Fünf Jahre Revolution der Würde. Das Ende oder ein fortwährender Anfang? Von Ksenija Marchenko

Am 21. November 2013 begann in Kiew die Revolution der Würde, die die ganze Ukraine erfasste. In allen Regionen des Landes versammelten sich JournalistInnen, AktivistInnen, StudentInnen, UnternehmerInnen und ArbeiterInnen zum Maidan. Selbst in den meisten europäischen Hauptstädten und auf anderen Erdteilen gab es Maidane.

Den Anstoß zum friedlichen Protest gegen Janukowytschs Kurswechsel gab an jenem Abend ein Facebook-Aufruf von Mustafa Nayem, damals Investigativ-Journalist und heute Parlamentsabgeordneter. Nachdem Studenten in der Nacht auf den 30. November auf dem MaidanMaidan niedergeprügelt worden waren, richtete sich der Maidan gegen die diktatorische Herrschaft des Präsidenten Janukowitsch und seiner Mitstreiter, gegen Korruption, Straflosigkeit und undurchsichtige Gerichtsverfahren. Schließlich eskalierte der Protest und wurde zur Revolution für die europäische Entwicklung des Landes. Gewalt, Ermordungen und Verschleppungen gipfelten in drei aufeinanderfolgenden Tagen im Februar 2014, als Berkut-Leute die Revolutionäre niederschossen.

Was wissen wir über die Gerichtsverfahren?

Die Maidan-Fälle lassen sich grob in folgende Ermittlungsverfahren einteilen: die Suche nach den Verantwortlichen für das Räumen des Maidans sowie nach denjenigen, die den Räumbefehl am 30. November mit Gewalt ausführten; die Suche nach denjenigen, die im Verlauf der drei Monate Gewalt gegen die TeilnehmerInnen des sogenannten Auto-Maidans, gegen Freiwillige und gegen Maidan-Aktivisten verübten; die Suche nach den Entführern und Mördern friedlicher Bürger; die Suche nach den Verantwortlichen für das drei Tage andauernde Schießen im Februar; und die Untersuchungen gegen Richter, die nicht nachvollziehbare Urteile fällten. Keine dieser Ermittlungen ist bisher abgeschlossen. Alle brauchen mehr Beweise.

Zwei große Fälle werden derzeit untersucht: Ermittelt wird, wer den Befehl zum Räumen des Maidans gab und wer diesen Befehl ausführte.

Verdächtigt werden der Leiter der Kiewer Stadtverwaltung Oleksandr Popow sowie der stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Wolodymyr Siwkowytsch. Man weiß, dass rund 130 Personen niedergeschlagen wurden, darunter auch SchülerInnen?. Der Großteil waren Jugendliche, nicht nur Studenten. Gegen bis zu 15 Berkut-Mitarbeiter, die auf Videos und Fotos oder von Geschädigten identifiziert wurden, wurde Anzeige erstattet. Die Anwältin Jewgenija Sakrewska, die geschädigte Studenten in mehreren Fällen vertritt, sagt, dass keiner der Berkut-Mitarbeiter eine klare Aussage machen würde, um sich nicht selbst zu belasten. Einige frühere Berkut-Mitarbeiter arbeiten heute als Assistenten für Parlamentsabgeordnete.

Gegen die verhafteten Demonstranten wurden in dieser Nacht Verfahren wegen Widerstands gegen die Polizei und Hooliganismus eingeleitet. Die Verfahren wurden jedoch sämtlich wegen nicht gegebenen Tatbestands eingestellt. Viele der Festgenommenen waren verletzt worden und erstatteten Anzeige, um die Täter festzustellen. Keine dieser Ermittlungen ist bisher abgeschlossen. Wie soll man jemanden wiedererkennen, der einen Helm und eine Uniform ohne Erkennungsnummer trug? Die blutige Räumung des Maidans geschah im Dunkeln, es gibt nicht genug Videos und Fotos.

Die Sicherheitskräfte des Regimes verhafteten während des Maidans Hunderte von Aktivisten, die die Straßen in ihren Autos nach Tituschki absuchten oder auf dem Maidan freiwillig halfen, die friedlichen Demonstranten zu versorgen. Die meisten Verhafteten standen in keinem Zusammenhang mit den Werfern von Molotow-Cocktails und Pflastersteinen. Die Gerichtsverhandlungen fanden für Gruppen von zehn bis zwölf Personen gleichzeitig statt und zogen sich oft bis in die Nacht. Während der Revolution setzten die Oppositionellen durch, das Amnestie-Gesetz in das ‚Gesetz über die Geiseln‘ umzubenennen. Das ermöglichte denjenigen, die gewaltsam festgenommen worden waren, Anzeige zu erstatten. Diese Fälle ermöglichten es wiederum, diejenigen Richter zu überprüfen, die im Auftrag des Regimes gehandelt hatten.

