Spiritualität als christliche Lebenskunst
Die Frage nach dem guten Leben beantwortet sich nicht allein im Erreichen der persönlichen Ziele. Orientierung bietet dagegen die Wahrnehmung und Pflege des eigenen Körpers sowie die Sorge um die Seele – auch in schwierigen Zeiten. Der Ethiker und Theologe Wolfgang Schuhmacher ist der Auffassung: Spiritualität betrifft den ganzen Menschen in all seinen Dimensionen.
von Wolfgang Schuhmacher
In christlicher Lebenskunst kommt zusammen, was zusammengehört: Der Leib wird zum Tempel Gottes, die Seele richtet sich betend und meditierend auf Gottes Gegenwart aus und das Denken hilft zur Orientierung für ein gutes Leben.
Schon die alten Griechen haben über Lebenskunst nachgedacht: Wesentlich ist, dass der Mensch sich selbst erkennt, und sich um sich selbst sorgt, bevor er für andere Sorge übernimmt. Dazu gehört, sich selbst im innersten Kern wahrzunehmen, als ein Wesen mit Potenzial aber auch mit Grenzen. Diese Selbstwahrnehmung dient nicht primär der Selbstoptimierung und der Selbstbespiegelung, wie sich das heute im Kontext von Achtsamkeitstheorien der Wellness-Szene finden lässt. Der Mensch lebt zwar in Resonanz mit sich selbst und nimmt sich selbst wahr. Aber er lebt immer auch eingebunden in ein größeres Ganzes, in einem Wechselspiel von Resonanzen auf ein Du oder Es hin. Er macht Erfahrungen über den Weg des Sehens und Hörens, des Riechens, des Schmeckens oder des Ertastens, die das eigene Ich überschreiten. Innenschau und Orientierung für das Leben im Alltag ergänzen sich. So vereinen sich für mich in diesem Denkansatz der Lebenskunst Spiritualität und Ethos. Beide sind eng miteinander verbunden.
Damit solche Lebenskunst möglich wird, braucht es Räume und Orte. Hier kann sich im Menschen einbilden oder umbilden, was ihn im Innersten angeht und betrifft. Es braucht Orte, Räume und Zeiten des Rückzugs, der Unterbrechung und des Innehaltens, damit sich das Herz, die Seele, der Leib und damit der Mensch als ganzer in all seinen Dimensionen öffnen und wahrnehmen kann.
Notwendig sind Oasen für Unterbrechung und Innehalten, Auftanken und Erfrischung der Sinne. Neben ethischer Orientierung braucht es auch ästhetische Wahrnehmungsschulung. Der intensivierte Blick auf das Schöne wie Hässliche in mir und in der Welt hilft, damit Menschen sich verändern können, damit sie aus Schmerz, Erleiden und Erstarrung herausfinden können.
Innehalten, Einsammeln, Bewahren, Aufbrechen und Verteilen
Nicht zuletzt dienen dazu auch der Genuss und das Essen als Nahrung für Leib und Seele. Durch solche Orte und Zeiten entstehen kreative Freiräume, die das Herz, den Geist und die Seele öffnen und helfen, sich auf Neues und Unbekanntes einlassen zu können.
Wir verändern uns ständig – so wie die Welt um uns herum. Da gilt es, bereit zu sein für Abschied und Neubeginn. Die Tage und Wochen des Herbstes mit dem bunten Blätterspiel und ihrem stetigen Herabfallen und Verwirbeln im Wind halten diesen Wandel unmissverständlich vor Augen. Die Eindrücke, die Farben, die Blätter im Wind zeigen es. Sie wollen sich wieder verteilen.
Innehalten, Einsammeln, Bewahren, Aufbrechen und Verteilen. Das sind Bilder auch für die Aufgaben der Lebenskunst. Alle Erlebnisse von Freude und Leid, Angst und Hoffnung versucht der Mensch zu beschreiben und zu deuten. Die Deutung aber geschieht immer im Kontext eines Gegenübers: konkreter Menschen, bestimmter Traditionen und der alles übersteigenden Transzendenz.
Über den Weg des Beschreibens oder des Erzählens, aber auch einfach nur über das bewusste und achtsame Wahrnehmen gewinnen solche Erfahrungen mehr und mehr Bedeutung für die Person und werden unverwechselbarer Teil ihres Lebens. So kann sie zu sich selbst kommen und erlebt sich gleichzeitig immer wieder neu und anders im Fluss der Zeit.
Dieses sinnliche wie gedankliche Suchen, Ertasten, Deuten, Erfahren und über sich selbst Hinausblicken lässt sich im Begriff ‚Spiritualität‘ verdichten. Spiritualität gilt heute als vielschichtiger, schillernder Begriff. So viel lässt sich aber jedenfalls sagen: Spiritualität betrifft den ganzen Menschen in all seinen Dimensionen. Und die Frage nach dem guten und gelingenden Leben erledigt sich nicht allein über Essen, Trinken und Kleidung, auch nicht nur im Dasein für die anderen.
Spiritualität realisiert sich in verschiedenen Kulturen und Religionen immer in relationalen Resonanzen: zur mir, zu Gott, zur Mit- und Umwelt. Und als Mensch, der in Raum und Zeit lebt, immer auch in Resonanz zu den Lebensorten und im Fluss der Zeit(en).
