhr
Frühstück
09.00 Uhr
PANEL IV: Perspektiven - Gesetzesinitiativen im Bayerischen Landtag Gabriele Triebel MdL, Richard Kick, Prof. Dr. Heiner Keupp
10.00 Uhr
Kaffeepause
10.30 Uhr
PANEL V: Perspektiven - Erinnerungskultur und Archive
Projekte der Gedenkstätte "Geschlossener Jugendwerkhof Torgau"Dr. Angelika Censebrunn-Benz
Lübeck: Orte der Erinnerung Rudolf Kastelik
München: Aufarbeitung und Archive Dr. Laura Pachtner
12.00 Uhr
Abschlussdiskussion: Bündnisse Betroffener & Forschender
13.00 Uhr
Mittagessen und Abschluss der Tagung

Referierende

Dr. Felix Berth, Deutsches Jugendinstitut, München
Dr. Harald Britze, stellv. Leiter Bayerisches Landesjugendamt, München (angefragt)
Dr. Peter Caspari, Institut für Praxisforschung und Projektberatung, München
Dr. Angelika Censebrunn-Benz, Projektbearbeiterin Gedenkstätte „Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“, Berlin
Dr. Helga Dill, Institut für Praxisforschung und Projektberatung München
Prof. Dr. Annette Eberle, Katholische Stiftungshochschule München (Campus Benediktbeuern)
Horst Eschment, Betroffener, Teilnehmer der Teilstudie des IPP
Amelie Gläßer, Anlaufstelle für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt, Bayerisches Landesjugendamt
Jagoda Hoppel, Anlaufstelle für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt, Bayerisches Landesjugendamt
Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, München
Dr. Uwe Kaminsky, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité, Berlin
Rudolf Kastelik, Betroffenenvertreter, Lübeck
Richard Kick, Unabhängiger Betroffenenbeirat Erzdiözese München und Freising
Dr. Robert Köhler, stellv. Vorsitzender Ausschuss, „Unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Ordensgemeinschaften“, München
Dr. Nils Löffelbein, Institut für die Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Christiane Lange, Betroffene, Teilnehmende der Teilstudie des IPP
Prof. Dr. Susanne Nothhafft, Katholische Stiftungshochschule München
Dr. Laura Pachtner, Archiv der Erzdiözese München und Freising
Dr. Martin Pusch, LL.M., Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, München
Dr. Hubert Seliger, Generaldirektion Bayerische Archive, München
Gabriele Triebel MdL, Mitglied des Bayerischen Landtags: Mitglied im Ausschuss für Bildung und Kultus, Sprecherin für Bildung, Religion und Erinnerungskultur der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Landsberg am Lech
Dr. Ulrike Winkler, Historikerin, Politikwissenschaftlerin, Trier

 

Preise & Informationen


Veranstaltungsleitung
Pfr. Udo Hahn, Evangelische Akademie Tutzing

Organisation & Information
Rita Niedermaier, E-Mail: niedermaier@ev-akademie-tutzing.de; Tel. 08158 251-128. Ihre Anfragen zu der Veranstaltung erreichen uns in der Zeit von Montag bis Freitag von 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr.

Anmeldung
Ihre Anmeldung erbitten wir über das Online-Formular. Sie wird von uns bestätigt, ist verbindlich und Voraussetzung für die Teilnahme.
Anmeldeschluss ist 29. November 2023.

Abmeldung
Sollten Sie an der Teilnahme verhindert sein, bitten wir bis spätestens 6. Dezember 2023 um entsprechende schriftliche Benachrichtigung. Unsere Stornobedingungen entnehmen Sie unserer Homepage.

Preise pro Person für die gesamte Veranstaltungsdauer (in Euro):

Vortragsgebühr                                                                                        45.–
(zzgl. Kaffee/Tee/Kuchen auch bei Teilnahme ohne Verpflegung)

Vollpension
– im Einzelzimmer                                                                               122.50
– im Zweibettzimmer                                                                           100.50
– im Zweibettzimmer als EZ                                                                134.50
Verpflegung (ohne Übernachtung/Frühstück)                                        54.–

Wir bitten um Begleichung bei Anreise durch Barzahlung oder EC-Karte. Bestellte und nicht in Anspruch genommene Einzelleistungen können nicht rückvergütet werden.

Die Tagung wird zu einem erheblichen Teil aus Kirchensteuermitteln finanziert.
 
Die Evangelische Akademie Tutzing ist Mitglied der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD) e.V., Berlin

 


Verpflegung
Gerne bietet Ihnen unsere Küche gegen 10.– € Aufpreis pro Person & Veranstaltung bei veganer Ernährung, Unverträglichkeiten oder Allergien ein darauf abgestimmtes Essen an. Bitte teilen Sie uns dies verbindlich mit Ihrer Anmeldung mit.

Preisnachlass
Auszubildende, Schüler:innen, Student:innen (bis zum 30. Lebensjahr) und Arbeitsuchende erhalten eine Ermäßigung von 50 Prozent. Journalist:innen wird der Teilnahmebeitrag erlassen, wenn ein aktueller Presseausweis einer ausstellungsberechtigten Organisation zusammen mit dem Auftrag zur Berichterstattung vorliegt. Eine Kopie Ihres Ausweises schicken Sie uns bitte mit Ihrer Anmeldung zu.

Weitere Informationen zu Schlosseuro / Datenschutz / AGB / E-Mobilität und Anreise finden Sie unter www.ev-akademie-tutzing.de

Ort & Anreise

Evangelische Akademie Tutzing / Schlossstraße 2+4 / 82327 Tutzing

Die Akademie verfügt nur über eine begrenzte Anzahl von Parkplätzen. Wir empfehlen die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

MIT ÖFFENTLICHEN VERKEHRSMITTELN
Ab München Hbf: S-Bahn S6 (Tiefgeschoss) bis Endstation Tutzing oder Regionalbahn in Richtung Garmisch bzw. Kochel. Fußweg vom Bahnhof zur Akademie: ca. 10 Minuten – Bahnhofstraße, Hallberger Allee, Hauptstraße, Schlossstraße.

Tagungsgäste, die zur Anreise öffentliche Verkehrsmittel benutzen und dieses durch Vorlage ihres Fahrscheins (Mindestbetrag: 60.– €) an der Rezeption nachweisen können, erhalten auf den vollen (nicht ermäßigten) Tagungsbeitrag einen Preisnachlass.
Bitte beachten Sie abweichende Regelungen bei einzelnen Sonderveranstaltungen, z.B. Tagungen im Jungen Forum, Tages- und Abendveranstaltungen oder Konzerte!

MIT DEM PKW
Mit dem Auto fahren Sie von München auf der A95 in Richtung Garmisch bis zur Abzweigung Starnberg, von Starnberg auf der B2 bis Traubing, danach Abzweigung links nach Tutzing. Im Ort wird die Hauptstraße bis Ende 2023 umgebaut, was mit Beeinträchtigungen im Straßenverkehr verbunden ist.

E-MOBILITÄT
Die E-Ladesäulen der Akademie befinden sich auf dem Parkplatz P2.
Die Karten dafür erhalten Sie an der Rezeption.