Die Lustration von RichterInnen? hätte der nächste Schritt nach der Erreichung der Revolutionsziele sein sollen. Insgesamt verkündeten in den Fällen der Maidan-Aktivisten über 350 Richter Urteile und Beschlüsse. Sie verhängten Haftstrafen, entzogen Führerscheine und schränkten die Versammlungsfreiheit ein. Allein in Kiew waren es 80 RichterInnen, die Verhaftungen veranlassten. Nur sieben RichterInnen wurden angeklagt, dreien wird der Prozess gemacht. An und für sich wurden alle RichterInnen auf Grundlage des Gesetzes „Über die Erneuerung des Vertrauens in die Justizbehörden“ entlassen. Laut Roman Maselko, Anwalt auf Seiten der Kläger, habe die Lustration zwar einen zehnjährigen Ausschluss vom öffentlichen Dienst vorgesehen. Doch stehe den RichterInnen die Rückkehr in den Dienst trotzdem offen. Maselko erklärt: „Der Grund ist banal. Die RichterInnen haben ihre Beschlüsse nicht ins Fallregister eingetragen. Für ihre Lustration ist die Verfügbarkeit der Beschlüsse jedoch Voraussetzung.“ Laut dem Anwalt wurden nur 38 RichterInnen entlassen. Alle anderen seien entweder weiterhin im Dienst oder hätten ihre Ämter unter Beibehaltung aller sozialen Bezüge niedergelegt. Maselko fügt hinzu, dass man manche  hätte bleiben lassen, um ihnen eine Lehre zu erteilen. Für ihn sei eine Information jedoch besonders bezeichnend: Die Hinweise, welche Richterbeschlüsse es zu überdenken gelte, sollen direkt aus der Präsidialadministration Janukowytschs gekommen seien.

Witalij Kuzmenko

„Wie die Bewaffnung zunahm“

Ich bin noch jung, aber schon Veteran. Von der Revolution bin ich nicht enttäuscht, obwohl ich erwartet hatte, dass sich die Dinge schneller verändern. Ich musste schnell erwachsen werden, erst wegen der Revolution und dann im Krieg. Jetzt bin ich zurück und versuche, das Land zu verändern.

Ich habe an der Ausarbeitung der Reform der staatlichen Veteranen-Organisationen und an den Plänen für ein Veteranen-Ministerium mitgewirkt. Bisher wurden die aus Sowjetzeiten stammenden nichtstaatlichen Verbände für Weltkriegs- und Afghanistan-Veteranen aus dem Staatshaushalt finanziert. Jetzt sieht das anders aus: Nichtregierungsorganisationen bewerben sich um Projektmittel und übernehmen dann staatliche Aufgaben. Dieses Jahr nahmen aus der ganzen Ukraine nur 49 Organisationen an der Projektausschreibung teil, dabei entstehen immer mehr solcher Organisationen – ihre Zahl wird auf über eintausend geschätzt.

Ich habe Geschichte studiert. Auf den Maidan ging ich, weil ich eine Perspektive für mein Unternehmen schaffen wollte. Ich hatte gerade einen kleinen Online-Shop für Technik aufgemacht. Ich wollte eine anständige Ausbildung. In Polen war ich auf Studierenden-Konferenzen gewesen und hatte gesehen, welches Bildungsmodell sie dort haben. In meiner Universität erlebten wir den tiefen Graben zwischen den Dozenten sowjetischer Schule und den Studenten, die die Ukraine als unabhängigen Staat begriffen.

In der Nacht zum 30. November blieben wir auf dem Maidan, auf dem schon das Gerüst für den Weihnachtsbaum stand. Tagsüber hatte es geheißen, dass wir das Schmücken des Baums verhindern würden. Mitten in der Nacht – es war vier Uhr morgens – waren hinter uns ein paar Hundert Leute. Mehrere Busse der Miliz kamen gleichzeitig angefahren. Ein Teil der Inneren Truppen stellte sich neben dem Baumgestell auf, der andere Teil neben dem Unabhängigkeitsdenkmal. Ein paar Minuten lang sammelten sie sich und zogen dann den Ring um uns enger – es gab keinen Ausweg. Jemand sang die Nationalhymne, vor mir standen schon keine Leute mehr. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht. Sie schlugen uns mit Knüppeln, verpassten uns Fußtritte und warfen uns in die Laderäume ihrer Fahrzeuge. Bis zu 30 Leute standen über Stunden in den kalten Wägen, Platz zum Sitzen gab es nicht. Blutend und mit Brüchen warteten wir auf medizinische Hilfe, stattdessen wurden wir zur Milizstation gebracht. Ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma und einen gebrochenen Arm. Gegen die Festgenommenen wurden Verfahren eingeleitet, gegen die Verletzten nicht. Uns schickten sie einfach ins Krankenhaus. Das ist bezeichnend. Es ist schwer zu sagen, wer mich zusammengeschlagen hat: es war dunkel, ihre Gesichter waren von Helmen und Sturmhauben verdeckt. Ich erkenne die nicht wieder.