Spiritualität als Akt spätmoderner Religiosität ist meist nicht mehr konventionell geprägt oder traditionell im kirchlich-konfessionellen Kontext verankert. Häufig lebensgeschichtlich motiviert und begründet, initiiert sich die Entwicklung einer persönlich tragenden Spiritualität in einem je eigenen Prozess, etwa aus einer schmerzhaften Erfahrung heraus. Dies kann eine persönliche Grenze sein, an die man in Beruf oder Familie stößt oder die Durchbrechung des Alltags durch eine Krankheit oder den Verlust eines Menschen. Es reicht aber auch bereits das Gespür oder Bedürfnis dafür, mit sich selbst und der eigenen körperlichen Situation anders umgehen zu wollen als bisher. Es ist neben anderem die Frage nach dem Mehr oder dem Wohin im eigenen Leben, die sich plötzlich oder allmählich aufdrängt und nach einem tragenden Grund des eigenen Seins Ausschau halten lässt.
Lebenskunst betrifft den ganzen Menschen: Körper, Geist und Seele.
In unserer postkonventionellen, hoch individuell geprägten Gesellschaft, mit ihren nicht zuletzt medial vermittelten fast unendlichen Möglichkeiten einer “Multioptionsgesellschaft” geschieht die Aufnahme von spirituellen Praktiken nicht selten in der Begegnung mit anderen Kulturen und Traditionen. So kommt kirchlich verbundenes Christsein mit spirituellen Praktiken aus östlichen Traditionen wie dem Zen-Buddhismus oder einer spirituellen Yogapraxis zusammen. Praktiziert wird, was sich für das je eigene Leben als hilfreich und konsistent erweist. Spiritualität kann zum grenzüberschreitenden Phänomen werden, besonders auch dann, wenn sie sich mit ganzheitlich körperlichen Praktiken verbindet.
Dieses Phänomen einer individuellen und zugleich transkulturellen Spiritualitätspraxis zeigt sich über die Religionen hinweg dort, wo individuelle Erfahrung ins Zentrum der Spiritualität rückt. Sei es in der christlichen Mystik, in fernöstlichen Meditationspraktiken, beim Yoga oder der mystischen Sufi-Tradition: Hier kommt der Mensch über die sinnliche oder leibliche Erfahrung zum Selbst und disponiert sich so für die Begegnung mit Gott bzw. dem Göttlichen. Für die christlichen MystikerInnen Meister Eckart und Teresa von Avila führt der Weg ins eigene Innere zum Erkennen des eigenen Selbst und öffnet über diese Wahrnehmung Raum für die Begegnung mit Gott. Dabei bleibt die individuelle spirituelle Erfahrung nicht auf sich selbst allein bezogen. Sie führt immer zurück in die Welt zum Du. Die je eigene vertikale Resonanz zu Gott wirkt zurück auf die horizontale Resonanz zur Welt, zum Menschen und zur Natur. So wird Spiritualität zur (christlichen) Lebenskunst und damit zur Lebensorientierung, auch in schwierigen Zeiten.
Lebenskunst betrifft den ganzen Menschen: Körper, Geist und Seele. Oft ist es der Körper, der Signale aussendet, wenn etwas nicht stimmt. Schmerzen können bei genauerer Wahrnehmung zu einem tiefer im Menschen liegenden Problem führen. Auf diese Weise finden etwa viele Menschen zum Yoga. Der Rückenschmerz soll kuriert werden. Meist aber bleibt es nicht bei der körperlichen Wahrnehmung. Nach und nach führt Yoga immer tiefer in die Wahrnehmung der eigenen Person und vielleicht darüber hinaus und wird so zu einer spirituellen Praxis. Über Atem, Haltung und Wahrnehmung erfahren die Praktizierenden ihren Leib als Resonanzraum des Geistes Gottes. Über körperliche Anspannung in der Haltung führt der Atem zur Entspannung und mentalen Ruhe. Es öffnet sich in der Praxis im Zusammenspiel von Bewegung, Atem und Meditation ein Raum für die Begegnung mit der Transzendenz, mit dem Göttlichen. Körperlich und mit der Wahrnehmung ganz im Hier und Jetzt da zu sein, bringt das Innen wie das Außen zusammen. Mit Paulus gesprochen, erfährt sich der Mensch als Tempel des Heiligen Geistes. Das ganze Leben wird zum Gottesdienst.
Am Beispiel des Yoga lässt sich zeigen, dass die heute weltweit praktizierte Technik des Yoga, integriert in den eigenen spirituellen (christlichen) Kontext zu einem Weg werden kann, den eigenen Glauben in neuer Intensität mit Leib, Seele und Geist zu leben.
Über den Autor:
Dr. Wolfgang Schuhmacher ist evangelischer Pfarrer und Ethiker. Von 2018 an leitete er die evangelische Tagungsstätte Wildbad Rothenburg, die 2024 zum Hotel Wildbad Rothenburg wurde. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Themen christliche Lebenskunst, Alltagsethik, Yoga und ganzheitliche Spiritualität. Als zertifizierter Yogalehrer AYI®, Meditationslehrer und ausgebildeter Anleiter für christliche Meditation verbindet er seit vielen Jahren den Weg christlichen Lebens mit der Praxis des Yoga wie der Meditation als Formen christlicher Kontemplation im Alltag.
Hinweis:
Dr. Wolfgang Schuhmacher leitet die Tagung “Ganzheitliche Spiritualität” vom 12. bis 14. Dezember 2025 in der Evangelischen Akademie Tutzing, die sich ausführlich mit den drei Ebenen der christlichen Lebenskunst beschäftigt: Leib, Seele und Denken. Achtsamkeitsübungen, christliches Yoga, Musik sowie theologische und geistliche Impulse wechseln sich ab mit gemeinsamen Gesprächen. Alle Infos zum Programm und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.
Bild: Wolfgang Schuhmacher im Wald – umgeben von Herbstlaub. (Foto: privat)


