Mut zum Weniger – Qualität statt Quantität
“Wir müssen den Mut haben, Dinge wegzulassen.” Diese Auffassung vertritt Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes (bpv). In seinem Gastbeitrag plädiert er, das Konzept der De-Implementierung in der schulischen Bildung anzuwenden.
Von Michael Schwägerl
Lehrkräfte gehören zu den psychisch am stärksten belasteten Berufsgruppen. Burnout, Erschöpfungssyndrome und lange Krankheitsausfälle sind keine Randerscheinungen mehr, sondern vielerorts Realität. Wer heute unterrichtet, tut dies unter Bedingungen, die häufig nicht mehr gesund sind. Die Ursachen sind komplex: eine zunehmend heterogene Schülerschaft, der dramatische Lehrkräftemangel – und vor allem die stetig wachsende Zahl an Zusatzaufgaben, die über den Unterricht hinausgehen.
Allein ein Blick auf die verpflichtenden Konzepte an bayerischen Schulen zeigt die Dimension. Schulen sind längst nicht mehr nur Orte des Lernens, sondern Projektzentren für gesellschaftliche Erwartungen: Digitalisierung, Inklusion, Berufsorientierung, Demokratiebildung; dazu Schülerfahrten, Medienkonzepte, Schulentwicklung, Hausaufgaben, Sicherheit usw. – alles wichtig, alles richtig. Aber alles gleichzeitig? Und alles zusätzlich?
De-Implementierung statt “immer mehr”
Es sind bis zu 27 Konzepte, die nicht nur erstellt, sondern auch gelebt werden müssen. Und jede dieser Aufgaben bindet Ressourcen, jede kostet Zeit und Kraft. Die Frage drängt sich auf: Gibt es ein Ende dieses “Immer mehr”? Und vor allem: Ist dieses “Mehr” überhaupt sinnvoll für die Qualität von Unterricht, von Schule und Bildung?
Genau hier setzt das Konzept der De-Implementierung an, das die Schulpsychologen Dr. Benedikt Wisniewski und Dr. Barbara Gottschling in ihrem Buch “Weniger macht Schule” (Kohlhammer, 2025) vorstellen. Ursprünglich aus der Medizin stammend, bedeutet De-Implementierung: dysfunktionale Praktiken identifizieren und systematisch reduzieren, stoppen oder transformieren, um Freiräume für die Kernaufgabe von Schule zu schaffen. Es geht nicht um das willkürliche Streichen unliebsamer Aufgaben, sondern um ein evidenzbasiertes, subtraktives Vorgehen – und das auf allen Ebenen: von der Schulaufsicht über die einzelne Schule bis hin zur Lehrkraft.
“Lehrkräfte brauchen Zeit für das Wesentliche”
Der erste Schritt ist dabei die Erkenntnis, dass Quantität nicht zwangsläufig Qualität bedeutet. Die Aufnahme vieler zusätzlicher Aufgaben, zahlreiche Überstunden oder eine enorme Arbeitsbereitschaft sagen grundsätzlich nichts über die Qualität der Lehrkraft oder ihres Unterrichts aus. Qualität bemisst sich eher an Reflexionsfähigkeit, Effizienz und der Bereitschaft zu Feedback – nicht an der Länge der To-do-Liste.
Klar: Dieser Prozess ist kein Selbstläufer. Er erfordert Mut und einen Bruch mit eingefahrenen Denkmustern. Psychologische Hürden wie der Sunk Cost Bias (“Die investierte Zeit darf nicht umsonst gewesen sein”) oder die Angst vor negativen Reaktionen im Kollegium und bei Eltern sind real. Auch “Kollateralschäden” durch das Streichen liebgewonnener Projekte sind möglich. Deshalb braucht es ein systemisches Vorgehen und diplomatisches Geschick. Schulleitungen müssen den Prozess aktiv unterstützen, und alle Beteiligten müssen sich gehört und wertgeschätzt fühlen. Nur dann kann eine Schule gemeinsam den Weg gehen.
Die aktuelle Neukonzeption der externen Evaluation bietet eine große Chance: Wenn De-Implementierung als zentraler Baustein verankert wird, kann Qualitätssicherung effizienter und mit weniger Belastung für die Schulen gestaltet werden. Eine Evaluation, die Freiräume schafft und größere Wirksamkeit mit sich bringt, wäre ein echter Gewinn.
Ja, De-Implementierung bedeutet zunächst Mehraufwand. Aber dieser Einsatz lohnt sich: für die Unterrichtsqualität und für das Wohlbefinden der Lehrkräfte. Wir müssen den Mut haben, Dinge wegzulassen. Nicht alles, was einmal eingeführt wurde, ist für immer sinnvoll. Weniger kann mehr sein – und genau dieses Mehr brauchen unsere Schulen jetzt.
Unsere Forderung: Politik und Schulaufsicht müssen den Mut haben, Vorgaben kritisch zu hinterfragen und den Schulen echte Entlastung zu ermöglichen. Lehrkräfte brauchen Zeit für das Wesentliche: für guten Unterricht und für die Unterstützung ihrer Schülerinnen und Schüler auf ihrem Bildungsweg. Alles andere ist vielfach Beiwerk – und darf nicht länger die Gesundheit derer gefährden, die Bildung ermöglichen.
Über den Autor:
Michael Schwägerl unterrichtete nach seinem Studium Mathematik, Physik und Informatik am Gymnasium, bis er im Februar 2012 als voll Freigestellter in den Hauptpersonalrat beim Kultusministerium wechselte, dem er bereits seit 2006 angehörte. Seit 25. November 2016 ist Michael Schwägerl Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes (bpv).
Hinweis:
In Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Philologenverband findet vom 16. – 18. Januar 2026 die Tagung “Aufgetankt statt ausgelehrt – gesunde Lehrkräfte, wirksamer Unterricht” statt, die Michael Schwägerl gemeinsam mit Akademie-Studienleiterin Dr. Nadja Bürgle leitet. Alle Informationen zu Ablauf und Programm finden Sie hier: https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/aufgetankt-statt-ausgelehrt/