Am letzten Tag meines Krankenhausaufenthalts änderten sie den Eintrag in meiner Krankenakte. Aus meinem Armbruch wurde eine Prellung, dabei musste ich noch eineinhalb Monate Gips tragen. Mit meinem Gips kehrte ich auf einen veränderten Maidan zurück. Die Studenten hatten ihr Zelt neben dem Gewerkschaftshaus aufgestellt, der Protest hatte sich zum Widerstand entwickelt, die Leute kamen aus der ganzen Ukraine zusammen und für die Maidan-Aktivisten traf Ausstattung ein. Die Studenten gründeten den Maidan-Jugendrat. Sprache spielte für uns keine Rolle: die einen sprachen Russisch, die anderen Ukrainisch, das war egal. Wir konnten problemlos unsere Vorlesungen ausfallen lassen. Die Uni-Leitung stand auf der Seite des Maidans und erlaubte uns, die Prüfungen später abzulegen.

Nach einer längeren Neujahrspause wurde die Stimmung aggressiver. Wir wussten, dass wir handeln mussten, nur nicht wie. Die Verhandlungen zwischen Machthabern und Aktivisten sowie zwischen den Machthabern untereinander brachten kein Ergebnis zugunsten der europäischen Integration. Die diktatorischen Gesetze vom 16. Januar, die die Demonstrations- und Pressefreiheit einschränkten, waren ein Schritt in Richtung Unterdrückung, nicht in Richtung Verständnis. Die Studenten-Organisationen begannen zusammenzuarbeiten.

Am 19. Januar warf ich im abgesperrten Regierungsviertel mit eingegipstem linkem Arm Molotow-Cocktails. An diesem Tag sah ich auch die erste Waffe: eine Pistole in der Hand eines Revolutionärs. Einen Teil ihrer Ausstattung hatten die Demonstranten Mitarbeitern der Inneren Truppen abgenommen. Damit verteidigten wir uns, als wir mit Gummigeschossen angegriffen wurden. Einige Tage später wurden zwei Maidan-Aktivisten mit Schusswaffen getötet: zuerst Nigojan und dann Schysnewskyj.

An den Februartagen, als auf dem Maidan geschossen wurde, trank ich den stärksten Kaffee meines Lebens: eine halbe Tasse Instant-Pulver, eine halbe Tasse Wasser. Wir zogen in einer Kolonne zum Ministerkabinett. Die Kolonne streckte sich, wir waren nicht alle gleichstark. Der Rechte Sektor (Anm. d. Redaktion: Kampf-Flügel des Maidans, heute eine nationalistische Partei, die in Russland verboten ist) war nie die bedeutendste Kraft auf dem Maidan, es gab verschiedene Gruppierungen. Die Revolutionäre hatten Sportausrüstung, Holzschilde und manche auch Schutzschilde, die sie den Sicherheitskräften abgenommen hatten. Die Leute gingen einfach, weil sie wussten, dass sie keine Waffen hatten, man sich aber trotzdem verteidigen musste. Wir mussten Pflastersteine lösen – das habe ich gemacht –, den Durchgang versperren, die Barrikaden verstärken. Wir standen unter einer Brücke und die Berkut-Leute warfen uns von oben Steine auf den Kopf. Dann schossen sie mit Gewehren in die Menge. Ich konnte ausweichen. Von Bekannten bekam ich zwei Arten von SMS: „Das ist schlimm. Hau ab!“ oder „Bist du noch da? Wir dringen vor!“ Die Frage, ob ich bleiben sollte, stellte ich mir nicht. Ich wusste, dass ich dableiben musste. Warum hätte das alles schließlich sonst passieren sollen?

Am 20. Februar, dem letzten Tag der Schüsse, rettete mich mein Beruf. Maidan-Aktivisten riefen mich an und sagten, dass ein Historiker gebraucht würde, um den Bestand des Kiewer Historischen Museums zu ordnen. Er sei im Ukrainischen Haus untergebracht, das soeben vom Berkut befreit worden sei.

Meinen Magisterabschluss bekam ich in Abwesenheit, weil ich erst als Freiwilliger in der ATO und dann in den Ukrainischen Streitkräften diente. Viele Leute vom Maidan gingen an die Front, entweder als Soldaten oder als Freiwillige. Ich war Sappeur in Gebieten, die einige Male von der ukrainischen Armee zu den Separatisten fielen und wieder zurück. Dort ist jeder Landstreifen vermint. An der Frontlinie arbeiten die Sappeure in Standardausrüstung, mit Schutzwesten und Helmen.

Der Maidan wurde zum Beginn unserer Unabhängigkeit, die nach dem Zerfall der Sowjetunion  nicht eingetreten war. Wäre nicht der von der russischen Armee organisierte Krieg auf den Maidan gefolgt, wäre in der Ukraine alles viel schneller zur Normalität zurückgekehrt. Der Geruch von Fässern ist im Krieg und auf dem Maidan der gleiche. Ich wollte immer in diesem Land leben und baue es für meine Kinder auf.

Wadym Kowalow

Die Realität des Fernsehens

Die Erinnerungen an Kälte und Zigarettengeruch hindern mich am Schauspielern. Sie erinnern mich an die Gefangenschaft. Vor einem Jahr bin ich nach Ungarn gezogen. Ich arbeite in einer kleinen Fabrik und ich drehe Filme. Ich habe im Film der ukrainischen Regisseurin Marysja Nikitjuk („Wenn Bäume fallen“) mitgespielt, der auf der Berlinale 2018 eine Reihe an Auszeichnungen bekommen hat. Jetzt fahre ich zu den Premieren. Meine Eltern habe ich nach Budapest mitgenommen. Meine Freundin und ich wollen heiraten. Ich bin hergezogen, weil ich ein bequemes Leben führen und eine anständige Gage bekommen möchte.

Meine Schauspielschule war direkt neben dem Maidan. Ich bemerkte die Leute mit den EU-Fahnen. Vom nächtlichen Überfall auf die Demonstranten erfuhr ich in den Fernsehnachrichten. Ich war außer mir, dass man einen Freund mit Füßen getreten hatte, um einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Von da an ging ich selbst ständig auf den Maidan. Ich protestierte auch gegen das unwürdige Studienstipendium und die Rente meiner Oma. Ich war noch nie im Ausland gewesen.

Für Politik hatte ich mich kaum interessiert. Nur während der Schauspiel-Ausbildung, in der schwierigen Studentenzeit, nahm ich an Polit-Talkshows teil. Gegen Bezahlung saß ich in der Zuschauermenge. Die Politiker stritten sich vor der Kamera, aber in den Aufnahmepausen umarmten sie sich und entschuldigen sich beieinander. Während einer Live-Sendung sagte ich einem Politiker: „Sie lügen hier und meine Oma sieht zu und glaubt Ihnen“. Die Ukraine ist das einzige Land, in dem Politiker und Oligarchen durchs Fernsehen regieren. Der mit dem bestplatzierten Sender gewinnt. An diesem Tag bekam ich keinen Lohn.

Am 10. Dezember 2013 überfielen sie den Maidan. Ich stand neben dem Boxer Wladimir Klitschko und dem Musiker Swjatoslaw Wakartschuk in der ersten Reihe. Zuerst kamen Abgeordnete in Warnwesten, die sie vor Schlägen schützen sollten. Dann zogen Berkut-Mitarbeiter mit Haken Leute aus der Menge und warfen sie in die Laderäume ihrer Fahrzeuge. Sie zerrissen meine Jacke, aber erwischten mich nicht. Ich dachte: Vielleicht sind die Abgeordneten in Warnwesten gekommen, damit klar ist, wer mitgenommen werden soll und wer nicht?

Ich verpasste nicht ein Seminar. Meist ging ich um drei Uhr nachts schlafen, manchmal sogar in meinem Uni-Gebäude. In der Regel lief ich aber zurück zum Wohnheim. Vor dem Gebäude wohnten Tituschki in Bussen. Ich organisierte 82 Leute in einer studentischen Bürgerwehr. Ein Teil ging mit mir auf den Maidan, der andere blieb im Wohnheim. Die Tituschki sorgten im Viertel für Unruhe: Sie waren hungrig und hatten keine Winterkleidung, also plünderten sie Geschäfte. Wir zerstachen die Reifen von Bussen mit Nummernschildern von der Krim. Die Tituschki übergaben wir der Miliz. Sie sagten, dass man sie nicht bezahlen und nicht aus Kiew herauslassen würde.

Am 19. Januar 2014 wurde das Regierungsviertel gesperrt. Ich war dort und beobachte, was um mich herum geschah: Leute zerschlugen Pflastersteine und warfen damit, Sanitäter brachten Verletzte auf Tragen weg. Meine Eltern wohnen in der Nachbar-Oblast Winnytsja. Den Maidan sahen sie nur im Fernsehen. Sie riefen mich an und sagten: „Wir schauen den 5. Kanal. In der Hruschewski-Straße wurde ein Aktivist mit einem Molotow-Cocktail beworfen. Das Benzin hat sich im Gesicht entzündet. Sei vorsichtig!“. Ich hörte mir das an, hatte die Situation aber mit eigenen Augen gesehen. Der Aktivist hatte den Molotow-Cocktail selbst werfen wollen, es aber nicht mehr geschafft, ihn in Richtung der Berkut-Mauer zu schleudern. Im Fernsehen übertrieben sie, oder sie schafften es nicht, alles zu filmen. Ich sah vier Mädchen, die einen Jungen trugen und lief hin, um zu helfen. Am nächsten Tag hätte ich meine Prüfung in Bühnensprache ablegen sollen. Sie boten uns Taxis an, doch wir lehnten ab. In der Nacht ging ich mit sieben Freunden vom Maidan zurück zum Wohnheim. Ich scherzte noch, dass sie uns verfolgen würden. Dann umzingelten uns sieben Autos. Sie traten auf meinen Kopf ein, zogen mich in den Wagen und drückten mir mit Fingern in die Augen.

Die kleine Zelle war eiskalt, wir waren zu zweit: ich barfuß in Unterhose und -hemd und ein Häftling, der wegen vierfachen Mordes und Raubes saß. Ich gab ihm den Spitznamen „Weisheitszahn“, weil er nur noch einen Zahn hatte. „Weisheitszahn“ brachte mir bei, den Toilettengestank zu neutralisieren, der aus dem Loch in der Zellenecke kam. Man musste eine Zeitung anzünden und schwelen lassen. Das Bettlaken war dreckig, löchrig und blutbefleckt. Um drei Uhr nachmittags ließen sie uns zum Spazieren hinaus. Es schneite und ich hörte die Studenten, die zu unserer Unterstützung gekommen waren. Hinter den Mauern riefen sie: „Freiheit den Studenten! Studentische Solidarität!“ Ein Wärter gab mir eine Zigarette. Alles in allem war es furchtbar. Sie gaben mir eine Nummer und befahlen mich nur noch damit herum: bücken, austreten, eintreten.

Am vierten Tag brachten sie mich dann doch zur Krankenstation. Ich bat die Ärztin dort, meine Mutter anzurufen, konnte mich aber nicht an die letzte Ziffer erinnern. Die Ärztin nahm meine Hand und sagte: „Ich weiß, dass Sie unschuldig sind, viele Leute stehen hinter Ihnen. Wir bringen Sie ins Krankenhaus, da wird es leichter“.

Auf Station sah ich Schlimmes: alle hatten Kopfverbände. Überall hin begleiteten mich Wärter oder Sicherheitsleute, sogar zur Untersuchung. Ich hatte zwölf Hämatome im Kopf, eine gebrochene Rippe, Platzwunden, ein angebrochenes Schlüsselbein und eine Gehirnerschütterung. Im staatlichen Krankenhaus dokumentierten sie nur die beiden letzten Verletzungen. Es gelang mir jedoch, einen Privatarzt zu rufen, der alle Verletzungen aufnahm. Das Gericht gab mir während des Ermittlungsverfahrens einen Monat Hausarrest. Kurze Zeit später wurden alle amnestiert. Meine  Anwälte von der Helsinki-Gruppe forderten, denn Fall ganz abzuschließen und stimmten der Amnestie nicht zu. Im Fall meiner unrechtmäßigen Festnahme wechselten die Ermittler dreiunddreißigmal. Im Dezember 2017 identifizierte ich denjenigen, der mir die Finger in die Augen drückte, aber ein Urteil gibt es nicht.

Jaroslaw Sytnyk

„Die Kampftruppen auf dem Maidan“

Ich war 18 und ging auf den Maidan, um wenigstens irgendwie zu helfen. Ich träume davon zu verreisen. Oft schaue ich mir über eine Webcam an, wie die Straßen verschiedener Hauptstädte aussehen.

Während des Maidans waren wir die Kampftruppe der Fanbewegung. In Tscherkassy war die Fanbewegung ungefähr sieben Jahre vorher entstanden, als die Stadt noch ihre eigene Fußballmannschaft hatte. Ein Jahr vor dem Maidan hatte sich die Mannschaft aufgelöst und uns Fans war nichts anderes übrig geblieben, als Kampftraining zu machen und zu den Spielen anderer Mannschaften zu fahren. Wir hatten Anführer, die sich um uns kümmerten.

Ein paar unserer Jungs fuhren auf den richtigen Maidan in Kiew. Du siehst die Nachrichten und verstehst, dass du dorthin willst, nur erlauben es deine Eltern nicht. Und wenn du heimlich fährst, machen sie sich Sorgen. Irgendwann berichtete das Lokalfernsehen, dass Tituschki gekommen seien, und warnte davor in die Stadt zu gehen. Die Straßenbeleuchtung wurde abgeschaltet. Nachts patrouillierten wir zusammen mit der Bürgerwehr die Straßen. Wir angelten uns mit Spaten und Messern bewaffnete Tituschki und übergaben sie der Miliz. Unsere gefährlichste Waffe waren Pfeffersprays.

Zu diesem Zeitpunkt waren ausschließlich Aktivisten vom Rechten Sektor und der Bürgerwehr aktiv. Wir erfuhren über Viber, was in der Stadt passierte und wo Hilfe, Essen oder Kleidung benötigt wurden. Alles also genau wie in Kiew. Unsere Gruppe patrouillierte immer sechs Stunden, dann kam die nächste Schicht.

Am 23. Januar gelang es den Ultras, das Gebäude der Oblast-Verwaltung von Tscherkassy zu besetzen. Auf dem Platz davor waren knapp zwanzigtausend Leute. Einige Universitäten und Schulen wurden vorübergehend geschlossen. Die Schule, auf die einer meiner Freunde ging, sperrte in den Pausen das Tor ab, damit die Schüler nicht aus lauter Neugier zum Maidan laufen konnten. Eltern nahmen ihnen die Hausschlüssel weg. In den Schulen tauchten viele Ukraine-Flaggen auf.

Wir errichteten auf dem Staudamm auf einer der Einfallstraßen nach Tscherkassy einen Kontrollposten. Dort stoppten wir einen Bus mit Tituschki von der Krim. Wir zwangen sie, uns kniend um Entschuldigung zu bitten. Sie gaben zu, zwischen hundert und hundertfünfzig Grywnja (ca. 5 Euro) pro Tag dafür zu bekommen, die Leute in den Städten einzuschüchtern.

Nach dem Maidan verkündeten die Ultras aus der ganzen Ukraine einen Waffenstillstand. Als wir eine Gemeinschaft waren, war klar, dass die Stadt sicher war. Wir sind drei- oder viertausend Leute, eine beachtliche Kraft. Viele von uns schlossen sich der politischen Bewegung „Nationaler Korpus“ an. Oleh Petrenko kommt manchmal her, er ist Parlamentsabgeordneter und unterstützt die Ultras in Tscherkassy (Anm. der Redaktion: Petrenko war 2007 Abteilungsleiter für Familie, Jugend und Sport in der Stadtverwaltung). Ich bin da ausgetreten, ich hatte genug von den wöchentlichen politischen Aktionen. Der „Nationale Korpus“ will das Land regieren und die „Nationale Gefolgschaft“ ist sein Kampftrupp.

Ich gründete mit Freunden aus der Fanbewegung eine gemeinnützige Stiftung für Waisenkinder, Kinder mit Behinderung und solche aus kinderreichen Familien. Ungefähr fünfmal im Jahr organisieren wir für sie kleine Festivals. Die meisten von uns arbeiten in Sicherheitsfirmen.

Leonid Kusmin

„Akzente russischer Propaganda“

Vier Jahre nach dem Maidan und der Annexion der Krim zog ich aus Simferopol in das befreite Kramatorsk in der Nähe der Front. Die Entscheidung zur „Ausreise“ wurde für mich getroffen.

In den drei Jahren zuvor hatte ich auf der Krim das Ukrainische Zentrum aufgebaut. Es gab fast vierzig Verhaftungen durch den FSB und die russische Abteilung für Terrorbekämpfung. Über die sozialen Medien bekam ich regelmäßig Drohungen wie „Ich werde dich finden.“ Im Sommer erhielten dann auch meine Eltern und Verwandten diese Drohungen. Ich beschloss, dorthin zu ziehen, wo ich Bekannte habe. Ich rief sie an und fragte, ob sie mich fürs erste umsonst bei sich aufnehmen könnten. Ich wohnte einige Monate bei ihnen, bis ich eine Anstellung als Lehrer fand. Meine Eltern sind in Simferopol geblieben. Sie sehen fern und glauben den russischen Sendern. Ich bin schon ein Jahr fort und kann kaum zurückkehren.

Die Sicherheitslage auf der Krim änderte sich in den fünf Jahren mehrmals. Vor und nach der Annexion 2014 lief man Gefahr verschleppt zu werden – so, dass niemand wusste, wo du warst (wegen des Umsturzes und der irregulären Sicherheitskräfte). Ab 2015 überwachten russische Sicherheitsleute Andersdenkende auf Schritt und Tritt und drohten ihnen mit Verhaftung. Seit 2016 nun läuft man Gefahr, wegen Extremismus, Unterwanderung der russischen Einheit oder wegen untergejubelter Drogen angezeigt zu werden.

An dem Tag, an dem Janukowytsch der proeuropäischen Ausrichtung des Landes die Absage erteilte, organisierte die Partei der Regionen in Simferopol die Aktion „Der Faschismus kommt nicht durch“. Der Platz teilte sich in zwei Hälften: eine Seite war für die Europäische Integration, die andere für die Zollunion. Zu Janukowytschs Unterstützung waren Mitarbeiter der Finanzbehörden herbeordert worden. Ich arbeitete damals als Geschichtslehrer. Wir bekamen Anweisung vom Bildungsministerium der Krim, dass wir die Revolution gegenüber unseren Schülern zu verurteilen hätten. Zu diesem Zeitpunkt war der Maidan in Simferopol ein Mini-Maidan, zu dem man ging, um sich über Probleme und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Land auszutauschen. An den ersten Tagen versammelten sich bis zu 200 Menschen.

Im Januar gründete sich auf der Krim die Bewegung „STOP Maidan“ als Vorläufer des Anti-Maidan. Bis dahin waren die Aktivisten und Politiker, die gegen den Maidan waren, nur in den Medien aufgetreten. Noch vor der Revolution waren alle Demonstrationen gegen Oppositionelle geprägt vom Begriff „Faschismus“ und dem Slogan „Der Faschismus kommt nicht durch“. Dieses Gedankengut kam vom russischen Fernsehen, das auf der Krim sehr beliebt ist. Am 2. Dezember 2013 organisierten sich erstmals die Ultras „Tawrija“, woraufhin die Auseinandersetzungen anfingen. Die Bürgerwehr „STOP Maidan“ gründete sich als Reaktion auf ein Ultimatum der Tataren, die gefordert hatten, innerhalb von zwei Wochen das Lenin-Denkmal zu entfernen. Auf die Studenten wurde jetzt Druck ausgeübt. Eines Abends kam eine Studentin und sagte, dass keiner mehr kommen würde: Die Universitätsverwaltung war durch die Wohnheimzimmer gegangen und hatte mit Rauswurf gedroht.

Der Vater eines 15-jährigen Schülers meiner Klasse stand auf der Seite der Europäischen Integration. Er arbeitete für die Miliz und wurde in Kiew eingesetzt, um seine Pflicht gegenüber dem Staat zu erfüllen. Von ihm erfuhr ich, dass Miliz und Sicherheitskräfte von der Krim nach Kiew gebracht wurden. Die Jugendlichen sprachen vom Maidan wie über ein Abenteuer. Simferopol war von Sicherheitskräften und Miliz wie leergefegt.

Am 27. Februar wurde die Werchowna Rada der Krim besetzt. Die Wachleute hatten eine rein dekorative Funktion und auch die proukrainischen Aktivisten widersetzten sich nicht. Die Schulen und Universitäten blieben vorsorglich geschlossen, um Panik zu schüren. Als die grünen Männer auftauchten und das ukrainische Militär keinen Widerstand leistete, machte ich mir Sorgen, dass die Krim so enden würde wie Abchasien oder Südossetien. Es dauerte nicht lang und die ersten proukrainischen Aktivisten verschwanden. Wir blockierten eine Straße, um gegen die russischen „grünen Männer“ und das Verschwinden unserer Kollegen zu protestieren. Wir wurden festgenommen.

Am Tag des Referendums kamen viele Leute in meine Schule, um abzustimmen. Wachleute gab es kaum. Die Informatik-Lehrerin wurde gebeten, die Hymne Sewastopols und russische Volkslieder abzuspielen, um für die richtige Stimmung zu sorgen.

Das Ukrainische Zentrum baute ich mit fünf Kollegen auf. Wir präsentierten ukrainischsprachige Bücher, am Verfassungstag verglichen wir die ukrainische Verfassung mit der sowjetischen. Zu allen unseren Treffen kamen mit Kameras ausgestattete FSB-Mitarbeiter. Sie folgten uns unablässig, sodass wir Fake-Events machten. Zum Jahrestag des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko organisierten wir eine öffentliche Veranstaltung – dorthin ging die Miliz – und gleichzeitig ein von allen Teilnehmern moderiertes Event in den sozialen Medien. Während die Leute auf der öffentlichen Veranstaltung festgenommen wurden, konnte unser Treffen unter ukrainischen Fahnen stattfinden.

Im Sommer 2015 bekam unsere Schule neue Geschichtsbücher. In den Büchern für die elfte Klasse stand über den Maidan: Das war ein „Staatsstreich, der vom Südosten der Ukraine abgelehnt wurde. Aus dieser Initiative heraus wurde ein Referendum durchgeführt, als dessen Ergebnis sich die Krim-Bürger von der Ukraine lossagten und die Vereinigung mit der Russischen Föderation unterstützten. Am 18. März 2014 unterschrieb Wladimir Putin das Dekret zur Eingliederung der Krim und Sewastopols.“ Der Text verliert kein Wort über die Besetzung der Werchowna Rada der Krim oder über den Euromaidan. Aus unserer Schule wurden ukrainische Symbole entfernt und die historischen Landkarten ausgetauscht. Einmal baten sie mich darum, mich zu beteiligen, nahmen die Bitte aber schnell zurück: „Ach ja, du bist ja Ukrainer und kannst so etwas nicht machen – halb so wild.“

Ein Jahr nach Putins Angliederung der Krim wurde ich entlassen. Als offiziellen Grund nannten sie, dass mein Wissen den Anforderungen des Lehrplans nicht entspräche. In Kramatorsk nahm ich meine Lehrtätigkeit wieder auf.

Die dreimonatige Revolution der Würde forderte mit 140 Toten auf dem Maidan einen hohen Preis. Sie führte zur Flucht des Präsidenten, setzte Lustrationsverfahren durch, gab den Anstoß für den Dezentralisierungsprozess und die Anti-Korruptions-Maßnahmen, für die Bildungs- und Gesundheitsreform. Der Krieg im Osten, der trotz des Minsker Abkommens schon das fünfte Jahr währt, und die Annexion der Krim zeigen deutlich, dass ein prorussischer Kurs zum Waffeneinsatz gegen die Positionen der eigenen Bürger führt.

Wörterbuch der Revolution

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Während der Revolution entstanden Wörter, die nur in der Alltagssprache verwendet werden.

Tituschki – von der damaligen Regierung engagierte bewaffnete Hooligans, die gegen Bezahlung in der Stadt Chaos stifteten und die verbrecherischen Befehle zum Zusammenschlagen, Verschleppen und Ermorden von Maidan-Aktivisten ausführten.

Maidan – Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Kiew, auf dem sich die Revolution der Würde ereignete. Diesen Namen eigneten sich Städte und Gruppen auf der ganzen Welt an, die ihre Unterstützung für die europäische Integration der Ukraine bekundeten.

Anti-Maidan – eigens organisierte Demonstrationen gegen die Europäische Integration und für die Zollunion, die vor der Werchowna Rada in Kiew und im Osten der Ukraine stattfanden. Dieses Lager in Kiew diente den Tituschki zeitweilig als Schlafplatz. Im Osten der Ukraine bestand der Anti–Maidan aus Separatisten, die den Einfluss Russlands auf diesem Gebiet der Ukraine unterstützten.

Berkut – nach der Revolution der Würde aufgelöste Spezialeinheit der Miliz, die das Janukowytsch-Regime schützte. Die Spezialeinheit beteiligte sich an der Räumung des Maidans, der Verteidigung und den Schießereien auf dem Maidan.

Samooborona – „Selbstverteidigung“: selbstorganisierte überparteiliche Gruppen, die auf dem Maidan die Koordination ermöglichten sowie strategische und alltägliche Anliegen klärten. Später gab sich die Samooborona eine Satzung. Sie ist nun eine gesamtukrainische Bürgerbewegung.

Autorin: Ksenija Marchenko

Fotos: Ksenija Marchenko, Ihor Jefimov, Archive der Protagonisten der Publikation

Aus dem Ukrainischen von Constanze Aka